*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 61753 *** Anmerkungen zur Transkription Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist _so ausgezeichnet_. Im Original in Antiqua gesetzter Text ist ~so markiert~. Eine handgeschriebene 4 ist so gekennzeichnet: $4$. Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches. August Strindberg Ausgewählte Romane [Illustration] August Strindberg Die Gotischen Zimmer Roman * 1919 Hyperionverlag / Berlin Deutsch von Else von Hollander Die Gotischen Zimmer Erstes Kapitel Die Gotischen Zimmer Das elektrische Licht in den Gotischen Zimmern flammte auf, und Kellner legten die letzte Hand an eine Tafel. Zwei Herren im Frack traten im selben Moment ein und prüften mit einem Blick die Anordnungen, die ihrer Aufsicht zu unterstehen schienen. »Du warst nicht gerade gestern hier!« sagte der eine von den Arrangeuren, der Architekt Kurt Borg, ein Neffe des Doktor Borg, der der Schreckliche genannt wurde. »Nein,« antwortete der Maler Sellén, »ich bin seit fünfzehn Jahren nicht hier gewesen, seit ich damals im Roten Zimmer saß und mit Arvid Falk, Olle Montanus und den andern philosophierte. Kannst du als Architekt einen Riß von unserm alten Zimmer geben?« Der Architekt, der schon öfter hier gewesen war, schritt auf dem Plüschteppich ein Trapez ab und beschrieb die alte Szenerie. »Ja, ich sage es ja,« meinte Sellén, »die Zeiten ändern sich, aber wir bleiben uns gleich.« Er deutete auf die ergrauenden Schläfen und fuhr fort: »Arvid Falk, ja; er ist zusammengebrochen, wie es zu erwarten war; lebt er noch?« »Ja, er lebt gemordet, wie sie kürzlich unsern Syrach gemordet haben, den Rembrandtsohn, unsern besten Mann, den Antesignani, der vor der Linie fiel.« »Und mit diesen Mördern sollen wir heute abend zusammen sein?« »Ja, siehst du, das Fest wird doch dem Norweger zu Ehren veranstaltet, und man kann seine alten Freunde aus Paris und Rom nicht ausschließen!« »Nein, natürlich nicht; aber wenn Onkel Borg herkommt, dann gibt es vielleicht Streit.« »Das schlimmste ist, daß Lage Lang, unser Norweger, glaubt, es wird ein Versöhnungsfest werden. Glaubst du an eine Versöhnung?« »Nein,« antwortete Sellén bestimmt. »Wir haben es versucht, aber es geht nicht. Lundell zum Beispiel hat den Ruf an die Akademie angenommen, um von innen die Tore der Festung zu öffnen, um zu reformieren und Frieden zu stiften; aber dann wurde er eingeschlossen, und jetzt malt er wie die Professoren. Nein, trau ihnen nicht! Sie sagen nur: Komm zu mir, werde wie wir; komm, dann kriegst du den Wasaorden, wenn wir Kommandeure sind; komm und begib dich in unsere Hut, dann sind wir über dir! -- Nein, danke, lieber draußen, lieber unten auf der Straße und Landstreicher sein! Erinnerst du dich noch an Lasses Lied aus der Kneipe in Paris?« »Ja, Paris! Und jetzt sind wir wieder daheim! Wie kommt es dir vor?« »Dumpfig! Ganz schauderhaft! Die Luft steht still und das Jahrhundertende kommt; man erwartet etwas Neues! Aber was?« »Wir werden ja sehen!« Eine Bewegung an der Tür deutete an, daß die Gäste sich einzufinden begannen. Herein trat jetzt, fett, frischrasiert, behandschuht, der Maler, Professor Lundell. Er trug den Wasaorden auf dem Frack. »Nimm das Ding da weg,« sagte Kurt Borg und hakte den Stern ab. »Nein, laß das!« protestierte Lundell gutmütig, denn er war gewohnt, daß man mit ihm scherzte. »Ja, aber es ist eine Beleidigung für Lang, unsern Ehrengast, der, obwohl er verdienter ist als du, keinen Ordensstern hat. Die Kellner könnten ihn und uns alle für bestrafte Leute halten, verstehst du?« »Nein!« Neue Bewegung an der Tür; Konsul Isak Levi, früher Mitglied des Roten Zimmers, trat ein und schüttelte Sellén, Lundell und Borg die Hand. Nun kamen die Gäste truppweise. Eine Gruppe Akademiker erschien, wie eine Wolke ihren Schatten über eine Wiese wirft. Polternd und geräuschvoll kam Doktor Borg, der Schreckliche, der jugendliche Onkel des Architekten. Er warf kampflustige Blicke um sich und grüßte mit einer Stichelei nach rechts und links. Dann kamen Damen und Herren, aber man merkte einen bestimmten Unterschied, weil die Akademiker ihre Frauen nicht mithatten. Die Gesellschaft erschien ihnen nicht ~comme il faut~, und man wußte, daß hier eine Sprache gesprochen wurde, die an reines Schwedisch erinnerte. Hinzu kam, daß die Gesellschaft nach dem Reichsrecht einen Norweger nicht feiern durfte und daß die Künstlerdamen Manieren hatten, die nicht salonmäßig waren. Es wurde sogar behauptet, die Künstler brächten ihre »Freundinnen« mit, und da man diese von den anderen nicht unterscheiden konnte, waren leicht Irrtümer zu begehen. Schließlich trat ein aufrechter Mann ein, einen Kopf größer als die andern. Das war Lage Lang, der Maler der Gegenwart mit dem großen Namen. Leutselig, reich, gastfrei, stand er außerhalb der schwedischen Kliquen und bewegte sich deshalb ohne Schaden zwischen den Feuern, die er nicht kannte. Den Freund, den Künstler feierte man, aber man wollte auch dem Norweger eine kleine Demonstration darbringen; man wollte zeigen, daß die Nation die Ansicht der Regierung nicht teile, die Norwegen wie eine besetzte Provinz behandelte; und man wollte nach seinen Kräften den von oben angefachten Haß gegen das Brudervolk dämpfen, dessen Wohl nicht wahrgenommen wurde, wenn das Land von Stockholm aus per Telephon regiert wurde, wie ein Vorwerk von einem bequemen Verwalter geleitet werden kann. Deshalb wurde der Ehrengast sofort auf den Balkon geführt, der sich auf den großen, vollbesetzten Musiksaal öffnete. Als er hinaustrat, wurde die Nummer abgeklopft und man spielte die norwegische Nationalhymne: »Ja, wir lieben.« Die Professoren bildeten eine geschlossene Gruppe, die im Zimmer blieb, denn sie hatten das Gefühl, daß etwas Unerlaubtes geschah, woran sie sich nicht beteiligen durften. Darauf ward der Gast zu Tisch geführt! -- Es war ein französisches Kabarett-Souper. Vor jedem Gast standen sechs Austern und eine offene Flasche Weißwein ohne Namen, ganz wie bei Laurent in Grez, und damit war der Ton gegeben, waren die Erinnerungen geweckt und die Stimmung der achtziger Jahre heraufbeschworen, obwohl man jetzt in den bedächtigen neunzigern war. Es bedurfte nur eines ~Nomen proprium~, um die Erinnerungen auflodern zu lassen. »Barbison! Marlotte, Montigny, Nemours! -- O!« Oder: »Manet, Monnet, Lepage! -- O!« Noch wurden keine Reden gehalten, aber alle sprachen auf einmal; Friede und Freude, Eintracht und Fröhlichkeit herrschten. Beim Dessert stieg die Stimmung zur Ekstase. Man warf Apfelsinen über den Tisch, Servietten flogen durch die Luft, Tabakrauch wirbelte und Streichhölzer wurden wie Raketen hochgeworfen; eine Gitarre hervorgezaubert; Spadas Lieder im Chor gesungen. Das war das Signal zur Auflösung der Konvenienz; die Professoren ließen sich mitreißen und wurden jung; sie hakten ihre Ordenssterne ab und verteilten sie mit offnen Händen; auf Selléns Rücken hing der Wasaorden, und ein Kellner trug das Kreuz der Ehrenlegion auf der Achselklappe. Schließlich wurde auf den Tisch geklopft. Doktor Borg sprach: »Wir haben auf das Wohl des Freundes Lage Lang und auf das des Künstlers getrunken, jetzt will ich auf den Norweger trinken: Sie dürfen nicht glauben, daß ich die Norweger mit ihrem Bauernstolz und ihren großen Gebärden liebe; ich bin selbst mit einer Norwegerin verheiratet, wie Sie wissen, und das ist ein verteufeltes Volk; aber ich liebe Gerechtigkeit; ich will eine trotzige Nation nicht dadurch gedemütigt sehen, daß sie sich unsern König sechs Wochen im Jahr ausleihen muß, und ich will keine Intimität mit einem fremden Volksstamm, der eine andere Entwicklung hat als wir; ich will nicht mitansehen, daß Norweger im schwedischen Reichstag sich in unsere Angelegenheiten mischen und zu allem nein sagen, gerade wie die Polen und Elsässer im deutschen Reichstag; ich will Frieden mit den Nachbarn haben, und dieser Friede kann wie in einer unglücklichen Ehe nur durch Trennung erreicht werden. Sie schrecken mich nicht mit dem Russen, denn freie Norweger und freie Schweden sind stark durch eine freiwillige Allianz, aber schwach durch eine dynastische Union, die keine Union ist; Norwegen ist nämlich ~de facto~ ein Kronland, wie es Böhmen Österreich gegenüber ist, und als solches gefährlicher denn ein Bundesstaat; die Politik der schwedischen Regierung ist eine betrügerische und schreibt sich aus den Zeiten der heiligen Allianz her, da Volksrecht und Billigkeit außer acht gelassen wurden; man hat Haß zwischen den Brudervölkern zu erwecken versucht, aber wehe denen, die eine solche Spaltung anstrebten, um herrschen zu können! Wehe ihnen! -- Uns, die wir für Einigung und Versöhnung gearbeitet haben, nennt man Vaterlandsverräter! Jeden, der uns so genannt hat, nenne ich ein Rindvieh! Da habt ihr das Wort! -- -- -- Lage Lang, ich trinke auf ein freies Norwegen, ohne das es kein freies Schweden geben kann, und auf ein versöhntes!« »Ein freies Norwegen! Lage Lang!« Professor Lundell erbat das Wort, aber als er mit dem Russen, dem Kieler Frieden und den Verhandlungen anfing, nahm das Geplauder so zu, daß er übertönt wurde, bis schließlich die Gesellschaft ihn mit dem Liede: »Heil Norwegen!« unterbrach. Als Lage erwidert hatte, erhob man sich von der Tafel, und ganz von selbst begann ein Karneval. Aber es sonderten sich doch kleine Gruppen ab, die sich unterhielten, und draußen auf dem Balkon hatten Konsul Levi, Sellén und Kurt Borg sich niedergelassen. »Nun, man zieht ja heute abend am gleichen Strang,« sagte Levi. »Glaubt ihr, daß das anhalten wird?« »Nein,« antwortete Sellén, »das ist nur Waffenstillstand.« »Nun, was tun euch denn die Professoren zuleide?« »Das könnt ihr Außenstehenden nicht beurteilen. Sie bilden die allgemeine Meinung, sie hindern, sie ersticken uns; im übrigen sind wir wie zwei feindliche Stämme, und ich glaube, es muß Kampf sein, sonst würden alle gleich malen; und daraus würde chinesische Kunst, die stillsteht, die mit einer Bürste über einem ausgestochenen Muster gemacht wird. Übrigens: Kampf entwickelt Kräfte und hält die Geister wach.« »Jawohl,« wendete Isak Levi ein, »aber nach ausgekämpftem Streit schließt man Frieden.« »Wenn die Bedingungen annehmbar sind, ja!« erwiderte Kurt Borg, »aber sie sind es nicht. Sie verlangen Unterwerfung, und das kann nicht bewilligt werden; sie verlangen nur unsere Seele und unseren Geist ... und alles! Wir, die wir die gleichen Bestrebungen haben, sind keine Partei, aber wir fühlen uns zusammengehörig, sind wie eine Familie, wie Frucht des gleichen Jahres, und die andern sind ... ich weiß nicht, was das für Leute sind; auf mich wirken sie wie Dämonen, die ich wie das positiv Böse hasse; wenn Götter zu alt werden, werden sie Dämonen, und diese Leute halten sich sicher für Nachkommen von Göttern, denn sie existieren von Gottes Gnaden, denken und sprechen von Gottes Gnaden, und wenn sie unrecht tun, berufen sie sich auf Gottes Gnade. Ich verstehe sie nicht, und sie verstehen uns nicht.« »Sie sind Bremsen, die die Schnelligkeit regulieren sollen, weißt du,« wendete Levi ein. »Danke schön, aber dann bin ich lieber Lokomotive, das ist nützlicher und ehrenvoller.« Jetzt trat Lundell auf den Balkon mit der Frau eines akademischen Künstlers, die sich in die schreckliche Gesellschaft verirrt hatte. Auf dem Podium unten sang gerade ein italienischer Sänger eine Glanznummer, die elektrisierte; und in dem Festrausch ließ die Dame sich hinreißen, dem Sänger eine Rose zuzuwerfen. Aber die Entfernung war zu groß; die Blume senkte sich wie ein Meteor und blieb an der Weste eines Herrn an einem Marmortische hängen. Der einsame Gast rollte gerade eine Zigarette, als ihm die Rose in die Arme fiel; er hielt in der Bewegung inne, nahm die Rose und blickte zur Galerie hinauf. »Das ist Syrach!« rief Sellén, und alle auf dem Balkon nickten dem Einsiedler zu, der einen roten Fes auf dem Kopf trug und etwas bizarr gekleidet war. Aber Syrach schien keinen einzigen von seinen alten Freunden wiederzuerkennen, sondern steckte die Rose ins Knopfloch und fuhr im Zigarettendrehen fort. »Er erkennt uns nicht!« rief Sellén. »Soll ich hinuntergehen und ihn holen?« »Dann gehe ich meiner Wege,« sagte die Dame kurz, »und ich bedaure meine Rose, die auf einen so schmutzigen Rock geraten ist.« »Ja, geh nur, Augusta,« unterbrach Doktor Borg, der hinzugekommen war; »dich hat übrigens ja keiner hierhergebeten.« »Aber, Borg!« fiel Lundell ein ... »Halt den Mund,« schnitt ihm der Doktor das Wort ab, »der da unten als ein Erloschener sitzt, hätte heute abend hier oben der Erste sein müssen, wenn nicht du und deinesgleichen ihm den Giftbecher gemischt hättet; und du bist nicht einmal wert, von ihm angespuckt zu werden; nein, denn ihr habt ihm damals Ehre, Brot und Selbstgefühl genommen, du erinnerst dich wohl!« Dann zu Sellén gewendet: »Laß Syrach in seiner erträumten Welt sitzen; da hat er es besser, als wir ahnen, und im übrigen erkennt er uns gar nicht!« Lage Lang kam hinzu; als er seinen alten Freund erblickte, geriet er außer sich und wollte ein Hoch und ein Hurra auf »unsern größten Maler« ausbringen; aber das wurde glücklicherweise verhindert, denn erstens würde die Polizei gerufen worden sein, zweitens war im Saal niemand, der den Maler kannte, es sei denn als einen schwachsinnigen und verkommenen Menschen, der durch seinen roten Fes und sein absonderliches Gebaren auf der Straße Aufsehen erregte. Sie ließen Syrach sitzen; er hatte jetzt die Blicke über die Menge erhoben, als sähe er sie nicht und als lebe er, in ferne Höhen schauend, mit seinen Traumbildern, die er andern nicht zeigen konnte. In den Gotischen Zimmern griff Verstimmung um sich, und ein Gewitter zog sich zusammen. Aber bevor es ausbrach, hatten die Professoren sich entfernt. Die Wolke blieb zurück; die Freude, Viktoria blasen zu können, wurde getrübt durch den Gedanken an die Toten und Verwundeten; und Syrach war nicht der einzige Gefallene. Schließlich verstummte die Musik unten im Saal; es wurde Mitternacht, und der große Raum lag öde da, in eine blaue Wolke von Tabakrauch eingehüllt. Auf dem kleinen Marmortisch, an dem Syrach gesessen hatte, war ein blutroter Fleck zu sehen. Das war die Rose, in der der überempfindliche Mann schließlich den Feind gewittert und die er deshalb hatte liegen lassen. Nun kam der Aufbruch, und der Ehrengast wurde hinunterbegleitet. Auf der Straße stand eine glänzende Equipage mit einem Jäger neben dem Kutscher. Der Jäger hatte Federn am Hut und einen Hirschfänger an der Seite. »Wer ist so vornehm, daß er in der Glaskutsche fährt?« fragte Sellén. Der Jäger stand am offnen Wagenschlag und ließ den großen Lang hinein. »Das bin ich!« sagte Lage; »ich wohne bei meinem Vetter in der norwegischen Gesandtschaft; dort seid ihr übermorgen zum Mittagessen eingeladen, die ganze Bande.« Die alte Boheme schrie hurra; und auf einen Wink des Norwegers füllte sich der Wagen, der sich nach Blasieholm in Bewegung setzte. Doktor Borg hatte den Dreimaster des Jägers und den Hirschfänger genommen und wollte unbedingt »das Manöver kommandieren«, wie er sagte, das heißt die Zügel in die Hand nehmen und nach dem Stallmeisterhof fahren. »Nimm dich in acht!« rief Isak Levi. »Ich will nicht Medizinalrat werden,« antwortete Borg. Und da er auf seiner Segeljacht zu sein glaubte, rief er: »Schoten! -- Klar zum Wenden! Voll!« Da rollte das Kupee auf den Hof der Gesandtschaft. Borg wollte Getränke auf den Hof hinunter haben; aber obwohl der Norweger das richtig fand, wurde der Streich doch von den andern verhindert, und so verabschiedete man sich schließlich. Dann begann die nächtliche Wanderung, die übliche nach einem Fest, auf der man alles sagen will, was drinnen ungesagt geblieben ist. Also der Stammtrupp: Doktor Borg, Kurt Borg, Isak Levi und Sellén; sie nahmen zuerst die Kaie und warfen einen Blick auf das Schloß, wie gewöhnlich. »Ja, da ist das Schloß,« sagte Kurt, der Architekt; »das hält sich.« »Einstweilen freilich,« wendete der Doktor ein; »aber wenn das Reichstagsgebäude in Granit auf den Helgeandsholm kommt, dann wird der Ziegel dort oben erdrückt.« »Warum nicht; das ist doch der Geist der Zeit,« fiel Levi ein. »Die Regierung sitzt ja jetzt im Reichstag, warum, weiß niemand; die Verfassung sagt, der König dürfe seine Ratgeber wählen, jetzt aber wählt sie Karl Ivarsson.« »Du bist verdreht!« »Nein; Karl Ivarsson bestimmt die Ausschußwahlen und beschließt also, wann die Minister abgehen sollen. Demnach ist er doch der Regent.« »Hört einmal, hier soll die neue Oper stehen,« unterbrach Sellén, der Politik nicht leiden konnte. »Ja, es soll eine Oper gebaut werden; was sagt der Reichstag dazu?« »Der will keine Majoritätsoper haben, sondern es soll eine Kommunaloper werden, die auf Lorbeerhain und Erdgeschoß basiert.« Dann zogen sie weiter; über die Nordbrücke, durch die Münzstraße nach dem Markt. »Da steht noch das Ritterhaus!« sagte Sellén. »Ja, und ich war dabei, als es geschlossen wurde,« fiel Doktor Borg ein. »Denkt nur, unsere großen Männer vom letzten Plenum! Der größte von den Großen; was für ein Ende! Falk faßte er, weil er ihn ausspionierte!« »Und da ist die Riddarholmskirche; mit Karl dem Zwölften und all dem!« »Du meinst Gustaf Adolf, wenn du es auch nicht zu sagen wagst.« »Apropos Gustaf Adolf, wißt ihr, daß dieses kleine Grabchor hier das Vasaborgsche heißt und daß da sein Sohn von Margareta Cabeljau liegt?« »Ja, das ist freilich eine Geschmacklosigkeit; aber habt ihr nicht den Grabstein des alten Cabeljau in der Kirche gesehen? Ich habe ihn nicht gesehen, doch er ist in einer Beschreibung der Kirche erwähnt. So ehrt man unsere großen Erinnerungen! Man könnte diese Cabeljaus gut totschweigen!« »Ich habe dieser Tage gelesen, wie man 1793 in Saint-Denis gewirtschaftet hat, als alle Königsgräber geöffnet und entleert wurden,« erzählte der Doktor. »Da konnte man eine Menge interessante physiologische Studien machen. Ludwig XV. war zum Beispiel nur noch ein schwarzes, vermodertes, stinkendes Teerpräparat ...« »Wißt ihr, da wir nun doch gerade bei den Kirchen sind, wollt ihr nicht auch meine Kirche einmal anschauen?« sagte Architekt Borg; »ich habe sie freilich nicht gebaut, aber ich habe sie restauriert; die Schlüssel habe ich in der Tasche, und Isak kann Orgel spielen, wenn er will.« Das war im Stil des Doktors, und jetzt machte man kehrt, um sich Kurts Kirche anzusehen, wie sie genannt wurde. Als die vier den Tempel betreten hatten, der im Halbdunkel lag, nur oben an den Gewölben von den Straßenlaternen draußen schwach beleuchtet, wurden sie gegen ihren Willen von der Größe des Gebäudes und den schönen Linien der Gewölbe überwältigt; sie nahmen die Hüte ab und traten stumm an den Altar heran. »Es ist zwanzig Jahre her, seit ich hier war,« begann der Doktor, »und ich finde mich nicht mehr zurecht. Wo hast du das Altarbild?« »Das ist weg,« antwortete Kurt. »Dafür haben wir jetzt das Tabernakel, den Schaubrottisch und den siebenarmigen Leuchter.« »Das ist ja das alte Testament,« sagte Isak. »Wir kommen also wieder zusammen,« antwortete Kurt Borg. »Und hier? Was ist das hier?« »Das ist die Taufkapelle oder das Baptisterium.« »Und dann hast du Figuren an die Wände gemalt ...« »Ja, das ist der Stil der Kathedrale ...« »Und die Kanzel ist degradiert!« »Da der Hochaltar das Allerheiligste ist.« »Potztausend, bist du katholisch?« »Keine Spur, aber die Kathedrale ist katholisch; der Protestantismus hat keinen kirchlichen Stil erfunden, weil ihm der positive Inhalt fehlt.« »Es ist jedenfalls köstlich, zu sehen, wie ihr Kathedralen restauriert; ihr stellt sie in ihrer ursprünglichen Schönheit wieder her, so wie sie vor den Verwüstungen der Reformation waren. Hütet euch, daß ihr nicht den Katholizismus ausgrabt.« »Ja, hier spielen sie ein wenig mit dem Katholizismus, ganz wie zu Atterboms Zeit. Der Pfarrer selbst, übrigens ein gewaltiger Pokerspieler, stand lange in dem Verdacht, ein Krypto-Katholik zu sein; er hat zusammen mit einer Klique von Geistlichen den Plan gehabt, den Kult zu ändern und etwas mehr Schönheit hineinzubringen. -- Es begann übrigens in den siebziger Jahren mit der Entdeckung unserer alten Missale und Breviere, die als Aktenumschläge in den Kollegien gefunden, restauriert und stückweise herausgegeben wurden. So kamen beispielsweise Sequenzen auf unsern Nationalheiligen, Erik den Heiligen, den Schutzpatron Schwedens zum Vorschein. Kapellmeister Norman hat Brigittas ›~Rosa rorans~‹ in Musik gesetzt; Wirsén stieg der Weihrauch in der Kathedrale von Siena zu Kopf, und Professor Byström wirkte für die Restaurierung der Kirchenmusik auf alter Basis; das Stenmuseum sammelte die alten Altarschreine; das Kloster Vadstena wurde wiederhergestellt, und Brigitta wurde fast eine lutherische Heilige; die Upsalaer Domkirche wurde renoviert und gemalt, und der Erzbischof reiste nach Rom und schüttelte dem Papst die Hand, der dem Ketzer die Bibliothek des Vatikans öffnete. -- Nun, was ist Gefährliches daran? Es deutet auf eine Versöhnung von Mutter und Sohn, und es ist doch schön, wenn Verwandte sich vertragen, besonders wenn beide Christenmenschen sind und nur das vergängliche Werk der Dogmen zwischen ihnen steht.« »Ja,« sagte der Doktor, »das interessiert mich wenig, denn ich bin wohl Heide; mein Großvater mütterlicherseits soll Neger gewesen sein, und ich gehöre nicht in diesen Schafstall; er ist mir nicht feindlich, aber er ist mir fremd.« »Dir allerdings; doch die Lutheraner schreien im Chor mit dem Pastor primarius an der Spitze; die Vertreter der Versöhnungslehre brüllen, wenn sie von einer Versöhnung der Bekenntnisse reden hören. Schwache Gefäße, die bersten, wenn sie nur neuen Wein sehen!« »Ist es wahr, daß Falk katholisch geworden ist?« »Das ist eine Lüge; aber die Lutheraner sind von einer solchen Panik ergriffen, daß sie überall Katholiken zu sehen beginnen, ja, sie sehen sogar Jesuiten, obwohl ich noch keinem einzigen begegnet bin. Die Jesuitenorden sind von mehreren Päpsten aufgehoben worden, und doch sieht man sie, genau wie die Jesuiten früher Freimaurer ›sahen‹. Sie nennen mich auch Jesuit, mich!!! mich!!!« »Es scheint mit den Kirchen dasselbe zu sein wie mit den Synagogen,« fiel Isak jetzt ein. »Was ist mit der Synagoge?« fragte der Doktor. »Ja, die ist wie ein Schneckenhaus; das Tier ist herausgekrochen und gestorben. Es ist nur ein leeres Gehäuse, in dem es ganz leise säuselt wie Erinnerung an ein brausendes Leben.« »Da hast du recht, Levi; aber was für neue Baßtrompeten hört man jetzt in der Welt?« »Du meinst die Heilsarmee?« fiel Kurt ein. »Das sind internationale Christen, Synkretisten, die ihre Tempel allen Bekennern Christi öffnen. Sie haben keine Theologie, keinen Katechismus, keine festgesetzten Formen, kennen keinen Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten; es ist lebendiges Christentum mit Glauben _und_ guten Taten. Dieses kleine _und_ ist der Bindestrich zwischen den entzweiten Kirchen, die um Glauben _oder_ Taten stritten.« »Was bist du denn?« fragte Sellén schließlich. »Das weiß ich nicht! -- Ein christlicher Freidenker vielleicht; Christ, weil ich in christlicher Familie geboren bin, Freidenker, weil ich mich keiner ›anerkannten‹ Kirchengemeinschaft anschließen kann.« »Bist du Christ?« »Ja, ebensosehr wie Isak Jude und Onkel Borg Heide ist, ebensosehr oder ebensowenig.« »Jetzt will ich Musik haben,« unterbrach der Doktor, »Isak soll Bach spielen, und ich will treten.« Zum Glück war die Orgelempore geschlossen, und Kurt hatte den Schlüssel nicht. Das reizte den Doktor, der in der Feststimmung in die Tage des Roten Zimmers zurückfiel, und in seinem Verlangen nach einer außerordentlichen Kraftentfaltung verlangte er die Schlüssel zum Turm, denn er wollte hinauf und mit der großen Glocke Sturm läuten. Als auch dieser Plan scheiterte, ging er hinaus, und an einem Droschkenhalteplatz trennte man sich. Zweites Kapitel Die Palastrevolution Redakteur Gustav Borg, der ältere Bruder des Doktors, saß bei seiner Morgenzigarre im Büro und besichtigte den Briefkasten. Der Briefkasten ist ein wunderliches Ding: es ist die Post, die in einem geschlossenen Blechkasten, zu dem der Redakteur den Schlüssel hat, abgeholt wird. Dieser kleine Kasten enthält die Geheimnisse der Redaktion: Erwiderungen, Eingesandtes, Bittschriften, die anonymen Briefe, die groben Postkarten; dieser Kasten war gerade infolge der offenen Postkarten aufgekommen, die von dem Boten und andern Untergebenen gelesen wurden, was ihnen Mißachtung vor dem Redakteur und der Zeitung beibrachte und ihnen ein auf Vertraulichkeit beruhendes Übergewicht verlieh. Der Chefredakteur hatte lange gebraucht, bis er soweit war, nicht jedesmal, wenn er den Kasten öffnete, in Wut zu geraten. Ein Schweißbad kostete es freilich, aber er hatte schließlich eine solche Technik in der Kunst des Brieföffnens erlangt, daß er sofort an Handschrift, Unterschrift und ähnlichem sah, ob er das Schriftstück lesen mußte oder es in den Papierkorb werfen konnte. Heute ging es jedoch etwas langsamer, denn zum erstenmal seit Bestehen der Zeitung bekam der Redakteur offene Postkarten mit Lobesworten und Danksagungen von Konservativen, Familienvätern und Staatserhaltern, weil er in der gestrigen Nummer gegen den Sozialismus zu den Waffen gegriffen hatte. Gustav Borg war nämlich um die Mitte des Jahrhunderts geboren und hatte bis 1890 von den liberalen Idealen der vierziger Jahre gelebt, als da sind: konstitutionelle Monarchie (oder am liebsten Republik), Religionsfreiheit, allgemeines Wahlrecht, Frauenemanzipation, Volksschulen, Russenhaß und dergleichen. Er hatte die Repräsentationsveränderung 1866 miterlebt und an das Kommen des Tausendjährigen Reiches geglaubt. Aber es kam nicht. Was man gemeint hatte, berechnen zu können, erwies sich als falsche Rechnung. Bei den Neuwahlen 1867 ergab sich nämlich das folgende bizarre Resultat: der Adel, der früher ein Viertel der Volksvertretung ausmachte, hatte gewonnen und bildete jetzt ein Drittel, obwohl das Ritterhaus gestürzt war. Der geistliche Stand war von einem Viertel auf ein Dreißigstel reduziert worden. Das Papsttum Schwedens hatte also seine weltliche Macht verloren. Die Zahl der Vertreter des Bürgerstandes war von einem Viertel auf ein Sechstel herabgesetzt, und der Bauernstand behielt sein Viertel, hatte aber durch das Zweikammersystem doch an Macht gewonnen. Das Ritterhaus war freilich gestürzt, aber die Majorität der ersten Kammer wurde dennoch von Beamten und außerdem von Rittergutsbesitzern, meistens Edelleuten, gebildet. Es war also im großen und ganzen ein Reichstag wie im alten Rom mit Patriziern und Plebejern. Bei genauerem Hinsehen schienen freilich die Plebejer das Übergewicht zu haben, und das mußte einen Liberalen freuen; doch bei noch näherer Betrachtung stellte sich heraus, daß die Plebejer konservativ waren. In dieser babylonischen Verwirrung verlor Gustav Borg den Kopf. Seine etwas abstrakten Vorstellungen von Politik verleiteten ihn zu dem Glauben, der Reichstag werde sich mit staatsrechtlichen Theorien beschäftigen, während er doch die Aufgabe hatte, für die momentanen Bedürfnisse der Mitbürger zu sorgen. Er hatte den Kopf in seine eigene Schlinge gesteckt, da er stets das Recht der Mehrheit verfochten hatte und nun die vom Volk gewählte Mehrheit am Ruder sah. Schweden war damals ein Ackerbauland, deshalb hatten die Landwirte die Majorität. Das war logisch; und die Bauern waren jetzt an der Reihe: ihre älteren Klagen wurden aufgenommen, alte Ungerechtigkeiten vor Gericht gezogen. So weit konnte er mitgehen. Aber als diese selbe Majorität in Kulturfragen Gesetze aufstellen, bestimmen wollte, was die Nation glauben und denken, wie die Jugend erzogen werden solle, als sie diejenigen, die an der Zukunft arbeiteten, ins Gefängnis zu werfen beabsichtigte, da mußte er eingreifen und gegen seine Plebejer blank ziehen. Damit kam er in Streit mit sich selbst und begann zu schwanken. Die Mannigfaltigkeit der Faktoren machte die Berechnungen kompliziert; denn wenn er sah, wie die Königsmacht durch die neue Staatsform geschwächt wurde, konnte er nicht unterlassen, die Plebejer zu stützen, trotz ihrem Geiz, ihrer Unduldsamkeit und Trägheit. Es gab Augenblicke, in denen er die Zeit der Freiheit wiederkehren sah. Der Reichstag stürzte ja die Ratgeber des Königs, die Bauern setzten Ausschüsse ein, bevor die Wahl in der Kammer vor sich ging; häufig wurden Anträge eingebracht, die Apanage des Königs einzuziehen, und man diskutierte den Hofhalt der Prinzen. »Jetzt sind wir nicht weit vom Namenstempel!« sagte der Redakteur in einem Augenblick der Hellsichtigkeit Alle älteren politischen Begriffe lösten sich auf, es wurde große Wäsche gehalten, bei der Wergleinwand und feines Tuch zusammentrafen; und es war fast unmöglich, schwarz und weiß, mein und dein zu unterscheiden. Man stand dem großen Paradoxon gegenüber: die konservativen Plebejer haben die Königsmacht gestürzt; und dieser dreifache Selbstwiderspruch wirkte wie ein elektrischer Aal: man konnte ihn nicht mit Händen greifen, teils, weil er glatt war wie ein Aal, teils weil er geladen war. Man bekam einen Schlag, wenn man ihn anrührte, und er schlug nach allen Richtungen aus, nach rechts und links, nach oben und unten. Nun kam das Neue und veranlaßte die Menschen, von etwas anderm als von Bauern zu sprechen. Das war die sogenannte soziale Frage; die Grundfesten der Gesellschaft wurden untersucht und vor Alter und Feuchtigkeit baufällig befunden, so daß man auf ihnen nicht weiter zu bauen wagte, in der Befürchtung, das Haus möchte einstürzen. Die Panik, die jetzt entstand, ergriff zuerst die Oberen. Die Oberen, die Leichtesten, die deshalb oben schwammen; die Oberen, die Schwächsten, die deshalb da oben Schutz und Halt suchten, waren natürlich die Ängstlichsten. Aber die Furcht verbreitete sich, und eines schönen Tages wurde den Kämpfenden, den Wachsenden, den Liberalen auch bange. Man hatte nämlich begonnen, die Familie zu diskutieren, und hatte sie für individuell und persönlich wachsendes Leben zu eng befunden. Da die Alten der Ansicht waren, die Gesellschaft sei auf die Familie gegründet, so glaubten sie die Gesellschaft bedroht. Nun basiert aber weder der Staat noch die Gesellschaft auf der Familie; denn der Staat hat gar keine Ähnlichkeit mit der Ehe, sondern die Staaten sind aus dem Zusammenschluß freier Männer zu gemeinsamem Schutz entstanden. Das machte nichts, man blieb dabei, die Familie sei das Fundament der Gesellschaft. Und es war nutzlos, einzuwenden: mag immerhin die Familie das Fundament sein, wenn aber dies Fundament nicht mehr hält, so müssen wir an anderer Stelle neuen Grund legen und Neues bauen. Bei der Untersuchung des Begriffs Familie machte man ausfindig, daß zwei Menschen bei der jetzt so raschen Entwicklung keine dauernde Sympathie, ohne die das Zusammenleben der Ehegatten unerträglich ist, fürs ganze Leben schwören könnten. Das stark hervortretende Streben nach Persönlichkeit widersprach gegenseitiger Unterwerfung; das Hinaustreten der Frau in Arbeit und öffentliches Leben hinderte die Entwicklung des Familienlebens und die häusliche Erziehung der Kinder. Die Erfahrung zeigte ja, wie sich die Zahl der Ehescheidungen erhöhte; und diese tief schmerzliche Operation wollten die Alten in ihrer verständnislosen Art dem Leichtsinn zuschreiben, obwohl die prozessierenden Parteien genau wußten, daß sie dem schlimmsten, was es gab, der Sklaverei, nur entflohen, um ihre Persönlichkeit zu retten. Als dann Kindergärten und Schulen die Erziehung der Kinder in die Hand nahmen, fiel die Erziehung im Hause weg. Die Häuslichkeit war ja im übrigen nur ein Zufluchtsort gewesen, wo alle Untugenden blühten; die Erziehung fing erst in der Schule an, wurde in der Kaserne fortgesetzt und begann von neuem ernstlich draußen im Leben. So ungefähr wurden die Anklagen gegen die Familie formuliert. Und da ergriff die Panik auch einen so starken Mann wie Gustav Borg. Gestern hatte er selbst einen Leitartikel gegen die Auflöser der Gesellschaft geschrieben; und heute nahm er zum Dank für die Hilfe die Händedrücke der Konservativen entgegen. Mit seinem Sohn Holger, dem Hilfsredakteur, hatte er am Tage vorher eine stürmische Auseinandersetzung gehabt, in der dieser drohte, abzugehen. Doktor Borg, der Bruder, hatte ihm telephonisch seinen Besuch angekündigt; und den erwartete er jetzt, nicht ohne eine gewisse Unruhe, die auch dadurch hervorgerufen wurde, daß zahlreiche Abonnenten die Zeitung zurückgeschickt hatten. * * * * * Der Erwartete kam; der Doktor trat unangemeldet bei seinem Bruder ein und legte sofort los: »Was hast du getan?« »Ich habe nach meiner Überzeugung gegen eure Predigten der Unsittlichkeit geschrieben.« »Deine Überzeugung müßte sich auf bestehende Tatsachen gründen und auf Erfahrungen beruhen, aber das ist nicht der Fall; Predigten oder Prediger existieren gar nicht, denn alle, die über die Familie schreiben, teilen nur ihre Entdeckungen und Erfahrungen mit; sie sagen zum Beispiel: so und so geht die Entwicklung vorwärts, so und so ist das Familienleben im letzten Menschenalter entartet, und das Heim ist eine Schule des Despotismus, der Selbstsucht, der Heuchelei geworden. Sie teilen also nur tatsächliche Verhältnisse mit und predigen keine Theorien.« »Und du, der du selbst Töchter hast, sympathisierst mit diesen Lehren?« »Ich bin ebenso besorgt um meine Töchter wie du, und ich lehre sie nichts; denn ich weiß in diesem Punkte nichts; aber ich verhalte mich abwartend und beobachtend; ich glaube schon bemerkt zu haben, daß meine Kinder mit andern Ideen geboren sind als ich; die Schamhaftigkeit verbietet uns, darüber zu sprechen; deshalb ist es gut, daß es geschrieben wird; das gedruckte Wort ist still und verletzt niemanden. Aber das eine sage ich dir, ich bin gleich dir auf -- alles gefaßt! Da ich einsehe, daß ich nichts dabei tun kann, denn du weißt, was Ratschläge wert sind, so schweige ich und denke: vielleicht muß es so sein; vielleicht verstehen sie es besser; vielleicht ist dies der Weg zu der neuen Gesellschaftsform. Die Jungen, die für ihre neuen Ideale kämpfen, müssen für die ersten Versuche wohl leiden; viele werden fallen und deshalb viele abfallen; aber der Strom der Zeit fließt, ohne uns um Rat zu fragen, und ich werde keine verzweifelten Versuche machen, ihn aufzuhalten. -- Aber da du dich jetzt gegen uns gewendet hast, hast du die Zeitung ruiniert. Als Aktionär und Direktor ersuche ich dich, abzugehen und deinem Sohn Holger deinen Posten zu überlassen.« »Ich, abgehen? -- Nie!« »Gut! Dann gründen Holger und ich eine neue Zeitung!« »Eine neue Zeitung geht nicht!« »Doch, eine neue Zeitung, die bei der Farbe bleibt und die von dir verlassenen Traditionen aufnimmt, die geht.« »Du meinst eine einseitige Parteizeitung, die ihre Gegner als Verbrecher behandelt.« »Nein, als Feinde! Solange die Schlacht im Gange ist, erschießt man den Soldaten, der Unterhandlungen beginnt. -- Hast du nie bemerkt: wenn man dem Feinde ein Zugeständnis macht oder ihm ein gutes Wort gibt, so jubelt er über die Unterwerfung. Gute Worte und Höflichkeiten kommen hinterher, beim Friedensschluß. -- Betrachte dich jetzt als einen erschossenen Deserteur und geh!« »Nie!« »Dann ruinieren wir dich durch Konkurrenz!« »So spricht ein Bruder!« »Ja, ein ehrlicher Bruder, der nicht dem Nepotismus oder der Parteilichkeit huldigt, der die Gerechtigkeit über die Bruderliebe und das allgemeine Wohl über das private stellt.« »Du vergißt, daß du dein Geld verlierst, wenn du mich stürzt!« »Das vergesse ich nicht; aber ich habe mehr Geld, als du glaubst, also bin ich nicht zu ruinieren. Du hast bis morgen um zwölf Bedenkzeit. Adieu! ...« Der Doktor fuhr zur Tür hinaus, und der Redakteur blieb mit seinen schweren Gedanken allein. Abgesetzt, als Ausgedienter auf den Kehricht geworfen, er, der die große materielle Neubildung nach 1850 mitgemacht hatte. Er erinnerte sich der ersten Eisenbahnstrecke 1852; erinnerte sich der Eröffnung der Telegraphen 1853, der ersten Gaslaterne 1854; der ersten Briefmarke 1855, und er hatte in den achtziger Jahren das Telephon und das elektrische Licht mit erlebt. Aber von den politischen Idealen seiner Jugend hatten sich wie gewöhnlich nur wenige realisiert, die meisten waren zerstört und verschwunden und als Afterkorn in den Graben gefallen; einige waren auf andere Weise, als er erträumt hatte, verwirklicht worden, und die Folgen waren das Gegenteil von dem gewesen, was man erwartet hatte. Unterdes waren neue Ideale aufgetaucht, die er nicht verstand und die er fürchtete. Zum Beispiel verstand er die große Arbeiterbewegung nicht, denn er hatte nicht bemerkt, daß das Land in diesen vierzig Jahren aus einem Bauernlande ganz allmählich ein Industrieland geworden war; er nannte die Führer der Arbeiterpartei Agitatoren und Anarchisten, obwohl sie gerade für Gesetzgebung und Ordnung in den noch ungeordneten Massen wirkten. Er verstand das Streben der Jugend nach Freiheit und Verantwortung, nach Selbstbetätigung und Selbstbestimmungsrecht nicht, deshalb fiel er. Das war tragisch, denn es war unabänderlich, daß die Zeit der Wachstumsfähigkeit des Menschengeistes eine Grenze setzte; und er fiel nicht durch eigene Schuld, sondern infolge der Gesetze des Lebens. Daß der Sohn sein Nachfolger werden würde, hatte er sich ja immer gedacht; aber daß er ihn verdrängte, und auf diese Art, das war schlimmer als alle Bitterkeit des Lebens. * * * * * Er verschloß seinen Schreibtisch und ging fort, um aufs Land zu reisen und über den Entschluß, den er fassen mußte, nachzudenken. Seit einigen Jahren hatte er nämlich einen Landbesitz draußen auf den Schären, wo er den größeren Teil des Jahres mit seiner Familie lebte. Drittes Kapitel Die Storöer Redakteur Gustav Borg stand auf dem Vorderdeck des kleinen Schärendampfers, der nach Storö fuhr, wo er sein Besitztum hatte; aber in seiner erregten Gemütsstimmung hätte er sich am liebsten unsichtbar gemacht oder im Notfall blind und taub. Zwei fremde Herren befanden sich in seiner Nähe, und er mußte ihr Gespräch mit anhören. »Eine hübsche Stadt ist Stockholm auf jeden Fall; aber sie wirkt doch wie eine Dekoration, denn sie ist zu groß und glänzend, um ein ödes Land zu repräsentieren.« »Ödes?« »Ja, ich habe kürzlich eine Inspektionsreise durch ganz Schweden gemacht, ich bin nämlich Inspektor einer Lebensversicherungsgesellschaft; und ich bin durch ganze Provinzen gezogen, ohne Menschen zu sehen; in dem Zug waren fünf Leute, auf den Bahnhöfen war es totenstill. Kam ich in eine große Stadt, so war sie von Beamten bevölkert: ein Landeshauptmann, ein Bischof, ein Oberst, dazu ein Stab von Bürgermeistern, Ratsherren, Postmeistern, Telegraphenkommissaren -- und ein paar Kaufleute.« »Aber die Bevölkerungszahl ist doch auf fünf Millionen angewachsen?« »Allerdings; doch unter diesen fünf Millionen ist nur eine Million Männer zwischen zwanzig und fünfundfünfzig Jahren. Zweiundeinehalbe Million sind Kinder und Frauen ohne Beruf. Aber jene Million erwachsener, arbeitsfähiger Männer muß die zweieinhalb Millionen Unproduktiver versorgen, muß außerdem 170000 Beamte ernähren, abgesehen vom Militär, das 133000 ausmacht. -- Du hörst, ich weiß als rechter Lebensversicherer über meine Leben Bescheid.« »Haben wir 170000 Zivilbeamte?« »Ja, wir haben 67000 Post-, Telegraphen- und Eisenbahnbeamte, 27000 Regierungsbeamte, 28000 Geistliche mit Gehilfen, 38000 Lehrer, 17000 Kommunalbeamte.« »Das ist ja unsinnig.« »Ja, aber es ist so! Ich kann es nicht ändern; und es ist kein Geheimnis, denn es steht in der offiziellen Statistik Schwedens gedruckt. Das schlimmste aber ist die Auswanderung! Seit ich 1866 in die Gesellschaft eingetreten bin, sind 780000 Menschen ausgewandert.« »Siebenhunderttausend?« »Ja; in den vier Jahren zwischen 66 und 70 wanderten hunderttausend aus. Als die Zahl später sank, schrien die Patrioten und sagten: Seht ihr jetzt, daß es nicht gefährlich war! Aber dann kamen die Jahre 81 bis 85, als 175000 auswanderten. Und dann 86 bis 90 mit 200000 Auswanderern.« »Was sagten die Patrioten da?« »Nichts! Doch, sie begannen auf der ›Schanze‹ ihre Erinnerungen zu sammeln und bauten im Vorgefühl des nahen Endes ein Museum.« »Warum wandert man aus; ist die Armut schuld?« »Nein, die Armut soll es nicht sein.« »Was ist es denn?« »Die Volkshochschullehrer -- das sind sonderbare Leute, mußt du wissen -- behaupten, es sei Mangel an Vaterlandsliebe; wie aber dieser Mangel entstanden ist, sagen sie nicht. Ich habe einmal so einem Erzieher geantwortet: wie kann man ein Land lieben, dessen Grund und Boden dem Ausländer gehört? Du weißt doch, daß der schwedische Grund und Boden für 226 Millionen dem Auslande verpfändet ist, daß die Kommunalschulden sich auf 175 Millionen belaufen und daß die staatliche Obligationsschuld 287 Millionen beträgt. Das Land verpfändet, und wird's auch bleiben, singt man jetzt in gewissen Klubs. Nun stellt man gewöhnlich den Hypothekenschulden die Sparkassengelder entgegen. Aber die Sparkassengelder sind an ebensoviele Pumper ausgeliehen und werden nach und nach von Auswanderern abgehoben, die sie für das Schiffsbillett reserviert hatten. Die Staatsobligationen sind durch das Eisenbahnmaterial gedeckt; das ist jedoch eine falsche Buchführung, denn Schienen und Lokomotiven müßten im Inventarverzeichnis stehen.« »Aber die Verkehrsmittel sind produktive Kräfte.« »Jawohl, das sind die Landstraßen auch, und die Wasserwege ebenfalls, doch sie sind kein Kapitalvermögen. Das Unglück ist, daß sich unter unsern siebenundzwanzigtausend Regierungsbeamten nicht ein Buchhalter befindet; allerdings, was sollte das in einem Staat nützen, wo dieser selbst und die einzelnen über ihre Verhältnisse leben? Der Staat müßte nach Vermögen und nicht nach Gutdünken Steuern ausschreiben. Jetzt aber sagt man nur: wir müssen ein Heer haben, und dann fordert man eine halbe Milliarde. Denke dir, eine halbe Milliarde, die in zehn Jahren bezahlt sein soll!« »Aber die Auswanderung? Was meinst du über die Ursachen?« »Die Schweden fühlen sich nicht wohl; alles ist dumpfig; es ist ihnen langweilig, allein in den einsamen Dörfern zu sitzen; sie haben kein Zusammengehörigkeitsgefühl, weil die Nation nicht gleichartig ist. Der ganze Adel, die oberen Klassen und der Mittelstand sind zum größten Teil eingewanderte Ausländer, die sich unter schwedischen Namen verbergen. Diese bilden einen Feudalstaat von Beamten, die ihre Gehälter von den Heloten einziehen. Beamter zu werden und Pension zu bekommen ist ja das Ideal jedes ›besseren Menschen‹. Die Universitäten sind nur Schulen für Beamtenexamina, und eine der Universitäten hat in einer Fakultät ebensoviele Dozenten wie Studenten. Die Studenten sind noch ein privilegierter Stand von konservativen Burschen, die die Nation bei Saufereien repräsentieren (von Ausnahmen abgesehen). Aber es gibt noch anderes, was trennend wirkt. Das ist der alte Provinzpartikularismus, und der macht sich noch in den Landsmannschaften an der Universität geltend, wo aller alte Bodensatz sich aufsammelt. Sie beneiden und hassen einander, und besonders die Geistlichen sind bei Beförderungen durch das Indigenatsrecht an die Provinz gebunden. In den Ämtern siehst du, daß sofort eine Invasion von Smaaländern in das Amt stattfindet, wenn der Präsident zum Beispiel ein Smaaländer ist; und in der Hauptstadt gibt es Vereine, in denen die Provinzialen sich zusammenrotten, um ›gemeinsame Interessen zu fördern‹; im Reichstag sitzt man nach Provinzen geordnet, und in die Schwedische Akademie wurde man eine Zeitlang nach südschwedischem Indigenatsrecht aufgenommen, so daß man das erhabene Institut, im Scherz natürlich, Schonensche Akademie nannte. Ja, es ist so viel Unrat da, der hier das Leben unleidlich macht. Keiner fühlt sich zu Hause; jeder einzelne ist Feind in Feindesland; etwas auszurichten wagt keiner, denn er wird gehindert; die einzige Energieäußerung spürt man, wenn etwas verhindert werden soll. Die etwas tun wollen, müssen sich ein anderes Land suchen, deshalb wandern die Energischen aus, die Hinderer aber bleiben! Das ist verteufelt!« * * * * * Beim Blockhauszoll begann es windig zu werden, und der Redakteur begab sich in den Achtersalon. Da fand er einen schlafenden Herrn, der ihm den Rücken zukehrte; an der kolossalen Breite sah er sofort, daß es der Schwager war, der Pfarrer von Storö, den er jetzt nicht gern treffen wollte. Deshalb folgte er dem Beispiel, warf sich auf das andere Sofa gegenüber und drehte dem Pfarrer den Rücken zu. * * * * * Während die Schwäger im Achtersalon schliefen, saßen Doktor Borg und seine Schwägerin Brita, die Frau des Redakteurs, oben im Rauchsalon und plauderten. Sie wußten freilich von der Anwesenheit der andern auf dem Schiff, aber es lag ihnen nichts daran, mit ihnen zusammenzutreffen. »Es muß zum Krach kommen,« fuhr der Doktor fort, »und du, Brita, wirst die Bombe werfen!« »Ja, lieber Freund,« antwortete die Frau mit höchst wohlwollendem Entgegenkommen, »ich habe meine Bomben jetzt so viele Jahre lang geworfen, daß ich nun wohl zum Dynamit greifen muß. Gustav mit seinen altliberalen Ansichten ist unser schlimmster Feind; er versteht nichts von dem Großen, das jetzt in der Welt geschieht; er hat freilich einmal die Theorien gebilligt, aber wenn es darauf ankommt, einen einzigen Gedanken, ein einziges von seinen Jugendidealen zu verwirklichen, dann versagt er.« »Vollkommen: deshalb müssen wir ihm den Schwanz hochbinden; er soll abgehen und deinem Holger gegen eine gewisse Pachtsumme die Leitung überlassen; will er weiter für die Zeitung schreiben, so mag er das tun, aber unter Zensur des Chefredakteurs.« »Wenn Holger nur nicht zu weichherzig ist! Trotz seinem Ingenieurkopf hat er noch ererbte Schwächen ...« »Die werde ich ihm schon austreiben, und da du absolut gefühllos bist, kannst du dabei helfen. Wir wollen uns verbünden, du und ich, dann wird etwas ausgerichtet.« »Ja,« antwortete Brita mit ihrer sorglosen, menschenfreundlichen Miene, »aber dann müssen wir ein Kompromiß schließen. Du mußt für meine Frauensache eintreten.« »Du weißt, das tue ich, soweit die Gerechtigkeit geht, nur bei Ungerechtigkeiten mache ich nicht mit. Ich billige deinen Kampf für die Menschenrechte der Dienstboten, für die Lohnbedingungen der Arbeiterinnen, für Befreiung der Mädchen von Untätigkeit und Tand; ebenso bin ich für freie Verbindungen mit gesetzlicher Verantwortung, aber ich bin nicht für freie Liebe in der Ehe, denn das ist die Sklaverei des Mannes, besonders wenn er falsche Kinder im Kirchenbuch stehen hat; ich bin nicht für das Eigentumsrecht der verheirateten Frau, das den Besitz der Frau vom Beitrag zum Unterhalt der Familie befreit, das Vermögen des Mannes jedoch als gemeinsamen Besitz beibehält.« »Und die häusliche Arbeit der Frau? Soll die nicht bezahlt werden?« »Was ist das für Arbeit? Hast du je im Hause gearbeitet? Du hast Befehle gegeben, die von Dienstboten ausgeführt wurden, die Gustav bezahlte: Er aber hat dich und deine Kinder und deine Dienstboten ernährt und gekleidet. Du redest Unsinn!« »Sollen denn arme Waschfrauen, die selbst verdienen, ihr Geld nicht behalten, soll der Mann das vertrinken dürfen?« »Wenn der Mann seinen kargen Lohn nicht behalten darf, sondern ihn an die Familie abliefern muß, so soll auch der Lohn der Frau für die Wirtschaft verbraucht werden. Begreifst du nicht, daß der Mann sonst Sklave wird? Und gegen die Sklaverei hat selbst der altliberale Gustav gepredigt! Hast du übrigens schon einmal eine Waschfrau gesehen, die den Mann ihr Geld vertrinken läßt? Wenn du es gesehen hast, so wird sie es gewollt haben, und wenn sie es will, so kann keine Gesetzgebung es hindern. Du übersetzt zum Beispiel, statt die Wirtschaft zu besorgen, und du vertrinkst deine Honorare, das heißt verjubelst sie mit Reisen und Festen, während Gustav dir Dienstboten hält, die deine Arbeit tun. Findest du das gerecht, oder findest du, daß die Stellung der Frau unterdrückt ist? Ja, dann bist du ein Dickkopf, und ich kann keinen Kompromiß mit dir schließen.« Brita zitterte vor Wut, konnte aus ihrem Kopf aber diese Dummheiten nicht herausbringen, die sie aus einer verflossenen Zeit mitschleppte, in der die Ritterlichkeit verlangte, der Mann müsse alles dem Idol opfern. Der Doktor, der sich von allen alten Vorurteilen befreit hatte, sah den Augenblick gekommen, reinen Tisch zu machen und den fixen Ideen der Schwägerin auf den Grund zu gehen. »Und daß die Frau im allgemeinen schlechter bezahlt wird,« fuhr er fort, »das beruht auf dem wichtigen Faktum, daß sie ihre Liebe nicht zu bezahlen braucht, sondern in irgendeiner Weise dafür bezahlt wird. Das Gesetz verurteilt nämlich nur den Mann zur Alimentenzahlung, nie die Frau, die doch die größte Freude an der Mutterschaft hat und deren Besitzrecht am Kinde indisputabel ist! -- Ja, und dann willst du die Prostitution abschaffen! Weißt du, was du unter Prostitution verstehst? Meinst du die ärztliche Aufsicht, so bist du unbarmherzig, wenn du sie abschaffen willst! Meinst du aber die Tatsache, daß ein Haufen Weiber aus dem Geschlechtsleben ein Gewerbe macht, so kann das Gesetz diese Tatsache nicht abschaffen, denn in das Geheimste und Intimste kann das Gesetz nicht eingreifen! Aber ihr wollt nie auf die Frage antworten, sondern kriecht wie Ratten aus einem Loch ins andere. Die Polizei versucht durch Kontrolle die Prostitution einzuschränken und von der Ausübung des Gewerbes abzuschrecken, arbeitet also in eurem Sinne; aber ihr arbeitet ja den Verhütungsmaßregeln entgegen. Was wollt ihr? Das wißt ihr nicht. Deshalb ist alles Unsinn, was ihr faselt! -- Ist sonst noch etwas übrig? Stimmrecht? Ja, erst für den Mann, dann wollen wir später weiter sehen, wenn ihr erst Gerechtigkeit und Vernunft gelernt habt.« »Und du verlangst, daß ich mit dir zusammen arbeite?« »Ja, in allen Punkten, in denen wir einig sind, und in all deinen Bestrebungen, die Achtung verdienen und die ich, wie du weißt, an dir schätze! Aber ich erbitte nicht deinen Beistand in einer guten Sache, um dir dafür in einer ungerechten beizustehen. Wenn du, in deinem Hause Herrscherin, die Sklavin spielen willst, so sehe ich in dir eine Betrügerin, der ich ins Gesicht spucken werde. Das weißt du im voraus, Brita!« Frau Brita war von Natur zu gutmütig, um wegen einer solchen Kleinigkeit böse zu werden, und ihr Glaube an ihre gemeinsame große Sache so stark, daß sie sich genügen ließ und das Gespräch mit ihrer gewöhnlichen Schlußerwiderung abbrach: »Ja, siehst du, in dieser Frage werden wir uns nie verstehen.« Aber der Doktor war mit bloßen Repliken nicht zufrieden, sondern wollte Bescheid haben; deshalb antwortete er: »Doch, meine Liebe, ich verstehe dich, aber du verstehst nicht, was ich sage, und das ist dein Fehler.« Das Gespräch würde wieder von vorn begonnen haben, wenn nicht der Pfarrer von Storö, Frau Britas Bruder, den Rauchsalon betreten hätte; ein schwarzer Koloß von beängstigendem Äußern, von einem alten, heruntergekommenen Hunde begleitet. »Da kommt Petter mit seiner Sprengmaschine,« sagte der Doktor; und wie um den Vergleich zu illustrieren, hob Phylax das Hinterbein. Frau Brita, die glaubte sich als Tierfreundin zeigen zu müssen, stand immer auf Phylax' Seite und war sofort zur Verteidigung bereit. »Du liebst deine Anverwandten nicht, Henrik,« sagte sie. »Ach pfui, ich bin nicht mit Hunden verwandt, und ich hasse alles Tierische, bei mir wie bei andern. Jetzt müßte Petter ein Scheuertuch holen und das Deck abwischen, wenn es Gesetz und Recht gäbe ...« »Du bist so streng gegen ein unschuldiges Tier,« wendete der Pfarrer ein ... »Nein, aber gegen dich bin ich streng, da du Tiere in menschliche Gesellschaft einführst; du wagst selbst nicht zu bellen und zu beißen, aber dein unnützes Tier läßt du das tun; du wagst das Hinterbein nicht hochzuheben, aber dein unschuldiges Tier darf es. Du bist ein Aas, das ist alles.« »Nun, nun, nun,« mahnte der Pfarrer; »wir sollen barmherzig sein.« »Ja, wir sollen barmherzig sein gegen unsere Mitmenschen, sollen nicht den Kindern das Brot nehmen und es den Hunden vorwerfen; du gibst einem Armen keine zwei Pfennige; deinen Tagelöhnern gibst du abgerahmte Milch, aber deinem vermoderten, stinkenden Vieh gibst du die Sahne, und wer das Tier, das unnütze Tier, über den Menschen stellt, der ist selber ein verfaultes Tier.« »Hast du Gustav gesehen?« unterbrach ihn Frau Brita jetzt. »Er liegt unten im Achtersalon und schläft,« antwortete der Pfarrer. Das war für die beiden Verschworenen eine überraschende Neuigkeit, und sie versanken beide in ein grübelndes Schweigen, das der Pfarrer benutzte, um durchs Fenster zu sehen, wie weit sie gekommen waren. Sie waren in der Kanalmündung, wo sich immer die Frage erhob, ob auch genügend Wasser da sei, daß das Schiff schwimmen konnte. * * * * * Man war erst eine halbe Stunde von der Hauptstadt entfernt, und schon begann die Wildnis. Feldstein und Zwergkiefern, Moore und Binnenseen wechselten mit winzigen Ackerstücken, auf denen die kleine Landwirtschaft nur des Aussehens halber betrieben zu werden schien. Die adligen Landwirte lebten von Zinsen oder Berufen und hatten die Landbesitzungen in der Hauptsache der Jagd und Fischerei wegen, oder um auf dem Lande zu wohnen. Der einzige wirkliche Landwirt war der Pfarrer, der zweihundert Morgen offenen Boden, Viehstall und Meierei besaß, Pferde und Schlachtvieh aufzog, Schweine züchtete und nach neuen rationellen Methoden Eier herstellte; er hatte auch eine Wassermühle, war Aktionär der Dampfschiffsgesellschaft und baute Sommervillen zum Vermieten. Er war der reichste Mann auf Storö; die Seelsorge ließ er von einem Diakonus und einem Vikar erledigen, aber die Verwaltung und die Amtsarbeiten behielt er in der Hand, denn er liebte zu herrschen und einzugreifen. Seinen Freunden und Verwandten gegenüber war er ein Lamm, wirkte wie ein gutmütiges Rindvieh, seinen Feinden gegenüber aber wie ein brüllender Löwe; und die Gemeinde betrachtete er als Feinde, besonders die Armen. »Es gibt keine Armen,« sagte er. »Faule gibt es! Es gibt keine Kranken, das sind nur Heuchler, die Unterstützung genießen wollen.« Bei der Steuereinschätzung war er wie ein Rasiermesser, wenn er geheime Einkünfte aufstöbern konnte. Da tatsächlich das ganze Kirchspiel in ewiger Fehde lebte, um von einander die Steuern einzutreiben, so wurden im Gemeindeausschuß die heftigsten Kämpfe ausgefochten, und Pastor Alroth ließ die Zugezogenen ausspionieren. Kaufte einer eine Villa, so wurden sofort seine Einkünfte in der Stadt mit in Rechnung gestellt, denn wenn der Käufer im Winter einige Zeit auf der Insel wohnte, war er dort ortsansässig. Es wurde ohne Ende geklagt und prozessiert; und beim Ting war der Pastor immer als eine Art öffentlicher Ankläger zugegen, jederzeit bereit, in allen möglichen Prozessen als Zeuge zu dienen. Er war kein gewöhnlicher Geistlicher und würde viele Feinde gehabt haben, wenn er nicht eine Ader Humor besessen hätte, die ihm erlaubte, über eigene und fremde Schwächen zu lächeln. Er war ein weltlicher Priester, was freilich wie ein Widerspruch klingt, da er dem geistlichen Stande angehörte; aber die Verweltlichung der Staatskirche, durch die die Priesterschaft gleichsam ein Stand geworden war, der von der Erde lebt, hatte die Geistlichen zu Landwirten und Meiereibesitzern gemacht, die mehr mit der Sorge um Ochsen und Kühe als um Menschen zu tun hatten. Er war auch ein lustiger Pfarrer, der an Gelagen teilnahm, und als der beste Wiraspieler der Gegend bekannt. Aber er vergaß sich nie, trank nie zuviel, mogelte freilich am Spieltisch, war jedoch der erste, es einzugestehen, wenn er ertappt wurde. Er fluchte nicht und legte es nicht darauf an, den aufgeklärten Skeptiker zu spielen; scherzte gern, aber nicht mit dem, was für ihn nicht erlaubt war; er glaubte an die Lehren und machte in Gesellschaft keine feigen Zugeständnisse. Um die Fragen und die Unruhe der Zeit kümmerte er sich nicht, las nie Bücher, verfolgte jedoch in den Zeitungen die Politik des Tages, die Zollfragen und die Steuererhöhung. Mit seiner Schwester Brita neckte er sich im Scherz, und mit dem Schwager, dem Redakteur, war er ziemlich gut Freund. Doktor Borg mochte er gern, weil er ein ganzer Kerl war, und seine Grobheiten faßte er als Witze auf. Am meisten schätzte er den Doktor wegen seiner entschiedenen Haltung in der idiotischen Frauenfrage und verzieh ihm deshalb seine Wut auf die Hunde. Seine Verwandten waren Villenbesitzer, und er betrachtete sie als gute Nachbarn, setzte ihnen aber bei der Einschätzung Daumschrauben an. Seine Nächste, das heißt seine Gattin, mit der er in kinderloser Ehe lebte, behandelte er als Frau, als Kameradin und als Herrscherin des Hauses in der »Innenabteilung«; doch wehe ihr, wenn sie die Grenzen ihres Machtbereichs überschreiten wollte, dann verteidigte er seinen Platz. Brita war freilich gekommen und hatte sie aufzuwiegeln versucht, aber da hatte er, ohne Rücksicht auf den Hausfrieden, sich so aufgeführt, daß sie kapitulieren mußten. »An meiner Seite, Frau, aber nicht über mir!« war seine Formel. Er nannte die Männer, die die Frauen über sich herrschen lassen, Sodomiten. Und er hatte wohl eingesehen, daß es sich nicht um Gleichstellung handelte, sondern um Tyrannei, wenn die Frauen vorstürmten. »In der neuen Gesellschaft werdet ihr vielleicht Stimmrecht bekommen,« sagte er, »wenn ihr alle arbeitet; aber in dieser Gesellschaft, wo ihr Anhang seid, nicht!« Das war Pastor Alroth auf Storö; ein Prälat aus dem Mittelalter, ein geistlicher Beamter mit viel weltlicher Macht, ein reicher Mann, der großen Landbesitz hatte und infolgedessen sein eigener Patron war, das heißt sich selbst in eine Pfarre einsetzte, die ihm ein Gehalt von 30000 Kronen brachte, das zusammen mit seinen Privateinnahmen von 20000 Kronen seine Einkünfte auf 50000 Kronen jährlich abrundete. * * * * * Bei der Einfahrt in den Kanal zeigte es sich, daß niedriges Wasser war; deshalb begann der Steuermann das gewöhnliche Manöver zu kommandieren. »Passagiere nach Lee!« Das war das erste Tempo; da aber nicht alle wußten, wo Lee lag, so gingen einige nach Luv. Wenn dann der schiefe Steuermann -- er war immer schief und rotäugig wie eine Plötze -- luvwärts rief, dann verstanden auch die Uneingeweihten den Zusammenhang, daß nämlich alle auf die gleiche Seite hinübergehen sollten. Dadurch legte sich der Dampfer schräg, als wolle er kentern, wand sich aber doch ein Stück weiter an den Schilfbänken entlang, wo Angelruten sich in dem rückflutenden Wasser bogen. »Warum baggert man den Kanal nicht aus?« fragte Frau Brita unschuldig. »Weil,« antwortete der Doktor, »wenn man baggerte, sofort ein raschfahrender Konkurrent eingestellt würde, und das wollen die Aktionäre dieses Kahns nicht. Oder was meinst du, Petter?« Der Pastor wollte weder nein noch ja sagen, sondern erwiderte: »Ich möchte wissen, ob Gustav unten im Achtersalon Schlagseite hat! Er ist recht schwer und der Steuermann müßte hinuntergehen und ihn umstauen.« Jetzt trat der Doktor Phylax, der sich die Angelruten besehen wollte, auf die Zehen, und der Hund stieß ein entsetzliches Geheul aus, in das Brita einstimmte: »Du bist ein Barbar!« schrie sie den Doktor an. »Das ist eine Lüge, Kindchen,« antwortete der Doktor; »ich quäle nie ein Tier, nicht einmal einen Regenwurm, aber eure Tiere quälen mich, weil sie mir vor den Füßen herumlaufen und heulen.« Der Kanal war passiert, und man hatte einen Sund vor sich. Landungsbrücke folgte auf Landungsbrücke, und bei jeder Anlegestelle hatte man Gelegenheit, eine Bemerkung, eine Aufklärung über die Einwohner fallen zu lassen. Es waren gewissermaßen Zufluchtsorte, bisweilen Verstecke für Menschen, die sich dem Weltgetümmel entzogen hatten. Keine Geschichte war der andern gleich, und in dieser Einöde, eine halbe Stunde von Stockholm, hatten sie sich niedergelassen, hauptsächlich vielleicht, um die Nähe des Meeres zu spüren, das einzig Große, das Schwedens kärgliche Natur bietet. Alltägliche Trauerspiele waren zu Ende gespielt, und man erlebte hier draußen den letzten Akt. Durchgebrachtes Vermögen, zerbrochene Familienschicksale, bestrafte oder unbestrafte Fehltritte, verwundeter Ehrgeiz, Kummer und Not, alles Elend hatte sich hier in den grünen Talmulden zwischen den Feldsteinhügeln niedergelassen. Die Eingeweihten, die diese Wasserstraße passierten, hatten das Gefühl, an aller Bitterkeit des Lebens vorbeizufahren, und neben der Beklemmung wurde ein Wohlbehagen wach, außerhalb zu stehen. Der Pastor, der am meisten wußte, sprach am wenigsten, der Doktor aber legte sich unverdrossen ins Zeug: »Sieh, da steht der alte Päderast auf seiner Brücke und wartet auf die Zeitung. Du studierst doch die soziale Frage, Brita, kannst du die Päderastie erklären, und kannst du mir sagen, warum in unsern Kreisen so viele Männer in dieser Richtung von sich reden machen?« »Nein, das kann ich nicht, und darüber will ich nicht sprechen,« antwortete Frau Brita ohne Prüderie, aber auch ohne Interesse. »Man spricht nicht über solche Dinge,« unterbrach der Pastor. »Das ist ja gerade das Unglück,« sagte der Doktor, »daß man die wichtigsten Fragen nicht erörtern darf. Über Mord und Brandstiftung, Diebstahl und Wechselfälschungen darf man bei jedem Gericht laut sprechen, und mündliches Verhör ist gesetzlich angeordnet, aber über diese Dinge darf man nicht einmal schreiben!« »Die menschliche Schamhaftigkeit gebietet Schweigen,« wandte der Pastor ein. »Dann müßte der Richter sich auch schämen, von Mord und Diebstahl zu hören! Nein, ihr seid zimperlich oder wollt besser scheinen als ihr seid. Ich kann euch nicht begreifen! Die Vollziehung des Aktes bleibt straflos; wenn aber ein Dichter eine hochgestimmte Schilderung der ersten Szene des Geburtsaktes gibt, dann wollt ihr ihn ins Gefängnis werfen! Um der Jugend willen! Um der liederlichen Jugend willen, die nicht ihren Namen in Bäume schneidet, wohl aber das ganze Geheimnis auf Ecken und Wände malt. Ich verstehe euch nicht, will euch aber nicht Heuchler nennen, denn ich weiß nicht, was das ist! Du, Petter, würdest dich nicht auf einem Trottoir exponieren, aber dein Köter darf den Schönheitssinn einer Kinderschar beleidigen, und du stehst dabei und siehst zu! Pfui Teufel!« »Jetzt ist er wieder bei den Hunden,« brach Frau Brita ab, »das ist sein stehendes Gesprächsthema.« »Ja, wenn ihr eure unreinen Tiere in die menschliche Gesellschaft bringt und sie an der Konversation teilnehmen laßt, dann bekommt ihr Bescheid.« »Unreine Tiere? Es gibt keine so sauberen Tiere, nächst den Katzen, sieh dir ihr Fell an ...« »Sieh dir dein Kleid an, Brita,« schrie der Doktor, »sieh dir Phylax, die Sprengmaschine, an!« Phylax hatte wirklich Frau Britas Staatskleid untersucht und das Hinterbein gehoben. Wie von einer Wespe gestochen flog die Frau in die Höhe. Die rote Feder auf ihrem Hut zitterte gleich einer Haferrispe im Winde, ihr Gesicht drückte alle möglichen Gemütsbewegungen zugleich aus; Wut über die Kränkung, Verzweiflung über den Schaden, Scham über die Demütigung, gemischt mit einem freundlichen Lächeln, das noch im Tode die Sympathie mit dem unschuldigen Tier ausdrücken sollte. »Warum züchtigst du dein Tier nicht?« brüllte der Doktor, der für den geschädigten und erniedrigten Menschen Partei zu nehmen versuchte. »Nein, dann kommt der Tierschutzverein!« meinte der Pastor. »Der Verein kann recht haben, wenn nämlich der Stock statt dessen über dich käme; aber ich weiß, daß du nicht wagst, den Stock gegen Phylax zu erheben, denn dann zeigt er die Zähne; er ist der Herr und du bist der Hund! Du verwünschtes Vieh von einem Egoisten!« Damit verließ er den Rauchsalon und warf die Tür hinter sich zu. Jetzt lag der Fjord offen da, und der Doktor ging nach dem Achterdeck hinunter, um sich abzukühlen. Da bemerkte er den Großkaufmann Levi, der ebenfalls eine Villa auf Storö besaß, und Britas dritten Sohn, der ein Vorwerk von Pastor Alroth gepachtet hatte. Der Doktor mußte erst seinem Zorn Luft machen, ehe er ein neues Gesprächsthema aufnahm, und bei Isak fand er ein treues Herz, dem er seinen Ärger anvertrauen konnte. »Nein, diese Teufel! Die Frauen haben sich mit den Tieren verbündet; ein Tier darf mich beißen, wenn ich mich aber gegen das Tier mit einem Tritt verteidige, so komme ich ins Gefängnis. Ist das das Ende der Welt, oder was ist es? Und diese Tierweiber werden als die Wohltäter der Menschheit gemalt, als Riesengenies biographiert ...« »Ja,« sagte Isak, »das sind die Konsequenzen der zoologischen Weltanschauung, der Veterinärpsychologie, des auf das Tier ausgedehnten demokratischen Prinzips. Alles ist gleich, alle sind gleich ...« »Welche Schafsköpfe haben so absurde Konsequenzen ziehen können? Wenn der Mensch auf der Tierskala am höchsten steht, so soll er doch über das Tier herrschen, das ist Logik. -- Aber es ist ein Symptom des Verfalls, wenn kleine oder große Tiere die Macht bekommen; Bakterien oder Hunde, das ist einerlei; gegen den Bazillus darf ich mich verteidigen, aber gegen den Hund nicht? Ja, wißt ihr, es ist alles verfault!« Isak fand den Augenblick gekommen, abzubrechen, und warf ein: »Anders findet auch, daß es mit der Landwirtschaft faul ist!« »Faul will ich nicht sagen, aber verkehrt ist es mit der Landwirtschaft, das ist sicher. Ist der Boden nicht ausgesogen, wenn wir ihn nicht düngen können, ohne Düngemittel zu importieren? Wißt ihr, daß Schweden in einem Jahre sechzig Millionen Kilogramm künstlichen Dünger aus dem Auslande gekauft hat? Wißt ihr das? Und glaubt ihr, daß sich das rentiert? -- Wir können nicht einmal unser Vieh ernähren: wißt ihr, daß wir in einem Jahre neunzig Millionen Kilo Kleie und Ölkuchen gekauft haben? Wir können nicht säen, ohne Saatgut aus dem Auslande zu kaufen; sechzehn Millionen Kilo Saatgut vom Ausland in einem Jahre. Die Frauen, die früher Hühnerzucht betrieben, tun nicht mehr mit, sondern wir kaufen zwanzig Millionen Eier jährlich; eigentlich siebenundzwanzig, aber sieben Millionen haben wir exportiert.« »Nun, und das Getreide?« warf Isak sein Scheit in das angezündete Zollfeuer. »Reden wir nicht davon! Einhundertzweiunddreißig Millionen Kilo Weizen im Jahre, was gebt ihr mir dafür?« »Ich halte die Ausfuhr dagegen,« sagte Isak. »Du kannst nicht einhundertzweiunddreißig Millionen Kilo eingeführten Weizen mit achtzehntausend Kilo ausgeführtem wettmachen, auch wenn du siebenundzwanzig Millionen Kilo ausgeführten Hafer hinzurechnest; außerdem werden noch zweiundneunzig Millionen Kilo Roggen und siebenundzwanzig Millionen Kilo Mais eingeführt. Wovon lebt Schweden?« »Von Holz und Eisen!« »Nein, es gibt kein Bauholz, nicht einmal einen Mastbaum mehr in Norrland, sagen manche; andere behaupten, das sei gelogen; die Antwort hängt von den augenblicklichen Interessen der Wahlkorporation ab; wir exportieren nur Grubenholz und ›Planchettes‹, sagt der Sägemühlenbesitzer, wenn er zur Linken gehört; wenn er zur Rechten gehört, wird das in Abrede gestellt.« »Nun, und das Eisen?« »Wir exportieren Eisen, das ist sicher, aber wir importieren auch; einhundertzweiundsechzig Millionen Kilo Stangeneisen werden ausgeführt, einundzwanzig Millionen aber eingeführt; einundneunzig Millionen Kilo Gußeisen werden ausgeführt, fünfzig Millionen aber eingeführt; und wir haben in einem Jahre fünfundfünfzig Millionen Kilo Eisenbahnschienen vom Ausland gekauft. Wovon lebt Schweden?« »Vom Pump,« antwortete Doktor Borg ohne Besinnen. Isak lachte. »Ja, vom Pump, aber so etwas pflegt mit einem Krach zu enden, wenn die Zinsen nicht bezahlt werden können, und bisweilen endet es mit Gefängnis, wenn man als leichtsinniger Schuldner befunden wird. Man stelle sich vor, wenn ganz Schweden als leichtsinniger Schuldner ins Loch müßte.« »Ja,« erwiderte der Doktor, »das war einmal Arvid Falks Meinung, als er noch auf der Mauer stand und tauben Ohren prophezeite.« »Ein sonderbarer Kerl, dieser Falk, der schließlich mit sich selbst in Streit kam ...« warf Isak ein. »Nein, das kann ich nicht finden,« nahm der Doktor das Wort. »Er experimentierte mit Standpunkten, und als gewissenhafter Experimentator nahm er Kontrollexperimente vor, stellte sich versuchsweise auf die Seite des Gegners, las Gegenkorrektur, prüfte die Zahlen von unten, und wenn das Gegenexperiment negativ ausfiel, kehrte er zu dem erprobten Ausgangspunkt zurück. Das begreift ihr nicht. Falk aber war sich klar darüber, daß er Kierkegaards Methode anwandte. Dieser erdichtete Verfasserpersönlichkeiten und gab sich jedesmal ein neues Pseudonym. Victor Eremita ist ein anderer als Johannes Climacus; Constantin Constantius ist nicht Johannes de Silentio, alle zusammen aber sind Sören Kierkegaard. Falk war ein Vivisektor, der mit seiner eigenen Seele experimentierte, hatte immer offene Wunden, bis er sein Leben für das Wissen, ich will nicht das mißbrauchte Wort Wahrheit anwenden, hingab. Und sollten seine gesammelten Schriften einmal herauskommen, so dürfte nicht ein Wort geändert werden, sondern alle Widersprüche würden sich in dem gemeinsamen Kierkegaardschen Titel lösen: Stadien auf dem Wege des Lebens.« Jetzt plätscherte der Dampfer in die Kirchbucht hinein, und beim Landen mußten die Passagiere, Freunde und Feinde, zusammentreffen. Viertes Kapitel Der Redakteur Redakteur Gustav Borg war in Bergslagen aus adligem Geschlecht geboren. Der Vater war Amtmann und hielt streng auf seinen Adel; erzog seine Söhne in einem gewissen Hochmut, der sie vom Mittelstand isolierte, ohne ihnen Zutritt zu den höheren Schichten zu verschaffen. Die Söhne, Gustav und Henrik, besuchten das Gymnasium in Västeraas und hatten Sprößlinge des Hochadels zu Mitschülern; diese aber wollten sich ihnen nicht nähern; sie taten, als wüßten sie von dem Borgschen Adel nichts. So wuchsen die Amtmannssöhne heran; einfach im Äußern, aber mit Siegelringen am Zeigefinger und Kronen auf dem Rasierzeug, achteten sie auf ihr Benehmen, hielten sich oben, wie man sagt, und waren entschlossen, den Namen durch Kenntnisse und Beförderung zu adeln. Als die Zeit kam, da der Adel »abgeschafft« werden sollte, wurde Gustav Student. Er reiste nach Upsala und wollte sich beim Kurator in die Landsmannschaft einschreiben lassen. Damals stand ein ~nob.~ (~nobilis~) hinter allen adligen Namen im Studentenverzeichnis. Als der Kurator nun Borg in die Matrikel einschrieb, vergaß er, ~nob.~ dahinterzusetzen. Gustav Borg flammte auf und fragte, ob der Kurator ihm sein Erb und Eigen, seine Traditionen und Familienehre rauben wolle. Der Kurator blieb ruhig, fragte aber: »Sind Sie wirklich schwedischer Edelmann?« »Wirklich? Was heißt das? Stehe ich nicht im Adelskalender?« Der Kurator, der selbst adelig war und die Geheimnisse der Zunft kannte, antwortete mit einem Blinzeln: »Ja, im Adelskalender!« »Nun?« fragte Gustav. »Ja, sehen Sie, der Adelskalender ist ein Buch, aber die Ahnentafeln, sehen Sie, das ist ein zweites. Kennen Sie die Ahnentafeln nicht, Anreps Ahnentafeln?« »Nein, ich habe sie nie gesehen, aber es soll ein Skandalbuch sein.« »Wir wollen es einmal anschauen,« antwortete der Kurator und nahm einen Band vom Schreibtisch. -- »Es ist ein merkwürdiges Buch; die Herausgabe wurde vor längerer Zeit begonnen und das letzte Heft ist kürzlich erschienen. Ganz, als wenn das Buch bestellt wäre; und dies Buch wird vielleicht das Ritterhaus schließen, -- jetzt werden wir gleich sehen: B; B--o; Borg: die adelige Familie Borg Nummer 1570. Dahinter steht ein Kreuz, und das bedeutet, daß die Familie ausgestorben ist.« Der junge Student fühlte buchstäblich, wie er starb; und er sank auf einen Stuhl nieder. Aber als er sich erholt hatte, versuchte er nach dem Strohhalm zu greifen: »Dann sind wir adoptiert!« »Adoption gibt es nicht nach schwedischem Gesetz, und Sie sehen wohl ein, mein Herr, wenn man durch Adoption geadelt werden könnte, dann würde sich jeder reiche Großkaufmann für eine Lappalie von einem armen, heruntergekommenen Edelmann adoptieren lassen. Ja, Sie wissen doch, daß man jetzt Ritterhausbestallungen oder Vollmachten verkauft.« Gustav Borg befühlte seinen Siegelring und machte noch einen Ausfall: »Ich kann mir das nicht erklären; mein Vater hat keine Schuld, denn er ist absolut ehrenhaft.« »Das habe ich nicht in Abrede gestellt, aber die Missetaten der Urväter gehen um; und wenn Sie etwas Köstliches sehen wollen, so müssen wir einen von den ärgsten Rednern des Ritterhauses, der für sein Erb und Eigen ficht, aufschlagen. Sehen Sie, hier steht es: die Familie wurde von dem englischen König Karl I. bei seinem Besuch in Dublin 1652 geadelt. Nun wurde bekanntlich Karl I. im Jahre 1649 enthauptet, so daß man seinen Besuch in Irland 1652 als kopflos bezeichnen muß, als noch kopfloser aber die Erhebung eines aufständischen Irländers in den Adelsstand. Sehen Sie, solche Dinge haben unsern Adel verdächtig gemacht, und alle diese ausländischen Geschlechtstafeln besonders sind sehr anrüchig. Ist Ihnen bekannt, was für Ahnen unser Ritterhausheld hat? Ich will Ihnen ein paar von den zweiundvierzig vorlesen, die hier aufgezählt sind. ›Felimlomkdode; King; Ferghis Avrenoudh (König der Schotten); Eochy; Collumium.‹ Was soll mir Collumium! Entweder hat der Abschreiber einen Bock geschossen, oder einer hat sich den Namen ausgedacht. Sie dürfen darüber nicht traurig sein, Herr Borg, denn es ist jetzt beinahe besser, Anderson zu heißen als Gyllensparre; dann schnüffelt keiner die Taufscheine nach und sucht unter den Betten, wie dieser Anrep tut. Können Sie sich vorstellen: ein Galgenstrick von einem Buchdrucker hat ausgerechnet, daß sechzig Familien im unehelichen Bett gezeugt sind oder vom Junggesellensofa herstammen! Und daß die größten Helden unseres Ritterhauses Ausländer sind; daß im Reformministerium Holländer, Deutsche, alle möglichen Landsleute sitzen; und zieht man die mütterlichen Verwandten in Betracht, so ist auch Afrika und Asien dabei. Curry Treffenberg, der komische Patriot, ist Zigeuner; und der Legationssekretär ...sky ist Pole. Demnach brauchen wir nicht traurig zu sein. Ich schreibe also nicht ~nobilis~ oder ~nob.~ hin, wovon übrigens Thackeray das Wort ~snob~ abgeleitet hat!« Das war eine gewaltige Erschütterung für einen jungen Studenten; er warf den Wappenring in die Ecke, fuhr nach Hause zu seinem Vater und schimpfte auf die, die ihm eine falsche Herkunftsbezeichnung mitgegeben hatten. Der Vater wurde für unschuldig befunden, behielt aber seinen Wappenring. Bei einer im Ritterhaus angestellten Untersuchung wurde er auf das Wappenbuch als sichere Quelle verwiesen; und da fand man, daß das Wappen hundert Jahre lang gestrichen gewesen, dann aber wieder eingeschmuggelt worden war. »Die haben natürlich gemogelt,« sagte der Beamte, der an solche Manöver gewöhnt war. Aber Gustav Borg und sein Bruder Henrik gingen mehrere Jahre lang beschämt umher und kamen sich wie Betrüger vor; doch dann rafften sie sich auf und bekamen einen solchen Abscheu vor allem, was falsch war, daß sie sich energisch auf die Seite derer stellten, die ausgangs der sechziger Jahre eine Revision aller alten Pfuscherei in Staat, Kirche und Gesellschaft verlangten. An der Universität zu Upsala ging es mit Gustav Borg wie mit so vielen andern in jener Zeit. Er fühlte sich in Urzeit und Unfreiheit versunken; eine Atmosphäre, die sich von allem, was er erträumt hatte, wesentlich unterschied, ein Druck von oben, der unerträglich war, weil der Ursprung nicht sichtbar wurde. Die Lehrer, die sein Schicksal und seine Zukunft in der Hand hatten, bestimmten, was er denken und fühlen sollte, unter der Tyrannei der Lehrer aber stand die der Kameraden. Studentenkorps hieß ein Tyrann, Landsmannschaft ein anderer. Diese setzten Proklamationen auf, schickten kriechende Telegramme an Größen, die er nicht schätzte, eher im Gegenteil. Die Landsmannschaft wählte Ehrenmitglieder, denen zu unterstehen er nicht für eine Ehre ansah; aber es geschah im Namen der Landsmannschaft, also auch in seinem, gegen seinen Willen. An einem 30. November sollte er die Kluft zwischen sich und den andern spüren. Karl XII. sollte gefeiert werden, und er stand im Studentenkorps und hörte die »sittliche Größe« des Vagabundenkönigs preisen. Es kochte in ihm, und als am Abend die Landsmannschaft einen Kommers veranstaltete, trat er an den Tisch und bat, seine Vorbehalte hinsichtlich der Rede auf Karl XII. vorbringen zu dürfen. Wie er zu Wort kam, begriff er selbst nicht; aber er hatte einen Vollbart und eine gewaltige Gebirglerstimme, die den meist bartlosen Jünglingen imponierte, und er hatte das Gefühl, einem Ruf zu gehorchen, der unwiderstehlich war und deshalb unwiderstehlich wirkte. Er sagte ungefähr das Folgende: »Eine Nation, die ihre großen Erinnerungen pflegt, handelt sicherlich recht; wehe dem aber, der das Unrechte recht und das Böse gut nennt. Ihr habt heute abend einem bösen Manne geopfert, und das ist eine Schande. Die Toten existieren ja nicht, sind Schatten, und über das Nichtvorhandene sollte man nicht sprechen. Man sagt freilich, daß wir in unsern Taten weiterleben; aber ich wüßte unter Karls XII. Taten keine, die ihm ein Scheinleben in unserer Erinnerung geben könnte. Schwedens Zerstörer haben wir heute abend als einen Nationalheiligen gefeiert; ja, ihr wißt so gut wie ich, daß er alle mannbaren Leute im Reiche zugrunde gerichtet hat; ihr wißt so gut wie ich, daß er durch gewissenlose Aushebung Gewerbe und Handel ruinierte und den schwedischen Boden verwahrlosen ließ. Ihr wißt vielleicht nicht, was verwahrloster Boden bedeutet und was Unland ist! Das heißt Unkraut ernten, wo man Roggen gesät hat! -- Aber euer Held -- der nicht mein Held ist -- war der unsittlichste Mensch, der je gelebt hat, denn wer ohne mit der Wimper zu zucken sein Land und sein Volk dem eigenen Ehrgeiz opfert, der ist der Unsittlichste. Wenn einem wie Karl XII. über seine Irrtümer die Augen geöffnet werden, und man erkennt sie nicht und macht sie nicht gut, so ist man unsittlich. Die Schweden sind ein Königsvolk, leider! Griechen und Römer waren es auch, solange sie wilde Völker waren. Der Sklavensinn wünscht zu gehorchen, weil das bequemer ist, deshalb sind die Schweden ein sklavisches Volk. Man hat uns Lakaien genannt und mit Recht!« Hier begann ein Gemurmel im Saal der Landsmannschaft, und das reizte unsern Mann aus den Bergen, so daß er eine Kadenz machte und die Tonart änderte. »Lakaien, ja, denn für einen Schweden ist es das Ideal, Beamter zu werden und Pension zu bekommen, an einer Ecke mit dabei zu sein und zu herrschen, indem man gehorcht, einem Vorgesetzten gehorcht.« Da das Gemurmel in Lärm überging, wurde der Redner noch mehr angefeuert, und da ihm zum Bewußtsein kam, in welchem Milieu er sich befand, verfiel er in einen scherzhaften Ernst. »Damit ihr treue Diener und später Vertrauensmänner des Königs werdet, hat der Staat bekanntlich die Universität errichtet. Ihr wißt ja genau so gut wie ich, daß der Kram, der hier in den vier Fakultäten verhökert wird, nur den einen Zweck hat, uns zu Beamten zu machen, denn ob ich Geistlicher werde, Richter, Lehrer oder Kreisarzt, Beamter bin ich auf jeden Fall. Darüber wäre nun nichts zu sagen, wenn nicht die Quelle der Weisheit so schwer zugänglich wäre. Warum die Weisheit so teuer erkauft werden muß, kann ich nicht verstehen, wenn mir nicht jemand die Erklärung geben wollte, daß Stellungen knapp sind. Ihr wißt ja, wie schwer es ist, eine Stelle zu bekommen; man bewirbt sich nämlich nicht um eine Stelle beim Kammergericht, wie man sich um eine Anstellung in einem Geschäft bewirbt, sondern man wird berufen. Auf diesen Ruf also kommt es an, und der Ruf beruht auf einer Gnadenwahl. Dieser eigentümliche Wahlakt zeigt sich schon beim Examen. Manche guten Köpfe bestehen das Examen nicht, während viele schlechte Köpfe durchkommen. Das ist die Prädestination! Und glaubt mir, alles, was hier in Vorlesungen und Kollegs gelehrt wird, kann man in der Buchhandlung kaufen. Bei einem gut organisierten Buchhandel und angemessenen Examenskommissionen könnte man die Universität schließen, auf der man seine Zeit vertut und seine Nerven durch Trinken ruiniert. Die Universität ist eine Kombination von Kloster, Kneipe und Bordell; die Universität ist eine Schule -- eine Schule für Hoffart, Unterdrückung, Faulheit, Neid, Kriecherei. In dieser Zeit, wo die Stände abgeschafft werden, müßte man auch den Gelehrtenstand streichen. Was ist Gelehrsamkeit? Heute bist du im römischen Recht ungelehrt, morgen aber kaufst du dir in der Buchhandlung ein kleines Buch über römisches Recht, und übermorgen weißt du, was römisches Recht ist. Das ist Gelehrsamkeit, auf die wir so stolz sind. Heute wissen wir nicht, daß Karl XII. den Pfarrer Boëthius ins Irrenhaus bringen ließ, weil er darüber gepredigt hatte, wie gefährlich es sei, einen fünfzehnjährigen Lümmel auf dem Thron zu haben, morgen aber kaufen wir uns eine schwedische Geschichte, und dann wissen wir es. (Seht ihr, ich komme doch wieder zum Thema zurück!) Heute wissen wir nicht, daß Karl XII. geistesgestört war, morgen aber machen wir vom Bücherkredit Gebrauch, und dann wissen wir es! Meine Herren, ich bitte, ein Hoch ausbringen zu dürfen auf einen gut organisierten Buchhandel und einen unbeschränkten Kredit, dann brauchen wir Tage wie den heutigen nicht zu erleben, wo man aus Unkenntnis Schwedens Zerstörer, den Brandstifter, den Großinquisitor, den Falschmünzer Karl XII. in der Eigenschaft feiert, die ihm am meisten fehlt: nämlich in seiner sittlichen Grüße.« Das Resultat war das erwartete. Gustav Borg wurde an der Universität unmöglich. Deshalb besuchte er nie Vorlesungen, sondern verschaffte sich einen Kredit auf Bücher, wählte also seine Lehrer selbst und meistens ausländische, denn schwedische gab es nicht. Jeder Student wußte, daß die Professoren selbst aus dem Auslande schöpften; die größten Lehrbücher waren ja in deutscher Sprache abgefaßt, besonders die medizinischen, theologischen und ästhetischen. Nach dreijährigen freien Studien sah Gustav Borg seinen jüngeren Bruder Henrik die Akademie beziehen. Zwei Brüder aus dem gleichen Hause, aber so verschiedene hatte man selten gesehen. Der ältere blond mit blondem Vollbart, germanischer Typ, der vom Vater herrührte; der Jüngere, schwarz und mit sechzehn Jahren ein ausgewachsener Mann, ein weißer Afrikaner, leitete seine Abstammung unverkennbar von Seite der Mutter her, deren Vater irgend eine Beziehung zu den Tropen gehabt hatte, nach dem, was die Tradition berichtete. Diese Brüder hatten nie am gleichen Strang gezogen. Der Jüngere war von dem Älteren unterdrückt worden; die wenigen Jahre, die sie trennten, konnten im Empfinden des Älteren nie ausgelöscht werden. Er hatte sich von Kindheit an daran gewöhnt, auf den Kleinen herabzublicken, alles zu verachten, was er sagte, ihn als Dummkopf zu behandeln und ähnliches; wie es gewöhnlich in Familien der Fall ist. Jetzt auf der Universität zeigte sich der Unterschied noch krasser. Gustav war Schwede und Bergbewohner, einer von den Urschweden, die auf das Vaterländische hielten, freilich mit Vorbehalten, während Henrik, der Exotische, nicht schwedisch zu fühlen vermochte, und dafür konnte er nichts. Bei einer Diskussion über die Erinnerungen der Vorväter konnte beispielsweise Henrik seinem Bruder die folgende Antwort geben: »Ich finde es für mich ebenso falsch, eure Ahnen zu annektieren, wie unser Adel falsch war. Mein schwarzer Urgroßvater tanzte am Äquator um ein Zimtfeuer, und er hätte unmöglich Karl XII. feiern können, ebensowenig wie ein Schone mit Leib und Seele an einem Gustav Adolf-Fest teilnehmen kann, weil Schonen zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges dänisch war.« Die Antwort des Bruders blieb nicht aus, und sie war die stehende: Lützen. »Warum feiern wir unsere Niederlage und unsere Schande?« wendete dann Henrik ein. »Euer König (er sagte nie unser) fiel bei Lützen, und die Katholiken feierten den Sieg; das Spiel ist doch gewonnen, wenn der König matt ist, Wallenstein aber war nicht geschlagen. Nach Lützen erneuerten die Schweden das Bündnis mit dem Kardinal Richelieu und riefen französische Truppen nach Deutschland. Deshalb wurde der schwedische Name von den Deutschen nach Lützen verflucht. Wenn man sich vorstellt: eine französische Invasion zu veranlassen; den Erbfeind, den Gallier, in das Land zu ziehen, das doch unser Freund sein sollte! Deshalb empört es mich, eure Vergötterung des rohen Vagabunden Banér zu sehen, der Sachsen verheerte und Böhmen brandschatzte, hauptsächlich aber wegen seiner Rückzüge berühmt ist.« Da flammte Gustav auf. Karl XII. hatte er heruntergerissen; aber an Gustav Adolf und Johan Banér durfte man nicht rühren. »Bist du ein Schwede?« schrie er. »Nein, ich bin Weltbürger!« brüllte Henrik. Gustav nahm ein Wredesches Gewehr von der Wand und Henrik zog einen Hochland-Dragoner-Säbel blank -- und dann schämten sie sich und schlossen Frieden bis zum nächsten Mal, das bald genug kam. Aber es gab andere und tiefere Differenzen. Gustav arbeitete an der Erneuerung des Alten, Henrik aber wirkte für die Zukunft. »Das heutige Alte ist so morsch, daß man es nirgends anpacken kann. Diese ganze Wirtschaft mit Monarchie und Zubehör ist ja nur eine Gnadenfrist für das ~ancien régime~; es wird von selbst vermodern und Streu bilden, in der das neue wachsen kann; es kann sich nicht erneuern, deshalb lebt es von Korruption: Orden, Akademien, Ämter, Beförderung. Wir, die wir die Erben der Revolution sind, haben an anderes zu denken, und wir betrachten dies nur, wie die Ärzte die Prostitution betrachten: als etwas, was man einstweilen nicht ändern kann, sondern was geduldet werden muß -- eine ~Maison de tolérance, enfin~!« Henrik war gleichsam auf die Welt gekommen mit dieser Vorstellung, daß die Gesellschaft neu geboren werden müsse und daß dies unmerklich unter einer alten Staatsform geschehen könne, die schließlich, untergraben, von selbst in Asche fallen würde. Die Brüder rieben sich, bis sie die Akademie verließen, der ältere ohne Examen, um Journalist zu werden, der jüngere mit dem Staatsexamen als Arzt. * * * * * Gustav Borg gründete eine Zeitung in der Hauptstadt, und sein Bruder Henrik beteiligte sich. Sie hatten ihren Vater beerbt und das Vermögen in einer Druckerei angelegt. Henrik aber vermehrte sein Kapital durch Sparsamkeit und Umsicht, so daß ihm schließlich der größte Teil der Zeitung gehörte. Die Brüder zankten sich, hielten jedoch zusammen. Sie verheirateten sich, bekamen Kinder, neue Zankäpfel. Schließlich wurde die Spannung im Laufe der Jahre so stark, daß ein Bruch kommen mußte. Und jetzt war er gekommen. * * * * * Die zoologische Weltanschauung oder die Veterinärphilosophie der achtziger Jahre hatte die Gemüter nicht gerade verfeinert, aber das konnte man auch nicht verlangen; und etwas Verwilderung dann und wann ist nur Ruhe. Die Schlagworte waren: Kampf, Kampf um alles; nimm dir, keiner ladet ein; sei frech, dann kommst du vorwärts! Die Alten, die es anders gelernt hatten, nämlich, daß den Sanftmütigen das Erdreich gehören solle, waren anfangs verzagt; dann amerikanisierten sie sich ebenfalls und nahmen den Kampf auf, so daß die ganze Gesellschaft sich als zwei befestigte Lager darstellte mit der gemeinsamen Losung: alle Mittel sind erlaubt! Alle Hilfstruppen waren gut, und wenn die Männer jetzt kämpften, waren sie unvorsichtig genug, ihre Frauen auch hinten auf den Streitwagen zu setzen; zuerst hinten, dann vorn, denn mit der Tiertheorie kam die abergläubische Furcht vor dem Weibchen, die allen Tieren eigen ist. Was bei den Alten traditionelle Ritterlichkeit war, Ehrfurcht vor Gattin und Mutter, ein freiwilliges Opfer eines christlichen Gemüts, wurde hier menschliches Recht, das heißt theoretischer Unsinn. Feige Männer krochen hinter ihre Frauen, schoben ihre Weiber vor; sie benutzten die Frauen gegenseitig als Stichwaffen und Dynamit; und mancher starke Mann, der selbst unüberwindlich war, wurde gerade in seiner festen Burg, der Familie, in die Luft gesprengt. Der Feind hetzte Frau und Kinder auf, und dann war die Festung verraten. Es war kein reinlicher Kampf, aber er kehrte die alten Begriffe von der Ehe als einer lebenslänglichen Verpflichtung um, er gab Umsatz und Bewegung; eine heilsame Unsicherheit, die den Einzelnen kurz hielt, immer wach, auf seiner Hut; ständige Erneuerung in einem unaufhaltsamen Vorwärts. * * * * * Doktor Henrik Borg hatte sich mit einer norwegischen Dame vom Noratyp verheiratet; die falsche Märtyrin, die hysterische Närrin, die nie existiert hatte, bevor sie in einem atrophischen Manneshirn erstand, als es sich mit Frauen und Kindern auf gleichem Niveau zu fühlen begann. Aber sie war auch aus all dem Jux zusammengesetzt, der damals von den norwegischen Volkshochschulen in die Welt geschickt wurde; sie glaubte zum Beispiel einer jungen Nation voll liebenswürdiger Jugendfehler anzugehören. Darunter verstand man die norwegische Nation, die uralt ist, älter als die schwedische, so alt, daß Schwedens Geschichte in den norwegischen Königssagen ihren Anfang nimmt. Sie hatte die Boheme von Kristiania durchgemacht, und das war ihre Sache; in ihrer Torheit aber schwärmte sie zugleich für Svava, das Handschuhweib. Jetzt wollte sie reine Jünglinge haben, und ihr erster Vorwurf gegen den Doktor war, daß er nicht rein sei. »Das warst du aber auch nicht,« antwortete der ungeschminkte Doktor. Als da die Frau nur mit einer Miene antwortete, die bedeuten konnte: Ich? das ist etwas anderes! begriff er, daß es sich hier nicht um Gleichheit handelte, sondern um Tyrannei, und als Tyrannenhasser zog er das Schwert. Mit einem unlenksamen Menschen, der für Gründe, Tatsachen und Logik unempfänglich ist, kann man nicht lange kämpfen; ein wertloses Schlachtfeld gibt man auf, und mit einem Unbewaffneten läßt man sich nicht ein. Aber er blieb bis auf weiteres in der Schlangengrube, um der Kinder willen, und wartete den Augenblick ab, da er sicher sein würde, daß die Kinder ihn nicht vermißten, wenn er ging. Es war ein eigentümlicher Zug der Männer dieser Zeit, daß ihre Gefühle für die Kinder stärker waren als die der Mütter, die die gesunden Instinkte verloren zu haben schienen und das Leben außer dem Hause aufsuchten, während die Männer noch für das häusliche Leben schwärmten. In einem berühmten Scheidungsprozeß wurde von seiten des Mannes gegen die Frau die ungewöhnliche Beschuldigung erhoben, er müsse abends allein zu Hause sitzen, während die Frau mit seinen Freunden im Wirtshaus sei. Das freche und einfältige Weib wagte einzuwenden, der Mann lasse sie allein sitzen (im Wirtshaus), deshalb müsse er die Folgen tragen. Doktor Borg stand allein in seinem Kampf; und er versuchte gerade aus der in Mode gekommenen neuen Weltanschauung seinen Freunden zu beweisen, daß sie, wenn sie konsequent seien, gegen die Geschlechtsverwechselung Front machen müßten. Er versuchte es mit der durch die ganze Natur gehenden Arbeitsteilung, die zu Kraftersparnis und Vollkommenheit führt. »Dem Manne Kraft und Außenarbeit; der Frau Schönheit und Innenbeschäftigung! Je größer der Unterschied des Geschlechts ist, desto besser die Nachkommen (Differenzierungsgesetz).« Aber es ging nicht; auch die stärksten Naturalisten konnten »im Geschlecht keinen Unterschied sehen«. Und sie starteten eine weibliche Größe nach der anderen; sie fanden eine Seligkeit darin, ihre Unterlegenheit unter die Frau kundzutun. »Das ist Päderastie oder Selbstbefleckung,« pflegte der Doktor dann aufzubrausen. »Ihr habt ja alles Selbstgefühl als Männer verloren, wenn ihr euch unterlegen fühlt; und wenn ihr eure Inferiorität empfindet, so seid ihr wohl auch inferior!« Seltsam war es, aber ein Teil von den führenden Männern war pervers; viele wurden freilich verleumdet, aber eine Anzahl war es notorisch, ebenso wie viele bekannte Frauen verdächtig oder überführt waren. Nun wurde der Doktor natürlich als Frauenhasser bezeichnet. Das focht ihn nicht an, denn er wußte, daß es Lüge war. Und er konnte antworten: »Ich bin nicht Kinderhasser, weil ich die Unterordnung des Kindes unter die Frau erkenne, und ich bin nicht Frauenhasser, weil mir das rudimentäre Dasein der Frau zum Bewußtsein gekommen ist. Aber ihr könnt nicht beobachten und nicht denken. Ihr seid Afterdenker, denen die Hemmungszentren zwischen Großhirn und Kleinhirn fehlen ...« Doch er hatte das Pulver im eigenen Keller und sollte jetzt in die Luft gesprengt werden; das Attentat war von seinem eigenen Bruder, dem Redakteur, geplant. Da Doktor Borg ein gerechter Mann war, hatte er, wie wir wissen, die Norweger in ihren gerechten Freiheitsbestrebungen verteidigt und war infolgedessen von der Rechten als Norwegerfreund bezeichnet worden; da er aber mit seiner Frau, die Norwegerin war, unglücklich lebte, wurde er gegen seinen Willen von der Linken zum Norwegerhasser gestempelt. Er haßte seine böse, dumme Frau; sie war Norwegerin, ergo war er Norwegerhasser. Diese einfältige Schlußfolgerung leuchtete den weichen Hirnen der Parteimänner ein, und sie genügte, ihn in den Verdacht zu bringen, die »Fahne verlassen zu haben«! Daß er den Weiberwahnsinn nicht mitmachte, reichte aus, ihn zum Konservativen zu stempeln. »Er ist im Grunde ein konservativer T...el,« war Gustavs Ultimatum. Aber da dem Bärenpelz nichts anzuhaben war, versuchte er es mit dem Schürzenweg. Am Tage nach seiner Absetzung machte er nämlich seiner Schwägerin, Frau Dagmar, einen Besuch. Mit einem schönen Namen vereinigte diese eine angeborene Schönheit, die sie nach Kräften verbarg und entstellte. Das herrliche Haar hatte sie abgeschnitten, um nicht daran erinnert zu werden, daß sie Sklavin sei (der Doktor hatte dagegen gelernt, daß langes Haar das Zeichen des freien Mannes war und daß alle Gefangenen geschoren wurden); einen schönen Hals versteckte sie unter Vatermördern, um zu vergessen, daß sie Weib war; ihre kleinen Füße verbarg sie in zu großen Schmierlederschuhen, die sich in Falten legten, so daß sich die Füße wund rieben; alles, was häßlich war, hatte sie für ihre Toilette zusammengesucht, alles, was schlecht aussah, in ihrem Heim gesammelt; die Bosheit grinste von jedem Möbelstück, aus den Farben der Gardinen und den Zieraten. Man sah den Trotz gegen den Mann, dessen Schönheitssinn bekannt war, und man verstand, daß die ganze Dekoration der bestimmten Absicht entsprang, den guten Geschmack des Mannes zu verletzen. Sie wolle ihre Unabhängigkeit zeigen, sagte sie, wenn sie ihre Abhängigkeit von ihrer Bosheit an den Tag legte. Der Schwager Gustav wurde in einem unaufgeräumten Zimmer empfangen. Er sah sofort an zwei kleinen Gläsern mit Resten, daß Damenbesuch dagewesen war. Da er mit der Rolle und der Situation vollkommen vertraut war, wußte er, daß es hier keinen Sinn hatte, mit Artigkeiten zu beginnen, am wenigsten in Bezug auf Aussehen und Kleidung, weil das eine »Beschimpfung ihres Geschlechts« gewesen wäre. Die Schwägerin hatte Gustav nie gemocht, aber im selben Augenblick, als er ihres Mannes Feind wurde, liebte sie ihn. Deshalb nahm das Gespräch sofort einen äußerst freundschaftlichen Charakter an. »Nun, Dagmar,« begann also der Schwager, »dein Mann läßt sich als Reichstagskandidat der liberalen Partei aufstellen.« »Ist er liberal?« unterbrach Frau Dagmar sofort, der die Antwort in den Mund gelegt war, ohne daß sie es merkte. »Ja, man kann ihn wohl immerhin so nennen,« antwortete der durchtriebene Schwager. »Nennen, ja! Aber er ist doch konservativ ...« »Du meinst in gewissen Fragen?« »Ja, das meine ich; in der Frauenfrage ist er Reaktionär und müßte bekämpft werden. Außerdem ist er Norwegerhasser!« »Aber nein,« reizte Gustav; »er ist doch mit dir verheiratet!« »Ja, eben deshalb kann ich ihn ja beurteilen! Er nennt Ibsen einen Tropf und Björnson ein altes Weib. Ist er da nicht Norwegerhasser?« »Das kann doch nicht sein Ernst sein?« »Hat er nicht auf Lage Langs Fest die Norweger ein verteufeltes Volk genannt und seine Frau beschimpft? Aber ich bin schon beim Rechtsanwalt gewesen ...« Jetzt hellte sich Gustav Borgs Gesicht auf; denn der Zweck seines Besuchs war, zu erfahren, wie weit die Sache gediehen sei. »Warum wollt ihr euch scheiden lassen?« erwiderte der Schwager mit der ganzen Teilnahme eines älteren Bruders. -- »Denke an die Kinder!« »Für die werde ich schon sorgen!« »Bist du überzeugt, daß er auf sie verzichtet?« »Ich nehme sie!« antwortete die Frau mit einer Bestimmtheit, die keine friedliche Lösung der Frage verhieß. »Du nimmst sie nicht, denn das Gericht urteilt, nachdem es beide Parteien gehört hat.« »Das Gericht hat mit meinen Kindern nichts zu schaffen!« schrie Frau Dagmar. »Doch, meine Liebe; und was dein Mann gegen deine Qualifikation als Mutter anführen kann, wird sehr mitsprechen; denn er ist Arzt und als glaubwürdige Persönlichkeit bekannt.« »Er? Der größte Lügner, den es auf der Erde gibt!« Jetzt war die Lunte angezündet, und mehr verlangte Gustav Borg nicht. Er wollte aber doch die Flamme noch etwas anblasen, bevor er ging. »Überlege dir, was du tust, meine Liebe! Eine Scheidung in diesem Augenblick würde seine Chancen als Reichstagskandidat zerstören, und das willst du doch nicht; besonders würde er die Frauen gegen sich haben, und du weißt, wie die Liberalen von ihren Frauen beherrscht werden.« »Das eben weiß ich, und deshalb werde ich ihn in der Frauenzeitung bekämpfen lassen!« Punktum! Jetzt brannte es lichterloh, und Gustav konnte gehen. Aber ehe er ging, deutete er auf die kleinen Gläser und sagte freundlich und vertraulich: »Laß so etwas nicht herumstehen, Dagmar; das kann im Prozeß gegen dich sprechen!« »Trinkt er nicht auch?« sprühte Frau Borg. »Doch, mein Kind! Aber nicht vormittags!« Damit war dieses Zusammensein beendet. * * * * * Unterdes aber fand zu Hause beim Redakteur eine andere Zusammenkunft statt. Kampf war auf allen Punkten, doch in dem damaligen Kampf um die Macht galt es, festzusetzen, was Liberalismus sei. Da alle in Entwickelungstheorien lebten, ging der Ehrgeiz dahin, an der Entwickelung teilzunehmen, sie zu fördern. Infolgedessen kämpfte man um die Chance, entscheiden zu dürfen, was Entwickelung sei. Einige glaubten, Entwickelung sei alles, was vorwärts drängte; als man aber alte Schäden und Krankheiten mit entsetzlicher Geschwindigkeit sich entwickeln sah, wurde man etwas zaghaft; und schließlich entdeckte man, daß Entwickelung nur Fortschritt an Menschlichkeit, zu Schönheit und Glück bedeuten konnte, durch Recht und Billigkeit gefördert. In Parteikämpfen aber gilt keine Vernunft; man hißt die Flagge und sagt: jetzt bist du der Feind! Doktor Borg, der Vernunft annahm, sollte um seiner Vernunft willen fallen. Als die Norweger 1885 in ihren heiligsten Rechten gekränkt wurden, hatte der Doktor unerschrocken ihre Partei ergriffen. Wie aber die Gefahr vorüber war und sie sich selbst helfen konnten, und zwar in dem Maße, daß sie mit Krieg drohten, hielt er weiteren Beistand für überflüssig; und da er schwedischer Untertan war, fand er es unrichtig, mit dem Feind zu gehen. Obwohl er in seiner Familie von der Frau nie etwas anderes hörte als norwegische Bauernprahlerei vom Morgen bis zum Abend, hörte, wie dumm und unbegabt die Schweden seien, wurde er doch nicht müde, dem recht zu geben, der recht hatte. Aber diese schwedische Ritterlichkeit, die sich auch in demonstrativen Huldigungen vor norwegischen Größen äußerte, wurde nirgends verstanden, und man erlebte sogar, daß norwegische Zeitungen die Schweden verhöhnten, weil die Künstler Lage Lang gefeiert hatten. »Der feige Schwede«, hieß es, »der Schwede kriecht«, »Norwegen übernimmt die Führung« und so weiter. Solange das Unwahrheit war, wirkte es nicht auf den Doktor; als aber eines Tages die Kriecherei Wirklichkeit wurde, als die neidischen, niedriggesinnten Schweden, besonders die alten Weiber, systematisch alles Norwegische in den Himmel zu heben begannen, auch das Mittelmäßige, auf Kosten ihres Eigenen, und in der bestimmten Absicht, das Eigene herabzusetzen, da sagte er: Halt! Doch da fiel er und wurde Norwegerhasser genannt. Mit seinem Familienfrieden war es aus, und seine Reichstagskandidatur war in Gefahr. Sein Bruder Gustav, von Natur Großschwede und im Herzen den Norwegern feindlich gesinnt, ließ sich trotzdem von Politik, Interessen und Leidenschaften bestimmen und nutzte deshalb die norwegische Frage gegen seinen Bruder aus. Diese falsche Taktik reizte den ehrlichen Doktor, und er begab sich mitten in die Festung des Bruders, um ihn in die Luft zu sprengen. Er machte Frau Brita seinen Besuch, während Gustav bei Frau Dagmar operierte. Frau Brita saß in ihrer Villa; sie nannte sie ihre Villa, weil sie Geld mit in die Ehe gebracht hatte, Gustav aber nannte sie »unsere Villa«, weil zwischen den Ehegatten nach dem Gesetz Gütergemeinschaft bestand. Es war ein großes Holzhaus mit fünfzehn Zimmern und zwei Küchen. In der einen Küche hatte Brita ihren Schreibraum, wo sie ihre Vorträge, ihre Artikel, ihre Briefe schrieb, der einzige Ort, wo sie vor ihren vielen Kindern Ruhe fand; sie hatte sieben. Mit ihrer unglaublichen Gutmütigkeit empfing sie den Schwager Henrik trotz seinen brutalen Reden auf der Dampferfahrt. »Hör einmal, Altchen,« begann er, »wenn ich dir sage, daß wir Gustav neutralisieren müssen, so bedeutet das nicht, daß ich mit dir einen Kompromiß schließen will.« »Was hat er denn jetzt vor?« »Ja, erstens arbeitet er gegen die Zeitung, zweitens will er meine Kandidatur hindern, und drittens spekuliert er mit eurem Geld an der Börse.« »Mit meinem Geld?« »Nein, mit eurem; aber das ist ebenso tadelnswert!« »Spielt er an der Börse?« »Ja, die alten Kuckucke haben was gelernt!« »Wie soll ich das hindern?« »Du mußt dich scheiden lassen!« »Ist das dein Ernst?« »Ja, das ist es. Eure Ehe hat ihre Rolle ausgespielt, und ihr sollt nicht zusammen vermodern; die Jungen sind flügge, und das Nest sieht nicht mehr gemütlich aus.« »Wie du redest!« »Ja, so rede ich! Ihr seid schon längst keine Ehegatten mehr, und jetzt handelt es sich darum, daß die Kinder leben und atmen können. Der Vater hat das seine getan; jetzt bedrückt er nur, unterdrückt, hindert, erstickt! Weg mit ihm!« »Und du bist selbst Vater!« »Ja; eben deshalb weiß ich ...« »Spekuliert er an der Börse?« »In Kaffee und Zucker!« »So? In Kaffee und Zucker? -- Wirklich?« Hier machte Frau Brita eine Pause; und da sie schnell im Denken war, konnte sie in dieser Pause einen Entschluß fassen. Sie stand auf und trat an einen unbenutzten Eisschrank, in dem sie wichtige Papiere aufbewahrte. Sie suchte, und als sie gefunden hatte, nahm sie den Faden des Gesprächs wieder auf. »Ich habe freilich keinen Ehekontrakt; aber ich habe etwas anderes, ich habe Briefe.« »Hüte dich vor Briefen, Brita; vor Gericht schwindeln sie sich von Briefen ab; sie sagen entweder, sie hätten sie nicht geschrieben, oder es sei nicht so gemeint, es sei nur Scherz gewesen. Nein, du mußt ein Faktum haben, am besten ein ~Delictum flagrans~.« »Was ist das?« »Das ist die verbrecherische Handlung, begangen in Anwesenheit zweier felsenfester Zeugen.« »Nein, das will ich nicht!« »Nicht heute, aber wenn du die Ereignisse sich entwickeln läßt, willst du vielleicht später.« »Ich habe ein Auge zugedrückt, ich habe verziehen; man kann sogar sagen, ich hätte meine Zustimmung gegeben, aber wenn es sich um meine Kinder handelt, um ihr Erbe und ihre Zukunft, dann ist nicht mit mir zu spaßen. Übrigens, man könnte glauben, er spare zu -- einer neuen Ehe mit ihr.« »Da deine Gedanken diese Richtung nehmen, so halte die Augen offen und unterschreibe vor allem keine Schriftstücke, die er dir vorlegt! Du weißt, ich bin kein blinder Anhänger von euch Frauen; aber recht muß recht bleiben!« »Du hassest deinen Bruder?« »Das ist wohl etwas zuviel gesagt, aber ich wappne mich gegen einen furchtbaren Feind ... Übrigens: weißt du von Gustavs Kontrakt mit Holger?« »Ja, Holger muß eine große jährliche Pacht an Gustav für Zeitung und Druckerei zahlen.« »Weißt du, wie groß?« »Nein!« »Nun, sie ist so groß, daß er sich infolgedessen nicht über Wasser halten kann.« »Hat Holger denn keine Handhabe gegen ihn?« »Doch, er hat seine amerikanische Frechheit!« »Wie soll es denn gehen?« »Wir werden ihm helfen,« antwortete der Doktor und reichte der Schwägerin die Hand. »Denn jetzt gilt es Kampf auf Leben und Tod!« »Willst du nicht zum Mittagessen bleiben?« fragte Frau Brita; »ich weiß allerdings nicht, was es gibt, denn ich kümmere mich nicht um die Wirtschaft.« »Nein, danke, mein Kind, ich kann nicht mit dem Mann zu Tisch sitzen, der eben jetzt in mein Haus eingedrungen ist, um mich zu morden.« »Ist er bei dir?« »Ja, er scheut keine Mittel; was für welche er jetzt angewendet hat, werde ich erfahren, wenn ich nach Hause komme. Leb wohl, Brita.« Fünftes Kapitel König Lear und der Pater Der frühere Redakteur hatte sich in sein Schicksal gefunden, lebte auf dem Lande und schrieb hier seine Artikel. Jetzt eines Sommermorgens saß er auf seiner Veranda und wartete auf die Zeitung, um seinen letzten Leitartikel zu lesen. Es war ein durchtriebenes Stück, von dem er viel Effekt erhoffte; er handelte von dem liberalen Programm, auf das die Kandidaten bei den Wahlversammlungen schwören sollten, und der geheime Hintergedanke war, Bruder Henrik als Konservativen hinzustellen. Das war der Schuß in die Wasserlinie, der das Schlachtschiff zum Sinken bringen sollte. Gustav saß da und genoß es im Geist, hörte seine giftigen Worte im Ohr, sah vor Augen, wie der Bruder die Zeitung öffnete, um seinen Artikel zu suchen und den des andern fand, der ihn wie eine Rakete mitten ins Gesicht traf. Er genoß das in Gedanken so sehr, daß er lächelte, drehte eine Fünfzehnpfennigzigarre wollüstig im Mundwinkel, steckte viele Streichhölzer an und schnaubte. Schließlich kam die Zeitung. Er stand auf und nahm eine Fechterpositur an, während er die Zeitung entfaltete und umschlug, um seinen Leckerbissen auf der zweiten Seite zu lesen. Da stand er nicht! Er suchte auf der dritten Seite. Da stand er auch nicht. Mit der zusammengeknüllten Zeitung stürzte er ans Telephon und rief die Redaktion an. Der Sohn Holger saß am Apparat und nahm den Stoß entgegen: »Warum steht mein Artikel nicht in der Zeitung?« fragte der Vater mit zischender Stimme. »Nein, wir konnten ihn nicht drucken,« antwortete der Sohn. »Aber ich habe ihn gesetzt gesehen, habe Korrektur davon gelesen, und ...« »Wir können solchen Unsinn nicht drucken!« antwortete der Sohn wieder. Da erlosch die Stimme des Vaters; er versuchte zu brüllen, blieb aber stumm. Und stumm ging er vom Telephon weg, nahm Hut und Stock, um sich in den Wald zu begeben. Als er an Britas Küchenfenster vorbeiging, sah er sie mit der Zeitung in der einen und der Feder in der andern Hand dasitzen; sie schrieb, schrieb gegen ihn, ihren Mann, während ihm bei der Selbstverteidigung der Sohn die Feder aus der Hand gerissen hatte. Er schrumpfte zusammen, er war vernichtet. Ihm, der diese Zeitung begründet, sie zu einer Machtstellung und Vermögensquelle emporgeschrieben hatte, wurde verweigert, darin zu schreiben, von seinem eigenen Sohn. Und er dachte an König Lear, an den Mann mit dem Altenteil, an den Abgesetzten. Er begann zu wandern, auf die Äcker hinaus, durch Hage und Wiesen. Was nützte es, lange zu leben und zu lernen, wenn schließlich die Erfahrungen doch nicht taugten? Als er jung war, bekam er stets zu hören, die Weisheit komme erst mit den Jahren, nach den vielen Jahren in der Schule des Lebens. Er hatte eine Schule durchgemacht; er hatte all dies, was jetzt war, entstehen sehen, deshalb Verstand er es besser als die andern, meinte er; und trotzdem wurde er beiseite geworfen wie ein abgenutzter Besen, wurde behandelt wie ein alter Idiot. Als er sich in Schweiß gelaufen hatte, ward er ruhiger, und stieg auf einen Berg, von dem er über das Meer in der Ferne hinblicken konnte. Das kühlte ihn ab, und das Unendliche, Bewegliche da draußen gab ihm Kraft. Er setzte sich auf den Felsen und dachte über sein Schicksal nach. Er konnte noch dreißig Jahre, ein ganzes Menschenalter leben; er fühlte Kräfte, den Kampf aufzunehmen, ihn auszuhalten, im Notfall zu warten, bis die Feinde ihre Kräfte in einer fruchtlosen Jagd nach dem blauen Nichts erschöpft haben und früh verbraucht sein würden, besonders da sie nicht zu sparen und sich zu erneuen verstanden. In zehn Jahren, sagte er sich, ist eine neue Jugend herangewachsen mit neuen Idealen, nüchterne Wirklichkeitsstreber, die ihn besser verstehen und ihrerseits diese Utopisten absetzen würden, die jetzt mit ihren Ideen eines sozialistischen Staates grassierten, Theorien, die er in seiner Jugend auch erprobt und dann kassiert hatte. Diese jungen Leute glaubten ihm voraus zu sein, und sie waren doch so weit in der Zeit zurück wie die dreißiger und vierziger Jahre. Er hatte kürzlich die französische Revolution gefeiert und sich in seiner Rede für einen Sohn des Konvents erklärt, den Traditionen treu, unversöhnlich gegen die Monarchie, Republikaner im Leben wie im Tode. Und jetzt stempelten sie ihn zum Konservativen! Ein konservativer Revolutionär und Königsmörder! Das war Unsinn! Aber es war ein Mischmasch, in dem man lebte, ein Farbenkreisel, auf dem alle Farben des Regenbogens sich zu einem weißen Ton mischten; alle Ströme und Gegenströme waren ins Meer geflossen und hatten da Hals über Kopf ihre Wasser vermischt. Dem Sozialismus, der eigentlich Christentum war, wurde von den Atheisten gehuldigt, und die Christen waren kapitalistische Egoisten; die Bauern waren Royalisten, schwächten aber die Königsmacht; die Royalisten spielten Liberale und der Monarch war Freihändler, freikirchlich und wurde für freisinnig gehalten. Das war eine babylonische Verwirrung, die Auflösung aller älteren Begriffe. Die Anarchisten waren Aristokraten; die Freisinnigen arbeiteten auf der Basis der Ungerechtigkeit für die Frauentyrannei und für das Recht des Freihandels, die eigenen Erwerbszweige zu ersticken; die Schutzzöllner wollten den heimischen Erwerbszweigen helfen, aber die eigenen Landsleute zwingen, teuer und schlecht zu kaufen. Es war ein kompliziertes Gericht, aus dem das meiste verdunsten mußte, bis schließlich der kleine Bodensatz einer festeren Substanz zurückblieb, der als Nährstoff tauglich war. Möglicherweise wohnte man hier einem konstanten Moment der Entwicklung bei, das an die Diffusion der Gase erinnerte, bei der alles sich gegenseitig durchdringt; oder ging jetzt die Synthese der besten Stoffe aus allen Analysen vor sich? die ungleichartigen Kräfte setzten an vielen Punkten an, und der Stein bewegte sich schließlich? Vielleicht war das, was geschah, richtig; vielleicht würde sich dieser Bodensatz später wieder auflösen, und ein neues, großes Zusammenarbeiten der Kräfte durch neue Kämpfe zustande kommen, so daß auch der Geringste am Fortschritt teilgenommen hätte und die siegende Meinung eine von allen zusammengeschossene Summe wäre, da sie eine Legierung edler und unedler Metalle darstellte. Dies wäre gerecht wie Gott selbst, und nur ehrgeizige Parteihäupter könnten sich darüber grämen. Während dieser Betrachtungen hatten seine Blicke auf einigen graubraunen Schären weit draußen im Meer geruht. Er hatte trotz seiner Kurzsichtigkeit sie etwas ungewöhnlich in der Form gefunden und sie nicht erkannt, er, der doch alle Schären hier draußen kannte. Da -- gerade jetzt -- begannen sie sich zu bewegen, in dem unheimlichen Farbton von Nachtfaltern -- mit der unverkennbaren Absicht, sich unsichtbar zu machen. Zugleich stiegen drei Rauchsäulen zum Himmel auf, und er begriff: das war das französische Geschwader, das von Kronstadt kam und nach Stockholm steuerte. Die Trikoloren wurden gehißt, und das Herz des alten Revolutionsmannes klopfte; denn die deutsche Politik, die die schwedische Regierung nach Sedan eingeschlagen hatte, war nicht erfreulich gewesen und hatte einen Beigeschmack von Unterwerfung gehabt, hatte ausgesehen, als ließe man einen Bedrängten im Stich. Frankreich hatte sich jetzt aus den Fesseln der Isolierung befreit und war wieder unter die Großmächte Europas getreten, um am Ende des Jahrhunderts zu den europäischen Mächten zu gehören, die die Erde unter sich teilen wollten. Frankreichs Auferstehung, das bedeutete wieder Vorwärtsbewegung, denn von dem französischen Motor wurde stets Kraft auf die andern Nationen hinübergeleitet, sobald Leitungen vorhanden waren. Das Dreikaiserbündnis war aufgelöst, und die stärksten Gegensätze, das Zarenreich und die Republik Europas, sollten im fernen Osten ausgleichen, was die Suprematie Englands in Ägypten und im Mittelmeer zu erschüttern gedroht hatte. Froh und aufgerichtet erhob er sich und wendete sich heimwärts, nahm jetzt aber den Weg rechts über die Pfarräcker. Er hatte ein Bedürfnis, einen Menschen zu treffen und die unangenehmen Eindrücke des Morgens wegzuplaudern. Bald tauchte das Pfarrhaus zwischen den Linden auf; ein unerhört rotes, zweistöckiges Holzhaus; hervorgegangen aus einer schwedischen Bauernhütte, war es von Scheune und Viehstall flankiert. Als nun der Redakteur zuerst in den Vorbau des Wohnhauses trat und in der Türöffnung von Phylax empfangen wurde, der zur Begrüßung seine Pfoten an dem Anzug des Besuchers abwischte, wurde ihm von einem Dienstboten mitgeteilt, der Herr Pastor sei im Stall und melke Probe. Er begab sich also an Ort und Stelle, wo er seinen Schwager in voller Tätigkeit fand. Mit Käppchen und einem sonnenverschossenen Überzieher bekleidet, saß dieser da, führte das Milchjournal und hatte ein geleertes Frühstückstablett hinter sich am Fenster stehen. Gustav Borg scherzte gern über des Schwagers Seelsorge in Viehstall und Meierei, heute aber war er nicht dazu aufgelegt, denn er wollte ihn für sich gewinnen, und der Pastor entwaffnete ihn außerdem durch einen Blick, der um Schonung im Beisein der Knechte bat. »Wir haben seit vier Uhr früh gearbeitet, deshalb hab ich etwas essen müssen!« Damit wollte er den Ausfall gegen das Frühstückstablett parieren, das mit Bier- und Branntweinflasche versehen war. »Ich wollte dir nur guten Tag sagen!« antwortete der Schwager und sah nicht nach dem Tablett hin. »Wir sind gerade fertig. Warte einen Augenblick, dann komme ich mit dir!« Gustav wartete und sah sich die hundert fetten Rinder an, die kauten und mit den Schwänzen schlugen. Der Pastor summierte die Liter und war von dem Resultat befriedigt, obwohl er sich wunderte, daß das Probemelken unter Aufsicht stets ein besseres Resultat ergab als das tägliche Melken. »Siehst du, das ist das Auge des Herrn!« sagte er. »Wenn man sich nicht um das Seine kümmert, so weiß man, wie es geht. Und die Erde gibt nur dem Eigentümer selbst. Würde ich dies hier verpachten, so bekäme ich nie die Pacht zu sehen. Der Pächter klagt immer, und wenn es ans Bezahlen geht, schickt er Frau und Kinder, die ihn von der Pachtsumme freiweinen sollen. Nein, ›Selbst‹ ist der beste Knecht. Jetzt wollen wir nur einmal in die Meierei hineinschauen. Hast du meine neue Zentrifuge gesehen? Es ist eine Pracht, wie diese Turbine arbeitet!« Er öffnete eine Tür im Hintergrunde, und sie waren in der Meierei. »Hier wird Gold gemacht,« fuhr er mit einem Eifer fort, als wolle er alle ungehörigen Fragen und spitzen Bemerkungen verhindern. »Sieh dir nur die Butter an! Sieh sie dir an! Nein, du mußt sie auch probieren! Was? Die ist erstklassig! Nun, es kann ja für dich weiter kein Interesse haben!« Und dann gingen sie. Als sie auf den Flur kamen, wurde Gustav Borg wieder von Phylax empfangen, der sich die Schnauze an seinem hellen Anzug abwischte. Da das Tier eben gefressen hatte, wollte der eintretende Gast böse werden, aber er mußte schweigen und leiden, denn er wollte etwas gewinnen. Das Zimmer des Pfarrers war eines im alten Stil, mit Ledersofa, Brettspiel, Pfeifengestell und Bücherregal mit den Kirchenvätern in Quartformat, sowie der Amtszeitung und einer Sammlung von Gesetzbüchern; dieser wunderlichen Mischung von weltlicher und geistlicher Macht. Die Möbel waren aus Mahagoni und sahen aus, als seien sie nie neu gewesen, sondern bei Beginn der Welt auf einer Hausauktion durch Selbstzeugung erstanden. Mahagoni sieht nicht aus wie ein Pflanzenstoff, sondern es ähnelt gedörrtem Fleisch und kann schwitzen. Deshalb merkt man immer Spuren von Fingern, und das ist nicht angenehm. Die Möbel standen auf Flickenteppichen von der Farbe des Heringssalats und bildeten ein Ensemble gemütlicher Unsauberkeit, die nach Schnupftabak roch. Bei näherer Betrachtung unterschied man an der Tür eine Sammlung von Stöcken unter einem Museum von speckigen Hüten und Mützen. Daneben ein Brett mit Glasmaßen für Milchprüfungen, den neuen Symbolen der rationellen Landwirtschaft. Die Schwäger ließen sich nieder, und da beide schwatzsüchtig waren, ging die Unterhaltung wie ein geölter Blitz. »Du bist früh auf den Beinen,« sagte der Pastor. »Ich habe nichts anderes zu tun, seit ich zur Disposition gestellt bin,« antwortete der Redakteur. »Ja, die Jugend drängt vor! Das ist der Lauf der Welt!« Hier wäre Gustav Borg fast der Versuchung erlegen, sich zu beklagen; aber er beherrschte sich, denn er wußte, daß der Schwager ihn, der stets das Sprachrohr der Jugend gewesen war, nur ausgelacht haben würde. Er stoppte deshalb und bremste: »Ja, die Jugend; du weißt, ich habe ihr immer das Wort geredet, so lange ihre Forderungen angemessen und vernünftig waren; aber als sie die Grenzen überschritt, mußte ich gegen sie Front machen.« Da auch der Pastor in friedliebender Stimmung war, stellte er sich artig auf den Standpunkt seines Antagonisten. »Und das war recht von dir. Deshalb wirst du auch gelobt.« Er nahm eine Zeitung vom Brettspieltisch; als aber Gustav Borg den Titel »Vaterland« sah, war es aus mit dem Frieden, und die Maske fiel. »Werde ich in der gelobt? In der? Dann ist es aus mit mir.« »Du liebst dein Vaterland nicht?« fiel der Pastor ablenkend und scherzend ein. »Nicht sonderlich, denn es ist nicht liebenswert, und was deine Zeitung betrifft: ja, findest du selbst, daß Christenmenschen so schreiben? Es sind freilich Männer des Geistes, aber sie schreiben wie Teufel. Lügen, Willkür, Gewalt, Ungerechtigkeit, Haß, falsches Zeugnis, das ist das Programm der Zeitung!« Jetzt fing der Pastor Feuer, und er erhob sich und begann auf dem Teppich hin und her zu traben, daß der Staub wirbelte: »Findest du es nicht besser, daß das Volk von den humanen, gebildeten Priestern der Staatskirche geleitet wird als von ungebildeten, fanatischen Laienpredigern?« Das fand Gustav Borg für gewöhnlich gewiß, aber hier galt es, die Antwort nicht schuldig zu bleiben, und so bekam er im Zorn ganz plötzlich eine andere Meinung: »Laienprediger? Was bist du anderes? Du, dessen Beruf die Landwirtschaft ist, läßt deinen Dienst von Diakonen und Hilfspredigern versehen. Und was tut dein Diakon? Er ißt, wenn er nicht schläft, und dazwischen trinkt er und spielt Karten. Sechs Tage ausruhen und am siebenten arbeiten. Und dein Hilfsprediger, der Mitarbeiter am ›Vaterland‹ ist und das Eherecht verteidigt, ist dir bekannt, was der da draußen auf seiner Insel treibt? Du weißt, daß er wie ein Türke lebt, daß man ihn splitternackt mit einem nackten Mädchen in einem Boot gesehen hat, und du drückst ein Auge zu, weil du ihn zu deinem Kartenspiel brauchst! Die Gemeinde aber verläßt die Kirche und baut sich Bethäuser, die ihr verfolgt! Ja, das alte Schweden ist im Begriff, eine Pfaffenrepublik zu werden wie Paraguay, und mit der Staatskirche ist es jetzt ebenso faul wie im Jahre 1527. Die geistliche Macht habt ihr verloren, nur die weltliche besitzt ihr noch. Eure Bischöfe essen Visitationsdiners, sitzen in Reichstag und Landtag, in Kommissionen und Akademien -- wir hatten kürzlich einen Bischof mit achtzigtausend Kronen jährlich und Afterkrebs (den hatte er sich angefressen); er übersetzte Gedichte und schrieb humoristische Lieder, die Seelsorge überließ er dem Teufel. Ich hatte einen Vetter, den du auch gekannt hast, der war Diakonus in einer Stadt im Norden. Der hat sich zu Tode gefressen; denn bei jeder Amtshandlung, sei es Hochzeit, Kindtaufe oder Begräbnis, mußte er essen und trinken; und an dem letzten Sonntag seines Lebens erledigte er achtzehn Amtsgeschäfte, das heißt, er aß und trank achtzehnmal am Tage; da rührte ihn der Schlag und er starb. Du redest von eurer Humanität. Das ist nur Vorurteilslosigkeit, die sich auf Unglauben gründet! Ihr glaubt nicht an eure Lehren, das verlangt auch niemand, aber dann sollt ihr den Abschied nehmen, sonst seid ihr Heuchler! Doch ihr wollt das Brot und die Macht nicht aus den Händen geben! Geistliche und Offiziere, die zwei sind eins, und ihr stützt den Thron, der nur ein alter Stuhl mit einem Loch darin ist ...« Jetzt waren beide aufgestanden und trabten auf den Teppichen umher wie Leu und Bär. Gustav Borg aber ließ sich das Wort nicht nehmen. »Für Kühe und Schweine kannst du sorgen, kommt aber ein Mensch in Seelennot zu dir, dann hast du keine Barmherzigkeit, keine Hilfe, keinen Trost; denn du bist hart, geizig, unbarmherzig! Und achtundzwanzigtausend solche Kreaturen wie du und deine Untergebenen muß das Reich ernähren. Sieben Millionen Kronen eßt ihr auf, und die Mittel werden im Guten und im Bösen zusammengebracht, von Bekennern und Nichtbekennern, und in einer Weise, die an Erpressung erinnert. Woran ihr glaubt, das weiß der Teufel, aber ihr wirkt wie Teufelsverehrer, denn euer Organ verherrlicht Karl XII., den Zerstörer Schwedens, der kein Mensch war, sondern ein Teufel. Und als beim letzten Jubelfest zu Ehren dieses Untiers, das jeder, sogar der sittlichen Größe ermangelte, eine Gruppe Studenten opponierte, da wurden sie vor den Rektor zitiert und wären um ein Haar durch Relegation entehrt worden. Verdient ihr Irrenhaus oder Zuchthaus? Und du mit deiner Seelsorge! Man sagt, du schlägst mit dem Rohrstock, wenn du zu Verstand und Herz sprechen müßtest. Und deine Kirche, was tust du darin? Dasselbe, was der Metropolit in der Sakristei tat. Du hast neulich in einem solennen Festrausch damit geprahlt, du gingest nie in die Kirche, du seist seit einem Jahr nicht in der Kirche gewesen! Und du, der du so streng auf den Abendmahlszwang hältst, wann bist du zuletzt zum Abendmahl gegangen? Vor zwanzig Jahren, bei deiner Amtsweihe! Pfui Teufel, sage ich, und jetzt schüttle ich auf deinem Flickenteppich den Staub von meinen Füßen. Es ist schade um dich, denn du hast dir nie überlegt, was du tust und wer du bist! Aber wenn du aufwachst, so geh nicht in deinen alten Bau, dessen Altarschrein du, in Parenthese, vor kurzem an den Antiquitätenhändler verkauft hast, sondern geh ins Bethaus, wenn du kannst. Da triffst du wenigstens Christenmenschen; die den Versuch machen, wenn es ihnen auch nicht gelingt, ihr Inneres zu säubern!« Der Pastor war kein böser Mann, auch kein Heuchler, aber er hatte, wie alle, sein Leben so gelebt, wie es sich darbot, ohne Überlegungen; hatte die Tage nacheinander hingenommen und nie zurückgeblickt oder dies verworrene Konto von Aus- und Eingängen, Debet und Kredit, das man Leben nennt, aufgestellt. Als er jetzt dies zu hören bekam und seine Rechnung vor sich sah, konnte er keine einzige Tatsache in Abrede stellen. Er sah sich selbst, seine Fylgia, zum erstenmal, und er meinte sterben zu müssen. Er blieb sprachlos auf dem Sofa sitzen und war schwarz im Gesicht wie ein geschlachteter schwarzer Stier. Der Schwager, der durch diesen Ausbruch und diesen Sieg das am Morgen verlorene Selbstgefühl wiedererlangt hatte, begann aus seiner Verschrumpfung aufzuschwellen; und da er sich einen ehrenvollen Abgang sichern wollte, bevor der Feind sich hatte sammeln können, feuerte er die letzte Salve ab. »Du bist ein Pater, aber kein Geistlicher; du beginnst das Morgengebet im Stall mit Bier und Branntwein, dann hältst du deinen Frühstücksschlaf und spielst Brett bis zum Mittag; wenn du mit drei Gängen zu Mittag gegessen und dich zum zweitenmal berauscht hast, legst du dich zum Mittagsschlaf ins Bett, oder wie man es in Upsala nannte: wälzt Mittag; dann spielst du Brett bis zum Vesper, sitzt bei Grog und Wiraspiel bis zum Abendbrot, das jeden Abend aus kalten Platten mit einem warmen Gang besteht. Bist du einen Abend nüchtern ins Bett gegangen? Bist du mit deinen drei Räuschen täglich in fünfundzwanzig Jahren je nüchtern gewesen? Sprichst du je dein Abendgebet? Nein, du bist kein Mensch, sondern du bist ein Schwein! Das bist du!« Er hatte freilich das, was er beabsichtigt hatte, nicht erreicht, aber er hatte etwas anderes getan; und er wünschte nur, die andern hätten ihn gehört, dann würden sie ihn nicht konservativ genannt haben. Sechstes Kapitel Eine unklare Situation Das französische Geschwader kam und sprengte für einen Augenblick die privaten und einige allgemeine Koalitionen. Der schwedische Leichtsinn zeigte sich von seiner liebenswürdigen Seite, vergessen zu können. Trotz der neu aufgenommenen deutschen Politik sah man Mitglieder der Regierung den Festen beiwohnen und Reden auf Frankreich halten. Gustav Borg hatte einen großen Tag, als das Tivolifest veranstaltet wurde, denn er war einer der Gastgeber; und da er außerdem perfekt französisch konnte und ein ausgezeichneter Redner war, machte er sich ganz vortrefflich. Frankreich war nach dem Kriege 1870 etwas spröde gegen Schweden gewesen, da dieser uralte Bundesgenosse der Republik und dem besiegten Freunde den Rücken kehrte; aber jetzt war alles vergessen. Der französische Botschafter in Stockholm, eine starke Intelligenz, Republikaner und, wie behauptet wurde, vordem Communard, fraternisierte mit den liberalen Salons Stockholms, verkehrte in Bürgerhäusern und trat mit Vorträgen in Klubs auf, die nicht gerade ~comme il faut~ waren. Oben mußte man ihm das zugute halten, denn er war Botschafter der großen Nation, so daß seine Person unverletzlich blieb. Seine Wohnung und das norwegische Gesandtschaftshotel waren das Zentrum für alles, was an Politik, Wissenschaft, Kunst und Literatur zur Fortschrittspartei gehörte; halb aus Neugier, halb gezwungen kamen jedoch auch viele von den Oberen dahin, die nur durch Geburt und Amt dort oben gebunden waren. Diese versuchten wohl die Roten auszustechen und in Mißkredit zu bringen, merkten aber bald, daß jene überall Gesinnungsgenossen hatten. So passierte einem schwedischen Gesandten bei seinem norwegischen Kollegen das folgende Quiproquo: Der Gesandte (zu dem französischen Botschafter): »Was hat denn der gute Blehr da für einen Lumpen in seinen Salon eingelassen?« Der französische Botschafter: »Wen? Den da! Das ist mein spezieller Freund, der Maler X.« Der Gesandte: »Teufel auch, aber er sieht entsetzlich aus!« Der französische Botschafter: »Was tut das, er ist Offizier der Ehrenlegion und wir (wir beide) sind nur Ritter!« Der Gesandte (mit steigendem Pech): »Aber die Damen sind wirklich etwas merkwürdig. Sehen Sie die an, die wie eine Sängerin aussieht.« Der französische Botschafter: »Meine Frau ist es allerdings nicht, aber die ist auch Sängerin gewesen.« Tableau! In diesen Kreisen bewegte sich Gustav Borg, als sei er hier zu Hause, und jetzt auf dem Tivolifest, wo er seine blendende Rede auf Frankreich hielt, von dem aller Fortschritt ausgehe, vergaß man seine Absetzung; und er stand wieder unverhüllt als ein alter Republikaner da, ein Sohn der Revolution, der jeden Verdacht, konservativ zu sein, von sich abschüttelte. Die Mischung der Klassen und Ansichten in den neunziger Jahren war so intensiv, daß alle alten Begriffe nicht mehr paßten. Die beiden einfachen Rubriken: konservativ und liberal, dienten nur als Spitznamen, wie früher einmal Hüte und Mützen. Das Leben war reicher geworden, die Anschauungen hatten Nuancen bekommen, das borniert Exklusive war in die Käseblätter des unteren Bürgerstandes verwiesen, die in ihrem einfachen Spektrum nur zwei Farben sahen. So hatte der Cato Censor des Reichstags, der unverwüstliche Wächter der Heiligkeit der Verfassung, zu wiederholten Malen den Spitznamen Konservativer erhalten; zuletzt, als er die Frauenfrage nicht mitmachen konnte, aber das focht ihn nicht an. Während der aufgeblasene, für die Forderungen der Zeit starblinde Bischof in Y. für einen Roten angesehen wurde, weil er einmal aus reinem Versehen für das allgemeine Wahlrecht gesprochen hatte. Die Regierungsmacht des Landes lag in sovielen Händen, daß man nicht sagen konnte, wer mitregierte. Der Staatsrat tat es nicht; der Reichstag schien Gesetze zu geben, die öffentliche Meinung aber wurde in den Zeitungen, in der Literatur, in den Familien, den Klubs, den Cafés, den Salons, den Werkstätten vorbereitet. Schon die Macht des gesprochenen Wortes ist groß, größer noch die des geschriebenen. Die Macht der Presse, die damals sehr bedeutend war, wurde durch das Entstehen vieler Zeitungen neutralisiert, so daß eine Berühmtheit oder eine Autorität nur in ihrem Kreise galt; in dem der andern war sie nichts. Der Gesellschaftskörper bestand aus vielen exzentrischen Kreisen, die alle ihren Mittelpunkt hatten, aber keinen gemeinsamen. Dadurch konnte keine Kraftquelle so stark werden, daß sie andere niederdrückte, während aber alle einen gelinden Seitendruck verspürten, der das Gewölbe zusammenhielt. Das Tivolifest fand an einem sonnigen Sommerabend statt. Der Chef des Generalstabs hielt die erste Rede und erinnerte an seine Waffenbrüderschaft mit der französischen Armee, als er im Kriege 1870 bei Vionville und Gravelotte gekämpft hatte. Dann trat Nordenskiöld auf. Der Republikaner, der kürzlich das Revolutionsfest gefeiert hatte, der Reichstagsabgeordnete der Liberalen, der ausgewiesene Finne, der erste Name Schwedens, der volkstümliche, einfache Mann ohne Hochmut und große Gebärden, der aber zu Hause in seinem Schreibsekretär alle Ordenssterne Europas hatte. Das mit den Ordenssternen konnten die Liberalen nicht recht verstehen, aber das war sein Opfer. In einem Lande, wo alles zu königlichem Recht gemacht wird, war er gezwungen, zu wählen! Ohne Orden keine Nordostpassage! Und er nahm beide! Unter dem alten Regime hatte ~Le roi soleil~ sein Licht allem Großem gespendet; jetzt aber entlieh die monarchische Institution ihren Glanz von allem Großen, indem sie ihm ihren hohen Schutz angedeihen ließ. Nordenskiöld nahm es hin wie ein unschuldiges Spielzeug, ohne indessen etwas von seiner Persönlichkeit dafür zu geben. Die Altliberalen hatten freilich gemurrt; doch als sie sahen, daß der Mann keinen Schaden nahm, verziehen sie ihm schnell, und das verdiente er. Nun war der offizielle Teil zu Ende, und man zerstreute sich in Gruppen. Die »Gesellschaft« hatte den Tanzpavillon eingenommen, andere kleine Gruppen ließen sich in Kiosken nieder oder oben auf der Terrasse im Café, im Zelt, in den Kegelbahnen. Gustav Borg befand sich in der »Gesellschaft«, in einem Kiosk in der Nähe aber saßen seine Frau Brita, die Söhne Holger und Kurt, der Architekt, sowie Doktor Borg, ohne Frau; sie konnte nicht französisch und wollte nicht gedemütigt werden. »Die Situation ist unklar,« sagte der Doktor, »unklar wie alles augenblicklich. Die Liberalen haben sich auf das Geschwader gestürzt, und Gustav blüht da unten auf der Rabatte.« »Mit wem spricht er?« fragte Brita. »Es ist eine Finnländerin, kannst du dir das vorstellen!« »Die das Kronstadter Geschwader und die russische Allianz feiert?« »Tja, die Situation ist unklar! Eins aber ist sicher: jetzt wird den Finnen ihr grenzenloser Übermut und ihre dumme Verachtung Schwedens heimgezahlt. Die Finnomanie der siebziger Jahre, die von schwedischen Finnen gepflegt wurde, war nur die Fortsetzung von Anjala. Ich war damals drüben in Helsingfors, und es war unerträglich. Dieser Forsman verachtete die schwedische Sprache so sehr, daß er sich umtaufte und sich Yrjö Koskinen nannte oder so ähnlich; Topelius war russischer Staatsrat oder irgend etwas Russisches; wenn ich einen schwedischen Finnen auf schwedisch ansprach, antwortete er nicht; sie faselten vom ›schwedischen Joch‹, worunter sie die schwedische Sprache verstanden, und versuchten etwas auf Kalewala aufzubauen, auf diesem Jugendbuch, das von einem Sägemühleninspektor zusammengebraut zu sein scheint. In den achtziger Jahren wollten sie das Schwedische abschaffen und ihre samojedische Rindenkultur mit der finnischen Sprache einführen; die Alten spielten russische Staatsräte und die Jungen russische Nihilisten; Walter Runeberg soll für Helsingfors eine Alexanderstatue machen; das trojanische Pferd, was? Aber jetzt, wo es brenzlig wird und Rußland sich Finnland einverleiben will, da kommen sie hierher und verlangen, daß wir Rußland den Krieg erklären. Denkt euch, in dem Salon dieser finnischen Dame verkehrt ein finnischer Senator, der verbannt zu sein glaubte, weil der Zar ungnädig gegen ihn gewesen war; der Zar aber wußte von keiner Ungnade und hat kürzlich nach seinem Freunde, dem Senator, gefragt, den er vermißte. Werdet ihr klug daraus? Und diese Finnländerin glaubt eine große Patriotin zu sein, ja sie ist so urfinnisch, daß sie an der Errichtung einer Elevenschule am Schwedischen Theater in Helsingfors teilgenommen hat, in der neuangekommene Schweden die finnische Aussprache lernen sollen, das heißt mit finnischem Akzent sprechen. Was soll man dazu sagen? Arme Finnen, sie wissen nicht, was sie tun, aber sie haben es so gewollt! Übrigens läuft ja alles auf Zusammenschluß hinaus und auf das Aufsaugen der kleinen Nationen. Das ist im Anfang schmerzlich; aber das Weltbürgertum wird nicht mit ein paar Groschen erkauft! Seht, jetzt macht sie sich an einen russischen Attaché heran! Das müßte der Senator sehen!« »Die kleinen Nationen werden verschwinden,« fiel jetzt Frau Brita ein, froh und munter, als verkünde sie eine Entdeckung. »Ja, und wir sind schon auf dem Wege! Wißt ihr, mir macht dieses Fest keine Freude; es bedeutet für uns, daß wir Schweden nicht mehr nötig sind. Frankreich hat uns seit mehreren Jahrhunderten als Vorposten gegen Rußland benutzt, und es gibt eine alte in Frankreich geschlagene Medaille, auf der dem Schweden sein Platz als Frankreichs Söldner angewiesen wird. Sie haben uns tatsächlich als eine Art Schweizer betrachtet, die von Truppenvermietung lebten; und jetzt, da sie das Bündnis mit Rußland geschlossen haben, um China zu teilen, hat Schweden seine Rolle in der Geschichte ausgespielt. Wir werden nicht mehr gebraucht! Ich war gestern mit einem Schiffsarzt vom Geschwader zusammen und zeigte ihm Stockholm. Er sprach über die Allianzen und die bevorstehende Aufteilung der Erdkugel unter die Nationen Europas. Ich dachte an mein Land, das nicht dabei sein darf, nicht um Rat gefragt wird, nicht mitzählt; und ich fühlte mich wie ein von der Schule Relegierter, ein Gestrafter, der keine Heimatberechtigung hat, ein Paria ohne Menschenrechte in der Weltgeschichte. Mir, wie euch, ist nun einmal der Stolz darauf, Schwede zu sein, anerzogen. Was soll man da stolz sein? Eine Taubstummensprache sprechen, die niemand versteht, wenn man nach Europa hinein kommt; in romanischen Ländern wird man mit den geringgeachteten Schweizern verwechselt, in Deutschland als ein Plattdeutscher behandelt, der ihre Edda annektierte, die doch Wagner uns nach dem Kriege gestohlen hat. Ein Serbe, Bulgare oder Rumäne kann stolzer sein als wir, denn sie haben eine Aufgabe in der Weltgeschichte: Puffer gegen die Türkei zu sein; wir aber haben keine! Doch ich wollte meinen Franzosen bekehren, und da ich auf unsere Schanze ebenso stolz bin wie ihr, führte ich ihn dort hinauf, um ihn zu zerschmettern. Von unten sieht man ja Bredablick und die Glockentürme. Als wir ans Tor kamen, wollte ich ihn in Stimmung bringen, deutete auf den roten Aussichtsturm und sagte: ›Das ist unsere Akropolis; da wird Svea verwahrt, ihr Palladium und ihre Ahnen.‹ Es war gut improvisiert, das fand ich selbst; und der Franzose stellte sich auf eine Überraschung ein. Wir kletterten hinauf, besahen einige Glockentürme und einige Renntiere, einen Pranger und eine alte Kanone, aber wo wir auch gingen, stießen wir auf Tiere. Unglücklicherweise war mein Arzt Zoologe und warf sein Interesse auf die Tiere, so daß ich ihn nicht losreißen konnte. Als er die Eisbären bemerkte, fragte er, ob es die in Schweden gebe, und ich mußte lügen und ja sagen. ›Schöne Menagerie,‹ sagte er, ›sehr schön!‹ Ich führte ihn zu den Häusern, aber sie vermochten sein Interesse nicht zu erregen. ›Hütten, Bauernhütten, sehr hübsch.‹ Wir kamen an dem Bierpavillon und dem Musikorchester vorbei. ›Varieté,‹ sagte er, ›sehr hübsch!‹ Als wir nach Bredablick kamen, mußte er sich die Aussicht anschauen, und dann wollte er nichts mehr sehen. Und wißt ihr, liebe Freunde, da war auch nichts mehr zu sehen! Aber jetzt fing er an zu fragen: ›Akropolis? Jetzt wollen wir die Akropolis ansehen.‹ Ich blieb stumm. ›Svea? Was ist das? Und wo ist das Palladium?‹ Da wurde er witzig wie ein Franzose, und indem er auf die Eisbären deutete, sagte er: ›Sind das die Ahnen? Die Vorväter?‹ Ich hätte weinen können vor Wut, doch der artige Franzose wollte mich schonen und fügte hinzu: ›Ich bin Darwinist. Sie nicht?‹ Das hatte ich für die Ahnen! Als wir hinausgingen, trafen wir einige Finnen, Bekanntschaften von gestern. Die unverschämten Finnen spielten Russen, sprachen meinen Franzosen als Alliierten an und scherzten über mich und meine Akropolis. Ja, es ist keine Ehre, ein Schwede zu sein, das ist sicher; und etwas Bescheidenheit würde uns gut kleiden, besonders wenn wir von der ›Schanze‹ sprechen. Aber ich kann nicht begreifen, daß da so wenig zu zeigen war: zwei Glockentürme, neun Bauernhütten und eine Menagerie. Ich werde rot bis an die Ohrläppchen, wenn ich an meine Rede bei Einweihung der Schanze denke! Wenn ihr euch noch drauf besinnt, so sprecht nicht drüber!« Jetzt glaubte Holger in seiner Eigenschaft als der neue Redakteur etwas Überlegenes sagen zu müssen. »Was soll das Jammern darüber, daß die Kleinstaaten ausgetilgt werden! Hier stirbt Schweden freilich, aber es erfüllt seine Weltmission in Amerika, wo Schweden und andere Skandinavier im Begriff sind, einen starken Bauernstand zu bilden, der einmal einen Präsidenten ins Weiße Haus schicken wird. Und ihr schwatzt davon, daß Schweden nicht dabei ist, wenn es an die Teilung der Erde geht!« »Da hast du sehr recht,« fiel jetzt Kurt ein; »man müßte wirklich die Auswanderung erleichtern durch Einführung der englischen Sprache in den Volksschulunterricht.« »Das hat vor kurzem ein Mann gesagt, und sie hätten ihn beinahe totgeschlagen, wie im Reichstag den Bauern, der die Sachlage so verzweifelt fand, daß er ebenso gern Steuern an Rußland bezahlen wollte wie an die Offiziere der schwedischen Armee.« »Apropos Rußland,« unterbrach der Doktor, »seht ihr, wie die Finnin dahinten mit unserer russischen Professorin fraternisiert? Ich glaube, die Professorin ist ganz einfach Finnin, denn sie sprach, als sie herkam, fließend schwedisch mit finnischem Akzent.« »Du redest,« unterbrach Frau Brita. »Manche Leute behaupten auch, sie sei Polin! Ja, ihr Frauen habt augenblicklich gute Tage; denkt an unsere Schriftstellerinnen! Biersuppe, Dienstagssuppe, einige Variationen fremder Themen, und sie werden vom kleinen Sakris als Riesengenie proklamiert. Seht, da geht er übrigens. Geboren mit Schmerbauch, Brille, Tonsur und Pension; Beschützer der Literatur, Freund der Damen; Mitesser, Schatten. Er brütet Seidenraupen aus, nachdem er die Eier gekauft hat; er sieht aus wie ein Gespenstertier, trägt eine Brille wie ein Detektiv, ein ~Faux Bonhomme~, der fürchterlich ist; ein Betrüger, den man nie überführen kann, den man aber gefühlsmäßig flieht; unerklärlich und deshalb unheimlich; schmeichelt, um kratzen zu können; benutzt alles für seine Zwecke, sogar Leichen; verzeiht, wo etwas zu gewinnen ist, und ist rachgierig, wo er nichts zu verlieren hat. Er spricht im Namen der Frauen, als sei er eine Frau; verleumdet sein eigenes Geschlecht als ein Selbstbesudler und kriecht vor den Damen wie alle Päderasten. -- Aber seht euch den an!« »Wir müssen jetzt fahren,« unterbrach Frau Brita, »sonst verpassen wir den Dampfer!« Die Gesellschaft brach auf, um zum Droschkenhalteplatz zu gehen. Aber als sie an einem Zelt vorbeikamen, sahen sie einen Mann mit rotem Fes auf einem Tisch stehen und französischen Matrosen eine Rede halten. Das war Syrach, der Maler, der seinen Verstand zum Teil wiederbekommen hatte und jetzt in Brest zu sein glaubte, wo er den letzten Sommer verbracht hatte. »Die Situation ist unklar,« fuhr der Doktor fort, »das Wasser ist trüb, und die oberen Stände werden fischen können!« Siebentes Kapitel Der Nährstand Am Tage vorm Neujahrsabend saß Anders Borg, der dritte Sohn des Redakteurs, auf seinem Pachthof Langvik, schloß seine Bücher ab und rechnete. Langvik, das zum Pfarrhof gehörte, war ein mittelgroßes Gut und lag an einer Bucht der Ostsee nach der Meerseite, in einem Archipel von Holmen und Schären. Anders Borg, der an der Landwirtschaftlichen Hochschule studiert und sich sehr früh verheiratet hatte, so daß er jetzt vier Kinder besaß, war schon seit drei Jahren hier Pächter. Zwei Jahre hatte der Vater die Pacht bezahlt, in diesem dritten aber weigerte er sich. Anfangs hatte Anders, der ein leichtsinniger Bursche war, wie ein Herr gelebt und gehofft, mit Einführung der Zölle würden bessere Zeiten kommen. Die Zölle kamen, doch es wurde nicht besser, denn er mußte alles teuer und schlecht kaufen. Im zweiten Jahre versuchte er das Deputat einzuschränken; als er jedoch sah, daß das nichts nützte, lebte er wieder drauflos und ließ fünf gerade sein. Jetzt aber, als das Jahresende herankam und die Tage in all ihrer Kürze endlos lang waren, vertrieb er sich die Zeit damit, zu rechnen, die Ursachen des Verfalls der Landwirtschaft zu berechnen. Und er kam zu höchst eigentümlichen Resultaten. So hatte er jetzt das Milchjournal vor und sah, daß die Butter ihm auf sieben Kronen das Kilo kam, während er sie für zwei Kronen verkaufen mußte. Er glaubte zuerst, er habe sich verrechnet, aber als er im Buch sah, daß die Kuh fünfzehn Pfund Heu für fünfzig Ör das Pfund fraß, bis sie ein Kilogramm Butter gab, wurde ihm bange. Wenn auch die Magermilch für Instleute, Kälber und Ferkel benutzt wurde, rechnete sich dieser Vorteil doch auf gegen die Kosten für Wartung des Viehs, Streu und den teuren Transport nach der Stadt. Sah er nun nach, was es kostete, ein Tier aufzuziehen, so fand er, daß das Tier seinen Verkaufspreis aufgefressen und er umsonst gearbeitet hatte. Das Merkwürdigste von allem aber waren seine chemischen Berechnungen über Ein und Aus des Viehstalls. Da stand eine Kuh und verzehrte nur trockenes Heu nebst einigen Eimern Wasser. Das Heu bestand doch hauptsächlich aus Zellulose, die stickstofffrei war, und das Wasser enthielt keinen Stickstoff. Woher kam dann der unerhörte Überschuß an Stickstoff, den Milch und Dung enthielten? Antwortete er: aus den verbrauchten Geweben des Tierkörpers, so mußte er wieder fragen, wo der Tierkörper den Stickstoff zur Erneuerung der Gewebe hernahm; denn wurden diese nicht erneuert, so würde das Tier nach drei Monaten spurlos verschwinden. Aus dem Heu kamen nur ganz unbedeutende Mengen Stickstoff und aus dem Wasser überhaupt keine; wurde er denn aus der Luft genommen? Nein, behauptete Pettenkofer! Es war also ein Wunder, oder die Chemie auf dem Holzweg. Und wenn er mit Kartoffeln fütterte, die neunzig Prozent Wasser und zwei Prozent Stickstoff enthielten, war das Resultat das gleiche. Da mußte man ja glauben, stickstofffreie Stärke könne sich in -- stickstoffhaltiges Eiweiß verwandeln und Wasser in das Ammoniak übergehen, das im Dunghaufen im Überfluß vorhanden war. Aber das widersprach den geltenden wissenschaftlichen Theorien, und deshalb stand er vor einem Rätsel, das er schließlich beiseite schob. Handgreiflicher waren dagegen die Angaben des Hauptbuches, nach denen er in diesem Jahre für dreitausend Kronen Thomasschlacke zur Düngung des Bodens gekauft hatte, während die Pachtsumme sich auf zweitausendfünfhundert Kronen belief. Das war eine nackte, schlagende Tatsache, die ihn auf einen neuen Gedanken brachte, der seine ganze Lage beleuchtete. Der Boden kann einen Besitzer ernähren, nicht aber Besitzer und Pächter zusammen; der Boden kann sich selbst düngen durch eine gut geregelte Viehhaltung, aber der Boden ist nicht imstande, Düngemittel zu kaufen. Das hätte er vorher wissen müssen, doch das stand weder in den landwirtschaftlichen Lehrbüchern, noch in der Nationalökonomie. Er hörte jemanden kommen, klappte die Bücher wieder zu und steckte sich eine Zigarre an, um seine Unruhe zu verbergen. Seine Frau kam herein, jung und kräftig, jetzt aber mit bekümmerter Miene. »Anders! Gib mir die Schlüssel zum Speicher; ich muß Mehl zum Backen haben.« »Mehl? Wir haben keins mehr!« »Wir haben keins mehr?« »Nein!« »O mein Gott! Hast du es verkauft?« »Ich mußte!« »Aber die Instleute?« »Für die muß ich nach und nach welches kaufen.« »Können wir nicht schnell etwas mahlen?« »Wir haben nichts zu mahlen.« »Hast du denn das Getreide auch verkauft?« »Ich mußte!« »Nein, nein, nein! Was ist denn noch im Speicher?« »Nichts! Nur die Ratten!« »Wir werden unglücklich, wenn der Inspektor das erfährt!« »Er weiß es.« »Also deshalb wagt er, was er wagt. Ja, dies geht nicht, Anders, dies geht nicht.« »Doch, aber ich werde schließlich noch ein Schwindler werden. -- Was tut der Inspektor denn?« »Ja, zum Beispiel, wenn die Kätner im Tagelohn arbeiten sollen, dann wird er mit Eiern und Butter bestochen und erläßt ihnen die Arbeit.« »Ist es so weit gekommen?« »Ja, und noch weiter, er steckt mit den Melkerinnen unter einer Decke! Warum jagst du ihn nicht weg?« »Ich kann nicht, ich wage es nicht. Er weiß zuviel über die Geschäfte und die Lage des Hofes. Das mit dem leeren Speicher ist das schlimmste, denn das ist beinahe ungesetzlich. Der Inhalt des Speichers war gleichsam eine Hypothek für die Pacht wie auch für die Löhne der Leute.« »Wenn man denkt, daß ich diesen Inspektor an meinem Tisch sehen muß, wenn er sich einlädt, -- weißt du, daß er in der Stadt bummelt und sein ganzes Geld vertrinkt, so daß wir seine Kinder ernähren müssen?« »Das kann ich mir denken! Aber das Ende wird sein, daß ich selber Inspektor werde, dann komme ich vielleicht noch zu einem eigenen Gut, ehe ich sterbe.« Jetzt wollte die Frau von allgemeinen Betrachtungen zu Tatsachen übergehen. »Kristin in der Küche verlangt ihren Lohn. Hast du das Geld für die Kuh bekommen, die wir dem Schlächter verkauft haben?« »Nein, aber ich erwarte ihn jeden Augenblick mit dem Geld. Wieviel schulden wir Kristin?« »Einen Jahreslohn, wie du weißt, und dann habe ich bar von ihr geliehen ... ja, was soll man machen?« »Hör einmal, wir sind doch morgen eingeladen; haben die Kinder was anzuziehen?« »Nein, du weißt ja, daß sie nur Sommermäntel haben.« »Dann müssen wir sie in Schals und Decken einpacken, denn zu Hause können sie nicht bleiben.« »Ja, Anders, das ist verkehrte Wirtschaft. Ich bin auf dem Lande geboren und weiß, was ein Hof tragen kann, das weißt du aber nicht! Ein so kleiner Besitz wie dieser kann nicht einen Schmied, einen Waldhüter und einen Kutscher tragen. Und weil du ihnen ihren Lohn nicht zahlen kannst, stehlen sie. Der Schmied stiehlt Eisen und arbeitet für eigene Rechnung; er beschlägt für das halbe Kirchspiel die Pferde mit deinem Eisen; der Waldhüter verkauft Holz und der Kutscher Hafer. Weißt du, mein Freund, am liebsten liefe ich weg von all diesem, denn es ist nicht eine Brotrinde im Hause! Ich könnte weinen, wenn es mir nicht leid täte um dich; aber du bist so gut, und du bist an dieser Wirtschaft nicht schuld.« Jetzt konnte Anders seine Rührung nicht zurückhalten; denn er war ein guter Mann, den ein gutes Wort in Tränen zerfließen ließ; doch er kam nur bis zu einem dankbaren Händedruck, als man draußen Schellengeläut hörte. »Das ist der Schlächter mit dem Geld! Wir sind gerettet,« rief er und sprang auf. »O Gott! Welch ein Glück,« stimmte die Frau ein und stellte sich ans Fenster. »Aber geh nicht selbst hinaus; laß Lindquist ihn empfangen!« »Ja, das kann er tun, denn der Schlächter und ich sind keine guten Freunde.« Die Schlittenglocken waren verstummt, statt dessen aber schlugen die beiden Hofhunde an und rissen an ihren Ketten; die Jagdhunde antworteten, und alle Köter des Hofes versammelten sich hinter der Eismiete, die die Szene verbarg, die sich jetzt zwischen dem Schlächter und dem Inspektor abspielte. Der Pächter und seine Frau sahen von dem Auftritt nichts, aber sie hörten einen Wortwechsel, der so laut war, daß das Wort Betrüger durch das Doppelfenster drang. Nach einer Weile entfernten sich die Schlittenglocken; das Hundegekläff artete in ein Geheul aus, das auf einen Kampf hindeutete, und dann kam der Inspektor zum Hause hinauf gelaufen. Der Herr ahnte Unrat, und mit sorglicher Hand wollte er seine Frau hinausführen, um ihr einen Auftritt und sich selbst eine Demütigung zu ersparen; aber sie blieb stehen. Der Inspektor kam herein. »Was ist?« fragte der Herr. »Der Schlächter hat die Kuh zurückgebracht,« antwortete der Inspektor. »Er sagt, sie sei an einer unbekannten Krankheit verendet und er wolle den Herrn verklagen.« »Was haben Sie denn mit dem Tier gemacht?« »Er hat es auf den Misthaufen geworfen und da sind die Hunde drüberher gefallen; ich konnte sie nicht auseinandertreiben.« »Lassen Sie sie nur! Dabei ist nichts zu machen. Gehen Sie in den Stall, Herr Lindquist, und lassen Sie den Schlitten anspannen. Sagen Sie dem Waldwärter, er soll die Eishacke nehmen und mitkommen.« Der Inspektor wollte die Audienz noch verlängern, denn mit jedem Hieb, den der Herr kriegte, wurde seine Straflosigkeit größer; aber er mußte gehen, denn der Gutsherr verließ mit seiner Frau das Zimmer. Die Gatten waren allein im Schlafzimmer, in das sie sich zurückzuziehen pflegten, um Rat zu halten und sich zu verstecken, wenn die Leute das Haus mit ihren Forderungen belagerten. Die Frau begann: »Ist es wahr, daß du ein krankes Tier verkauft hast?« »Ja, das ist wahr! Ich werde zum Betrüger, wenn dies so weitergeht!« und sie weinten beide. Was sollte man jetzt verkaufen? Was sollte man tun? Sie berieten und kamen zu dem Entschluß, der Mann müsse ausfahren und Geld leihen. Dann sollte die ganze Wirtschaft geändert werden. Ein Jahr lief die Pacht noch, da wollte man den Boden mit Hafer bestellen; der brauchte nicht gedüngt zu werden und wurde sofort an die Pferdebahngesellschaft verkauft; er sog freilich den Boden aus, aber was kümmerte sie das, wenn sie von hier weggingen? Das ganze Land hatte sich dem Hafer zugewendet, wenn nichts anderes lohnte; daher war der schwedische Boden ausgesogen. Der Roggen, der doch das Getreide des armen Mannes ist, wollte nicht mehr gedeihen, sondern mußte importiert werden; vom Weizen war man über den Roggen zum Pferdekorn herabgesunken; das war der Verfall. Und wenn die Bauern die letzte Haferernte genommen hatten, um ein Billett nach Amerika zu kaufen, konnte man kaum einen Reflektanten für den wertlosen Boden finden. Der Boden, den der Pflug bearbeitet hatte und der gedüngt gewesen war, gab seltsamerweise nur Unkraut; er konnte aus sich selbst keine natürliche Weide werden wie die Wildnis; er war verflucht; er war durch die Bestellung verwöhnt und verlangte Bestellung; er konnte freilich wieder als Kleewiese angelegt werden, aber wenn diese nicht erneuert wurde, gab sie keine Erträge mehr. Wenn die Pachtzeit zu Ende ging, pflegte man das Inventar zu verauktionieren. Da die Bauern eine absonderliche Vorliebe dafür hatten, auf Auktionen zu kaufen, weil sie alles billiger und besser zu bekommen glaubten, pflegten die fortgehenden Pächter schon vorher alles Brauchbare zu verkaufen und schlechtere neue Sachen anzuschaffen. Das beste Vieh und die guten Pferde wurden unter der Hand verkauft und schlechte dafür wiedererworben. Geräte, Wagen und Schlitten wurden in aller Eile hergestellt und auf die Auktion gebracht. Das war ja nicht unehrlich, aber anständig war es nicht, und das konnte man sich auch nicht leisten. Als sie mit ihrer Überlegung zu Ende waren, fuhr der Schlitten vor. Der Waldhüter, ein Zigeunertyp, der Liebling des Gutsherrn, weil er rühriger war als die Kätner, stand mit der Eishacke bereit. Seine Aufgabe war nämlich, bei Landzungen und Meerengen, wo man Strömungen befürchtete, vor dem Pferde herzugehen und das Eis zu prüfen. Als der Herr den Schlitten bestieg, gewahrte er ein Schauspiel, das ihm, trotz des Elends, das darin zum Vorschein kam, ein Lächeln entlockte. Vier von den größten Hunden hatten die tote Kuh einträchtig auf die gewaltige Pyramide der Eismiete geschleppt; aber als sie diese gemeinsame Arbeit getan hatten, jagte die größte Hofdogge die drei Verbündeten hinunter und lag nun wie eine Sphinx allein dort oben und schmauste. Die Hunde der Nachbarhöfe waren angelockt worden, und die kläffende Schar am Fuß der Eismiete drängte sich bisweilen zusammen und bildete ein Knäuel von Pelzen, Schwänzen und Pfoten. Einige Kätnerfrauen hatten schwache Versuche gemacht, den Raub mit der Dogge zu teilen, hatten sich aber zurückgezogen. Alles war ausgehungert auf dem Hof, Menschen und Vieh. Die Hunde hatten in ihrer Not alles nach Hasen und jungen Vögeln abgejagt und lernten schließlich unten auf dem Eise Fische stehlen, indem sie die Rotaugen vom Angelhaken schnappten. Jetzt aber hatten sie einen Schmaus bekommen. Die Peitsche knallte, und in sausender Geschwindigkeit fuhr der Schlitten aufs Eis hinunter und auf die Fjorde hinaus, die blank dalagen. Die Fahrt ging zuerst nach dem andern Ufer hinüber, wo auf einer Landzunge zwei alte Männer sich in einem roten Hause niedergelassen hatten, um das Ende des Lebens zu erwarten. Der eine war ein früherer städtischer Kämmerer und Witwer, der jetzt mit siebzig Jahren von seiner Pension lebte; der andere war ein Achtziger, weiß wie eine Taube, der, seit er Student in Upsala gewesen war, nie etwas getan hatte. Mit zwanzig Jahren hatte er eine Leibrente bekommen und dann nie mehr gearbeitet. Der Fall war ungewöhnlich, aber der Alte hatte für eine einzige Tat, ein einziges Interesse gelebt: er war Juvenal gewesen. Er betrachtete sich jetzt auch nur noch als Gegenstand in einem Museum, der gezeigt werden konnte. Das rote Haus war berühmt wegen seines kostbaren Inhalts, man machte Ausflüge dorthin, um ›einen von den Burschen‹ zu sehen, denn in den hatte die Tradition den Juvenal umgewandelt. Er hatte mit Wennerberg gesungen, er hatte Karl XV. gekannt; er hatte mit Jenny Lind gesprochen, er hatte Gejer gesehen. Aber all das spielte heute keine Rolle, als Anders Borg angefahren kam, um Geld zu leihen. Die Freude der beiden Alten war groß, als der Schlitten vor dem Hause vorfuhr, denn sie waren vierzehn Tage eingeschneit gewesen, hatten seit acht Tagen keinen Fremden gesehen, keine Zeitungen und keine Post bekommen. Sie nahmen Anders den Pelz ab und zogen ihn in die Wärme hinein; er bekam einen Glühwein und mußte erzählen, was in den Zeitungen gestanden hatte. Darauf wurde das Kartenspiel hervorgeholt, und man spielte Wira, nur eine Runde. Über Geld zu sprechen ist ja unangenehm, denn das letzte, was der Mensch aus den Händen gibt, ist das Gold, aus dem einfachen Grunde, weil dieses Metall die Existenzbedingungen, Wohnung, Essen, Kleidung und Wärme ausmacht. Nachdem er im Verlauf von zwei Stunden alles ausgekramt hatte, was, wie er wußte, den Alten angenehm war, rückte er schließlich mit seinem Anliegen heraus. Da zog eine Wolke durch das helle Zimmer mit den weißen Gardinen; der Friede des Alters war gestört, und die Greise quälte es, einen in Not Befindlichen ohne Hilfe lassen zu müssen. Sie konnten kein Geld entbehren, und es war ihnen peinlich, das einzugestehen, genötigt zu sein, ihre ökonomische Lage darzulegen. Anders seinerseits litt darunter, diese Verstimmung hervorgerufen zu haben; es war ein Elend, Geld leihen zu müssen, und er begriff jetzt, warum so viele Betrug und sogar Diebstahl vorzogen. Als er sich nun wieder in den Schlitten setzte, wollte er eigentlich nach Hause fahren, aber der Gedanke an Frau und Kinder rüttelte ihn auf, und mit einem Knall der Peitsche setzte er das Pferd in Bewegung, auf den großen Fjord zu. Der Waldhüter hinten auf dem Hundesitz äußerte einige Besorgnisse, aber der Herr wollte nicht darauf hören. Das Eis war dünn, aber zäh, durchsichtig wie Glas, so daß man an seichten Stellen die Tangwälder sah. Auf dem Fjord wogte das Eis, aber das Pferd beschleunigte den Lauf, in dem Instinkt, daß es im Notfall von der geöffneten Wake wegspringen konnte, und der Gutsherr wußte aus Erfahrung, daß das Salzwassereis zäher war, als es aussah, und nicht so gefährlich, wie es schien. Den Kurs nahm er nach Osten nach einer flachen Insel in der Ferne, wo der Diakonus wohnte. Dieser, der eine kleine Kirchenkasse zu verwalten hatte, würde ihm wohl zehn Kronen leihen können; so tief hatte er jetzt seine Ansprüche herabgeschraubt. Nur Luft und Wasser und der schwarzgrüne Strich in der Ferne waren zu sehen, als das Pferd plötzlich stehen blieb. Der Waldhüter war sofort neben seinem Kopf, warf die Eishacke wie eine Lanze, und siehe da, das Wasser stieg aus dem Loch. »Das geht nicht, Herr,« sagte Viktor. »Geht der Wind einen Strich weiter nach Osten, so bricht das Eis und wir sind kaputt!« »Ich kehre nicht um,« antwortete der Patron; »sitz auf, so sollst du sehen, was fahren ist!« Die Peitsche sauste um die Lenden des Pferdes, und es ging in gestrecktem Trab ums liebe Leben. Eissplitter und Wasserspritzer stiebten um die Gesichter. Es handelte sich nur um zehn Kronen, aber es handelte sich auch darum, ein Ziel zu erreichen und vor allem eine Pflicht zu erfüllen, und er hatte das Gefühl, sein Leben den Seinen zum Opfer zu bringen und die Schande hinter sich zu lassen. Der dunkle Strich in der Ferne wurde immer breiter und kam näher; Dächer wurden sichtbar, und gleich darauf zeigten sich Leute am Strande, die winkten und riefen. Der Waldhüter verstand die Signale zuerst, sprang vom Sitz und schrie: »Halt, Herr, hier ist eine Wake!« Anders Borg hielt das Pferd an, denn er sah eine offne Rinne, in der ein Dampfer gefahren war. Er stieg aus und maß mit den Augen die Breite der Rinne, als gedenke er hinüberzuschwimmen, denn vorwärts mußte er. Aber nach kurzem Besinnen nahm er einen Pfahl, der die Rinne abgesteckt hatte, stieg auf eine schwimmende Eisscholle, stieß mit dem Pfahl ab und kam ins Treiben. Die Leute am Strande schrien, als die Scholle sich in Bewegung setzte, doch Anders paddelte weiter. Als er sich der andern Seite näherte, begann seine Eisscholle zu sinken, langsam, gleichmäßig wie eine Falltür. Mit einem Satz sprang er auf die nächste Scholle hinüber, die ebenfalls sank, und dann wieder auf die nächste, worauf er im Galopp das Land erreichte; aber auf der letzten Strecke trat er das Strandeis durch, das wie zerbrochene Fensterscheiben klirrte. »Ist der Herr Pastor zu Hause?« fragte er, ohne zu grüßen. »Ja, das ist er,« war die Antwort. Und nun eilte Anders hinauf nach einem roten Hause, das ziemlich ebenso aussah wie die andern. Er betrat es in dem gleichen Tempo, das er beim Übergang über die Eisrinne angewendet hatte, riß die Tür auf und stand in der Stube, in der der Vikar in seinem Schaukelstuhl saß und schlief, um zwölf Uhr mittags. »Nein, bist du es? Ich wollte gerade ein Schläfchen machen, da hörte ich Hilferufe auf See,« sagte er, indem er sich ermunterte. »Ja, ich bin in der Klemme, und du mußt mir zehn Kronen leihen.« »Zehn Kronen? Wo soll ich die hernehmen? Ich wollte gerade eine Diskontanleihe machen, aber das ist mißlungen ...« »Du kannst doch aus der Kasse leihen!« Hier entstand eine Pause, und Anders Borg begriff, daß er sich abermals hatte verleiten lassen, in die Geheimnisse anderer einzudringen und einem Unglücklichen das demütigende Eingeständnis einer schlechten pekuniären Lage abzuzwingen. Doch er faßte sich schnell und lenkte ab: »Kannst du nicht einen Bauern anpumpen?« »Ich, einen Bauern anpumpen? Nein, mein Freund, so ist meine Situation nicht. Siehst du, im ersten Jahr hab ich mich gemein gemacht und habe mit ihnen trinken und essen müssen; aber da ging der Respekt verloren, besonders als ich Geld von ihnen pumpte, um meine Upsalaer Schulden zu bezahlen. Als ich mich zurückzog, begannen sie mich zu hassen. Ich wurde einsam; ich habe niemanden, mit dem ich sprechen kann, habe nichts zu tun. Ich darf nicht fischen, nicht jagen, nicht das Feld bestellen. Lesen kann ich nicht, denn dann schlafe ich ein. Ich bin verurteilt, nichts zu tun, außer Sonntags! Ich verdorre, ich versteinere, während ich schlafe; ich schlafe die ganze Nacht, zwölf Stunden, von acht bis acht, und ich halte Frühstücksschlaf, Mittagsschlaf, schlafe und schlafe. Wenn du wüßtest, was für ein Leben das ist! Das ist Scheintod! Seelsorge wollen sie nicht haben, und alle, die in Not und Elend geraten, gehen zu den Pietisten. Ich wünsche manchmal, ich wäre selbst Pietist, aber dann muß man glauben, und das kann ich nicht! -- Anders Borg, um des Himmels willen, hilf mir von hier fort, oder ich sterbe! Ich habe seit acht Tagen nicht gesprochen, und jetzt habe ich zu allem Elend noch einen Prozeß auf dem Halse. Ein Bauer hat Holz aus dem Pfarrwald gestohlen; ich habe es selbst gesehen und es dem Propst angezeigt. Jetzt bin ich wegen Beleidigung verklagt, weil ich nicht beweisen kann, daß ich den Diebstahl gesehen habe. Der Dieb geht frei aus, und ich kann ins Gefängnis kommen, ich, der doch kein Holz gestohlen hat. Die Bauern sagen, ich habe geklatscht, das sagen sie von dem Amtmann auch, wenn er sie anzeigt, und kürzlich wollte ein Spitzbube den Richter selbst wegen Beleidigung verklagen, weil dieser auf die Anzeige eines Polizeidieners, die voller Beweis ist, sein Urteil gefällt hatte. Was soll ich anfangen? Wenn ich verabschiedet werde, bekomme ich keine Anstellung als emeritierter Geistlicher.« Er würde nie zu reden aufgehört haben, wenn er nicht in Tränen ausgebrochen wäre. Und Anders Borg vergaß seine Sorgen vor diesem bodenlosen Elend. Da er aber nicht wußte, was er sagen sollte, fuhr der Vikar fort, überglücklich, seine eigene Stimme hören und sich beklagen zu können: »Was wollen sie mit Pastoren? Können sie es nicht machen wie die Juden und einen von den Ältesten der Gemeinde am Sonntag aus der Postille vorlesen lassen -- ich schreibe ja aus den Postillen ab, wie alle Pastoren. Können nicht verständige, redliche Männer die Grabrede halten und taufen? -- die Baptisten taufen doch, und die Pietisten teilen das Abendmahl aus, während sie wie die Apostel ihrem Beruf nachgehen. Weißt du, die Religion als Beruf und Broterwerb ist verkehrt. Und auf der Universität liegen und saufen, Spitzfindigkeiten und theologische Haarspaltereien lernen, das vertreibt alle Religiosität! Jetzt sollen die Geistlichen auch in der Kaserne exerzieren, sollen gezwungen werden, unanständige Lieder zu singen, sollen nächtliche Gespräche zwischen Soldaten mitanhören; das bedeutet mit der ganzen Kirche als Broterwerb Schluß machen!« Hier kam das Gespräch ins Stocken, denn Anders hatte zu wenig Interesse für die Kirche, um ihren Untergang beklagen zu können; außerdem war sein eigener Selbsterhaltungstrieb erwacht, so daß er während des letzten Teils des Gesprächs sich hatte ausdenken können, wo er jetzt seine zehn Kronen hernehmen würde. Deshalb stand er hastig auf und nahm mit den einzigen Worten der Ermunterung, die er finden konnte, Abschied: »Zerstreue dich, alter Junge! Komm herüber und besuche uns, dann wollen wir dich aufrütteln.« Der Vikar sah seinen Freund wie einen Fremden an, denn er war in seinen Hoffnungen, Teilnahme zu finden, getäuscht worden. Er griff aber nach seiner Pelzmütze, um ihn an den Strand hinunterzubegleiten; er scherwenzelte wie ein Hund und sprach in einem fort, jetzt aber über Bagatellen, über das Wetter und den Fischfang, über den Eisgang und die Gefahren auf See, alles vor tauben Ohren. Als Anders Borg sich über die Eisrinne gestakt hatte und im Schlitten saß, fuhr er nordwärts; doch da ihm der am Strande stehende Pastor einfiel, drehte er sich um, und jetzt sah er, wie der Verlassene die Mütze zum Abschied schwenkte. Das gab ihm einen Stich, zugleich aber empfand er den Trost des Verzweifelten, wenn er einen Menschen zu sehen bekommt, der noch verzweifelter ist. Ohne Heim, ohne Freunde, Ruin und Gefängnis vor Augen! dachte er. Es ist ein Jammer um ihn, aber wo soll ich zehn Kronen hernehmen? Diese Frage hatte er sich in seinem Innern schon beantwortet, da er nach Norden über den Fjord steuerte; denn da wohnte der alte Opernsänger, der sich, der Welt überdrüssig, mit seiner Pension und seiner Frau auf einen Hof zurückgezogen hatte, den er ohne Acker, aber mit Jagd- und Fischereigerechtsame gepachtet hatte. Eine Meile ist für ein Pferd lang, doch es lief sie auch noch, und Anders Borg war wenigstens eines freundlichen Empfangs und eines guten Tropfens sicher, wie es dann nachher mit den zehn Kronen auch ablaufen mochte. Im Vorbau stand der alte Sänger mit seiner Flinte und einem Jagdhund. Er kam von einer Hasenpirsch, natürlich ohne etwas geschossen zu haben, und war sehr erfreut, einen Menschen zu Gesicht zu bekommen; denn er wohnte in der Einsamkeit und hatte eine halbe Meile weit keinen Nachbarn. Während Anders Borg mit dem Schutzleder zu tun hatte, klopfte der Sänger dem schäumenden Pferde die Nüstern und sagte: »Du hast einen feinen Schlittentraber, Anders.« »Willst du ihn kaufen?« fragte Borg, nur um etwas zu sagen. »Wenn du ihn verkaufen willst! -- denn ich habe gerade einen auf Probe gehabt, der hatte Spat.« »Im Ernst, willst du ein Pferd kaufen?« »Ja gewiß!« »Dann kannst du meins nehmen; den Schlitten kriegst du zu.« »Was kostet es denn?« »Du sollst es für hundertfünfzig haben, mit Schlitten.« »Her damit!« »Bar?« »Bar! Komm herein, dann bezahle ich es dir aus!« »Aber du mußt mir einen Stuhlschlitten und ein Paar Schlittschuhe geben, damit ich nach Hause kommen kann! Viktor muß mich auf dem Eise schieben.« »Das sollst du haben! Also abgemacht!« Anders war gerettet, vom Strick abgeschnitten, aus dem Wasser gezogen; und nachdem er im Pelz ein Glas getrunken hatte, befand er sich auf dem Heimwege, als der Tag seinem Ende zuging, auf einem Stuhlschlitten sitzend, geschoben von dem Waldhüter, der auf Schlittschuhen hinterdrein lief. Als er sich im Dämmern der Heimat näherte, sah er das ganze Haus erleuchtet, und er dachte an seine arme Frau, die sicher von Besuch überrascht worden war und nichts vorzusetzen hatte. Um nicht ungelegen zu kommen, ging er den Steig hinauf und an der Eismiete vorbei, wo sein Hofhund blutend und von zwei Ulmer Doggen vom Herrenhof zerbissen dalag, die jetzt von der toten Kuh schmausten, während der rechtmäßige Besitzer zusehen mußte. Anders ging durch die Küche ins Haus und suchte das Schlafzimmer auf, um sich umzuziehen. Da saß seine Frau und weinte. »Was ist passiert? Wer ist hier? Warum läßt du die Gäste allein?« stürzten die Fragen über die Weinende, die in äußerster Verzweiflung antwortete: »Dein Vater ist hier und will bei uns bleiben ...« »Ich kann ihn nicht ernähren!« »Er sagt, du schuldest ihm eine größere Summe ...« »Was hat er hier zu tun?« »Er kann nicht länger bei sich zu Hause bleiben, denn sein Scheidungsprozeß soll beginnen, vor dem Kirchenrat.« »O Gott ...« »Es ist entsetzlich! Es ist entsetzlich!« Anders machte sich nach der abenteuerlichen Fahrt zurecht, um zum Vater hineinzugehen und vertrauliche Mitteilungen entgegenzunehmen, nach denen er kein Verlangen hatte. Aber er beruhigte erst seine Frau, indem er zwei Fünfzigkronenscheine auf den Toilettentisch legte; den dritten behielt er in der Tasche, denn die ewige Geldnot hatte ihn auch gegen seinen besten Freund tückisch gemacht. Achtes Kapitel Die neunziger Jahre (~Fin de siècle~) Der starke Naturalismus der achtziger Jahre mußte ins Meer verströmen, wie alle andern Ströme. Die naturwissenschaftliche Methode war verblüht und trug keine Frucht mehr; viele nahmen die Methode für die Wahrheit selbst und hielten eigensinnig an der morschen Planke fest, als sie unterging. Andere, die wachsen wollten, suchten neue Fahrzeuge, um weiter zu kommen. Sie schieden von dieser Periode allerdings mit Bedauern, denn diese Verwilderung, dieses Indianerleben war erfrischend gewesen wie das Räuberleben der Schuljungen in den Sommerferien; dieses einseitige Licht, das auf Welt und Menschen fiel, gab ein scharfes Relief, setzte die Dinge und die Ereignisse in Rembrandtsche Beleuchtung; diese Neueinschätzung alter Gegenstände brachte buchstäblich eine neue Weltanschauung mit sich, die nicht auf weite Entfernung, in der Nähe aber sehr scharf sah. Das war die mikroskopische Methode. Wer aber mit Mikroskopie gearbeitet hat, weiß nur zu gut, daß man Zellen und Gefäße sehen kann, wo nur Luftblasen sind, und daß das Staubkorn Gegenstand einer irreführenden Demonstrierung eines nicht vorhandenen Organs werden kann. Damals, 1889, bekam die Welt zwei neue Denker oder Propheten, Langbehn, den Verfasser von »Rembrandt als Erzieher«, und Nietzsche, in der Hauptsache Verfasser von »Jenseits von Gut und Böse«. So große Unterschiede auch zwischen diesen beiden bestanden, die als diametrale Gegensätze erscheinen konnten, so hatten sie doch eine gemeinsame Tangente, und das war ihre Reaktion gegen den Mikroskopismus. Langbehn ist in erster Linie Makroskopist. Was Rembrandt mit seinem Buch zu tun hat, hat nie ein Mensch begriffen; und obwohl man jeden einzigen Punkt in dem ganzen Werk widerlegen zu können glaubte, eröffneten sich doch hinter Tatsachen neue Perspektiven, und die Naturwissenschaft, die in den Händen der Detaillisten im Sterben lag, bekam neues Leben. Langbehn, mit dem das Jahrhundert hätte schließen müssen, ist eigentlich ein wiedererstandener Kant, mit dem das Jahrhundert begann; beide suchen die Rettung im Postulat und im Imperativ, da die Urteilskraft und die reine Vernunft nicht die Fähigkeit bewiesen hatten, die Welträtsel zu lösen oder dem Individuum den Halt zu geben, der nötig ist, um auf offner See Kurs halten zu können. Sowohl Darwin wie Haeckel hatten sich im voraus, wenn auch vergebens, gegen die raschen Konsequenzen verwahrt, die man aus ihrer Herleitung der Arten in Bezug auf die Emanzipation der Ethik gezogen hatte, und Langbehn reagiert gegen die naturalistische Psychologie, die zur Veterinärwissenschaft erniedrigt wird. Wenn die Naturalisten sagten: Laßt uns Menschen sein! so meinten sie: Laßt uns Tiere sein! Sogar die Theologie oder die Lehre von Gott wurde von der Zoologie hergeleitet. Die Furcht des Tieres vor dem Unbekannten und die Verwechselung von Traum und Wirklichkeit durch den Willen sollte der Ursprung der Religion sein! Was sollte man da von einer Welt glauben, in der die Menschen als Märtyrer für eine Unwahrheit gestorben waren? Was sollte man von dem Künftigen denken, wenn das Vergangene als Lüge hingestellt wurde? Achtzehnhundert Jahre Christentum, die eines schönen Tages sich als ein Irrtum erwiesen? Das war zu närrisch, und ein Schuß vor die Stirn war das einzige und das letzte! Dem Revolver stand die Menschheit jetzt gegenüber und sah keine Rettung. Da kam der zweite Prophet, Nietzsche, und erklärte zuerst, daß das Böse gut sei und das Gute böse, ferner, daß Gut und Böse nicht existierten. Das war die Apologie des Verbrechens, die Verbrechermoral, die in Oscar Wildes Perversität ihren schärfsten Ausdruck fand. Hatte Langbehn durch seine Negativbilder unfreiwillig die Lichtseiten des Naturalismus hervorgehoben, so trieb Nietzsche ihn durch Karikaturen aus, die seine Fehler betonten. In Paris war gleichzeitig ein Gefühl für die Unzulänglichkeit des Positivismus erwacht, und es begann Zeitungsartikel zu regnen mit Überschriften wie: »Hier wird eine Religion gesucht«; »Stellung findet ein Prophet«; »Zu mieten gesucht eine allgemeine, zeitgemäße Kirche«. Selbst Zola begann zu erwachen, und er, der als Zuschauer, ruhig, gefühllos dagesessen hatte, erhebt sich, um sich nach einer Religion umzusehen. In Lourdes findet er sie nicht, da sein Arzt das Wunder »erklärt«, nicht als Betrug -- das wäre zu alt --, sondern als Hypnose. Da geht er nach Rom, nicht ohne die Illusion, das Christentum modernisieren zu können und einen zeitgemäßen Kompromiß zwischen Wissenschaft und Religion zustande zu bringen. Aber das gelingt ihm nicht. Später sucht er als fanatischer Gläubiger seine Religion im Fortschreiten der Menschheit durch Wissenschaft und Arbeit zu Gerechtigkeit und Wahrheit und endet in Cabets paradiesischem Ikarien, wo das Lamm mit dem Löwen spielt und die Vögel des Waldes am vollen Tisch des Phalansters speisen, und wo es keine Armen gibt. Zola wuchs vom sterilen zoologischen Zweifel zum Glauben an Fortschritt zu Glück und Tugend (das war ein neues Wort). Aber viele seiner Schüler blieben im Wachstum stehen und fuhren fort, das abgenutzte Programm herunterzuspielen, das jetzt für Leierkasten gesetzt worden war. Zola endete also als Idealist im wahren Sinne des Worts; und obwohl er die religiösen Formen haßte und bekämpfte, besonders die römischen, war er auf seine Art religiös, gläubig. Doch die französische Jugend der neunziger Jahre hatte Zola nicht gekannt, wollte ihn nicht kennen, nichts mit ihm zu tun haben. Sie hatten einen ganz andern Lehrer und Propheten, und das war Josephin Peladan. Es ist unfaßlich, daß unsere Literarhistoriker, die vom Staat dafür bezahlt werden, die zeitgenössische Literatur zu verfolgen, nie die merkwürdige Erscheinung Peladans erwähnen, höchstens im Vorbeigehen mit einem Lächeln, während sie über seine deutschen Epigonen Vorlesungen halten. Man fragt sich, ob sie von seiner Existenz nichts wissen; oder ist es Peladans Schicksal, nie diese liederliche Popularität zu erreichen, die gewöhnlich damit endet, daß man vulgarisiert wird, daß der Haufe das Idol satt bekommt, daß die Größe fällt und auf den Kehricht geworfen wird? Schon 1884, also als Zola erst bis zum »~Bonheur des Dames~« gelangt war, beginnt Peladans Wirksamkeit mit dem ersten Bande seines Zyklus ~La Décadence Latine~ -- betitelt ~Le Vice Suprème~. In den zwanzig Jahren, die seitdem vergangen sind, hat er vierzehn Romane herausgegeben, außerdem Dramen und philosophische Arbeiten, insgesamt achtunddreißig Bände. Die vierzehn Romane laufen parallel mit denen Zolas, aber während dieser im Rougonzyklus das zweite Kaiserreich schildert, malt Peladan seine eigene Zeit, die dritte Republik. Finis Latinorum ist sein Motto, und er glaubt, daß die Lateiner untergehen; er sagt ihren Untergang voraus, schildert wie ein Juvenal alles Elend in dem modernen Paris; mit der gleichen Unerschrockenheit wie Zola und mit derselben naiven Schamlosigkeit. Sein Material an Erlebtem und Gesehenem ist unerhört, sein Stil lodernd vor Eifer; er taucht in den Schlamm unter, kommt aber immer wieder herauf, schlägt mit den Flügeln und erhebt sich zu den Wolken. Sein glänzendster Roman ist die »~Initiation sentimentale~«, ein Buch über die Liebe in allen Arten, Tonarten und Abarten, in dem er von allen möglichen Häusern die Dächer abhebt und die Eingeweide von Paris zeigt. Es ist ein furchtbares Buch, reich, groß, und schön trotz allem Häßlichen, das er darin darstellt. Derselbe Mann hat eine Großtat gewagt, und sie ist ihm gelungen! Er hat zu Äschylos' Prometheus die beiden Teile der Trilogie, die verloren sind, hinzugedichtet; und wenn sie im Ton nicht ganz dazu passen, so liegt das an ihrem reicheren und tieferen Inhalt, zum mindesten erscheint es jedem so, der nicht an die Unerreichbarkeit der Antike glaubt. Es wäre ja betrübend, wenn die Welt nicht fortschritte und Gedankenleben und Ausdrucksmittel ebenfalls vervollkommnete. Peladan ist kein Nationalist oder Revanchemann; er ist Weltbürger und hat in Frankreich trotz dem Widerstand der Patrioten Wagner eingeführt; und schwerlich hat irgend ein Deutscher seinen Wagner so gigantisch aufgefaßt wie Peladan den seinen. Für die moderne Kunst hat er durch seine Ausstellungen gewirkt, und alles, was Symbolismus heißt, hat er gestartet. Woran liegt es bei ihm, daß er nicht über seine Kreise hinausgedrungen ist? -- Ja, er war zu gebildet, um von allen begriffen zu werden; er war christlich wie ein Kreuzfahrer, und das war ihm bei den Heiden im Wege; er ging mit den Chequards und Panamisten der dritten Republik streng ins Gericht. Peladans Einfluß ist unberechenbar groß; doch er wirkt nicht direkt sondern durch seine Jünger. Man zitiert ihn nicht, aber man schöpft aus seinen Trögen; seine Person wurde preisgegeben und sie fiel wegen seiner Vatermörder wie Kierkegaard wegen des grünen Regenschirms; aber er lebt als die Stimme eines Rufenden, der germanische Bildung in sein Land einführte und dessen verschlossene Tore für Europa öffnete. * * * * * Der Menschengeist erwachte aus seiner Isolierung und fühlte die Kräfte aufhören, da er den Kontakt mit dem Jenseits abgebrochen hatte. Dies Suchen nach einer Verbindung mit dem Immateriellen war ein charakteristischer Zug der neunziger Jahre. Nachdem nämlich Haeckel in den achtziger Jahren sein ~Systema Naturae~ oder die Stammtafel der Schöpfung aufgestellt hatte, war es aus mit der Naturwissenschaft; nicht eine einzige neue Erfindung von Bedeutung wurde gemacht; die Serumtherapie machte den größten Alarm, erwies sich aber als falsch; dann kam nur noch Kleinkram auf allen Gebieten, kleine Entwickelungen alter Thesen und viel Hallo auf falschen Spuren. Die Naturwissenschaft war tatsächlich bankrott. Die Kraftquelle der Zeit, die Elektrizität, wurde durch den ungelehrten Edison in die Industrie eingeführt, der das Licht vervollkommnete und den Phonographen herstellte; das Telephon war Bells Erfindung aus den sechziger Jahren; so daß der herrschende Darwinismus keinerlei epochemachende Folgen für das kulturelle Leben der Zeit hatte, nicht einmal in der Chemie, wo Mendelejeffs periodisches System wie ein Grabmal auf dem Totenacker der Systematik steht. Da entdeckte man, daß man auf falschen Spuren war, und machte kehrt, um am Kreuzwege eine neue Straße zu suchen. Man hatte Erscheinungen und Tatsachen gesammelt, konnte aber nichts erklären; und erklären hieß doch, das herausfinden, was hinter dem Phänomen lag; als man nun merkte, daß das, was dahinter lag, sich »auf der andern Seite« befand, da suchte man ganz logischerweise das Jenseits. Das war die Mystik, die zu jener Zeit von sich reden machte. Und damals stieg Swedenborg nach hundertjährigem Grabesschlummer empor. Er kam auf vielen Wegen wieder. Durch Balzac, den man in einer billigen Ausgabe wieder zu lesen begann, während man in Swedenborgs Nichte Seraphita Spuren von Nietzsches Übermensch und Peladans Androgyn fand. Die Pariser Okkultisten entdeckten Swedenborg und Böhme wieder durch Forschungen in Eliphas Levi und Saint Martin; die Theosophen witterten ihn in der Geheimlehre Blawatskys. Aber die stärkste Stütze für den Mystizismus war das Erscheinen von Berthelots Geschichte der Alchimie. Dieser Positivist, der mit der Synthese der Kohlenwasserstoffe gearbeitet hatte, leistete hier dem Mystizismus einen unbeabsichtigten Dienst. Wenn man nämlich in wenigen Worten den Unterschied zwischen Alchimie und Chemie angeben will, so kann man sagen, daß die Alchimie an die Fähigkeit der Grundstoffe glaubte, in einander überzugehen (Transmutation), die neuere Chemie aber nicht. Nun hatte Berthelot im Lauf der Arbeit eine steigende Sympathie für die Alchimisten gezeigt, was den Mut der Kleinmütigen, weiterzuforschen, stärkte. Gleichzeitig hatte Crookes in seiner »Entstehung der Grundstoffe« die Ansicht ausgesprochen, die »einfachen Stoffe« seien entstanden und hätten sich einer aus dem anderen entwickelt. Lockyer hatte dem Französischen Institut seine Vermutung unterbreitet, Phosphor sei ein zusammengesetzter Stoff, weil er zwei Spektren besäße. All das stand ja im Einklang mit dem herrschenden Monismus oder der Einheit des Alls und hätte folgerichtig die Ansicht der Zeit sein müssen; aber inkonsequenterweise hielt man den Glauben an die spezielle, unveränderliche Natur der Grundstoffe aufrecht, wodurch man unfreiwillig die verworfene Lehre von besonderen Schöpfungsakten unterstützte. Berzelius wiederum hatte schon 1835 die wichtige Frage gestellt: »Sind die Metalle einfache Stoffe?« und in seiner Antwort darauf die folgenden entscheidenden Worte ausgesprochen: Ein Körper, den ich den Metallen beigeordnet habe, ist Ammonium, das aus Stickstoff und Wasserstoff besteht und dessen Metallisierung vermittelst Elektrizität den Gedanken an ein zusammengesetztes Metall zuzulassen scheint ... Was den einfachen Zustand der andern Metalle zweifelhaft macht, ist, daß sie in der organischen Natur aus Stoffen zu entstehen scheinen, die keine Spur von diesen Metallen enthalten. Im selben Augenblick aber, wo die Metalle nicht einfach waren, konnten sie ineinander übergehen, und die selbstverständliche Schlußfolgerung daraus ergab sich mit gebieterischer Unwiderstehlichkeit: Man kann Gold machen! Die nächste Schlußfolgerung war: Man hat immer Gold aus Schwefelkies »gemacht«, wenn man es auszuziehen geglaubt hat. Was Gahns Beobachtung erklärt, daß fast aller Schwefelkies Gold enthält. Doch die Trägheit der menschlichen Gehirne, besonders der trainierten, ist so groß, daß sie, wenn sie das erste Corollarium gezogen haben, das zweite nicht zu ziehen vermögen. Deshalb löste sich das Staunen in ein dummes Grinsen auf, das allmählich boshaft wurde und damit endete, daß man die Zähne zeigte. Als schließlich in unserm neuen Jahrhundert Ramsay (und Kelvin) bewiesen, daß Radium Helium werden kann, bekamen die alten Routiniers Krämpfe, da sie einsahen, daß sie auf falschem Wege waren und es zum Umkehren zu spät sei. Dies war die Geschichte der Goldmacherei in den neunziger Jahren, die so einfach war, einfacher als das Ei des Kolumbus. Um aber zu Swedenborg zurückzukehren: Hundertköpfig stieg er aus dem Grabe: die Astronomen in Pulkova grüßten ihn als Astronomen, als Vorgänger Kants und Laplaces; die Zoologen entdeckten ihn und stellten fest, daß Buffon in seiner Einleitung zum Tierreich seine Kosmogonie geplündert habe; die Chemiker und Bergkundigen besonders huldigten ihm; und schließlich kamen Physiologen und Anatomen in Scharen, um dem Wiedergeborenen Weihrauch und Myrrhen darzubringen! Gekrönt aber wurde Swedenborg von einem Literarhistoriker Max Morris, der in einer längeren Abhandlung das liberale Idol der Zeit, Goethe selbst, als Schüler Swedenborgs hinstellte. »Swedenborg im Faust« heißt der Aufsatz (im Euphorion 1899, Heft 6), in dem aus den ~Arcana Coelestia~ bewiesen wird, daß Fausts Berührungen mit der Geisterwelt von Swedenborg vermittelt sind, über Kant und Fräulein von Klettenberg (schon 1771). Was sagten die Goethe-Freunde dazu? Nichts, denn wenn man keine Antwort hat, sagt man gewöhnlich nichts! * * * * * Dies waren die hauptsächlichsten geistigen Bewegungen des Jahrhundertendes, die in den letzten Jahren doch in einigen großen Funken flammend aufglühen sollten, um dem neuen Jahrhundert zu leuchten, das vielleicht das allergrößte werden wird, wenn auch das neunzehnte Jahrhundert das größte war, -- nach dem fünfzehnten. Neuntes Kapitel Esther Esther Borg, die Tochter des Redakteurs und Frau Britas, war ein Mädchen ohne Schönheit, das wußte sie selbst; und deshalb erwachte sie früh zu dem Entschluß, etwas zu werden, statt auf einen Mann zu warten. Mit siebzehn Jahren wurde sie Studentin und ging nach Upsala, um Medizin zu studieren, nicht aus besonderer Begabung, sondern um etwas zu tun zu haben. Sie kam durch ihren Namen in Kreise, in denen man mit den Fragen der Zeit fertig war und eine neue Auffassung vom Leben bekommen hatte, eine Antizipation des Kommenden. Es waren keine Zweifel oder Befürchtungen mehr, es waren Axiome. Von den männlichen Kameraden wurde sie als Kamerad behandelt, aber als ein männlicher, vor dem man sich nicht genierte. Das hatte anfangs für sie einen gewissen Reiz, und sie fühlte sich über ihre Stellung als Geschlechtswesen emporgehoben; aber sobald ein weiblicher Kamerad von einiger Schönheit in den Kreis kam, wurde es anders. Wenn dieser als Kamerad aufgenommen wurde, geschah es in anderer Art. Die Schöne wurde mit Ritterlichkeit behandelt, als eine überlegene inkommensurable Größe; mit einem Wort als Frau. Der rohe Scherz verstummte, die Herren wurden gesittet, Wärme verbreitete sich, und eine Stimmung voll dumpfer Lyrik legte sich über die Gesellschaft, in der Esther ihren Platz nicht wiederfand; denn sie konnte ja von weiblicher Schönheit nicht angenehm berührt werden, noch das Entzücken ihrer Kameraden einer Angehörigen ihres Geschlechts gegenüber teilen. Da spürte sie das Schiefe ihrer Stellung; und sie empfand die Gleichheit mit dem Manne als eine Beleidigung, eine Kränkung, besonders, da sie vernachlässigt wurde. Deshalb achtete sie nicht mehr auf ihr Äußeres, legte alle Weiblichkeit ab, ging in Kneipen, schob Kegel und nahm eines Abends an einer Prügelei mit Handwerksburschen teil. Beim Radeln trug sie eine Sportjacke mit Kniehosen, und dies Kostüm nahm ganz allmählich die Form einer Männertracht an. Die Kameraden vergaßen auch allmählich, daß sie Weib war, nannten sie nie Esther, sondern Borg, im Anfang; abends aber hieß sie Pelle und trug dann einen Kaisermantel mit Pelerine und die Studentenmütze, so daß jeder sie für einen Mann halten mußte. Eines Abends nach einer großen Kneiperei auf der »Rolle« schlug ein Mediziner vor, zu Mädchen zu gehen; und Pelle ging mit; das fand man ganz natürlich. Als Szene war es freilich neu, obwohl es vor dem Studenten der Medizin Esther Borg keine Geheimnisse gab. Die Mädchen guckten den Burschen zwar etwas erstaunt an; aber sie hatten an anderes zu denken, und man war ja hauptsächlich da, um zu trinken und zu schwatzen. Unter den Gästen befand sich auch ein junger Graf, der wußte, wer Esther war, und es doch seltsam fand, ein Mädchen aus guter Familie an einem solchen Ort zu treffen. Einen Augenblick leerte sich der Raum, so daß der Graf und der falsche Jüngling allein blieben. Das Zimmer hatte eine gewisse Stimmung; da die Decke niedrig war, konnte über dem Kopf keine Dunkelheit entstehen; die Wände waren von geschnitzten Leisten in Felder eingeteilt mit gemalten Landschaften, auf denen Schäfer und Schäferinnen ihre Schafe hüteten und Kirschen aßen, unschuldig, kindlich. Die Fenstervorhänge waren aus großblumigem Taft, und zwischen ihnen sah man das Schloß im Mondschein. Der Graf hatte sich an das alte Klavier gesetzt und klimperte jetzt mit den Tasten, als erwarte er, durch eine Anrede Esthers unterbrochen zu werden. Aber als sie hartnäckig schwieg, spielte er Chopins zweites Nocturno in ~G~-Dur. Esther kannte es nicht, deshalb staunte sie über die schönen Töne, die in diesem Augenblick zu entstehen schienen. Modulationen in Dur, die wie Moll klingen, der tiefste Schmerz, der seinen eigenen Trost in sich trägt; eine schlaflose Nacht, die die Wohltat hat, nicht von schweren Träumen gestört zu werden, wie qualvoll das Wachen auch sein mag. Der Ort veränderte sein Aussehen, die Umgebung vergoldete sich, und das junge Mädchen wurde von einer Wehmut ergriffen, die ihrer indolenten Natur fremd war. Sie war hierhergekommen wie in den Seziersaal, wo es schrecklich war, wo aber das Häßliche vom Interesse geadelt wurde. Plötzlich öffnete sich ihr eine andere Welt der Reinheit und Schönheit; eine lichte Wolke isolierte die beiden von der unsauberen Umgebung, stellte sich schützend um sie und ließ sie vergessen, wo sie waren. Als der Graf aufhörte zu spielen, mußte er sprechen, da sie nichts sagte. »Wissen Sie, was ich gespielt habe?« »Nein, ich kenne es nicht.« »Das war Chopin! Und ich habe das Gefühl, als habe er dies Nocturno eines Nachts gedichtet, an einem solchen Ort, wo man wehmütig wird in dem Suchen nach einer Freude, die man nicht findet; wo man das Elend des ganzes Daseins vor dem Unvollkommensten alles Unvollkommenen empfindet.« »Glauben Sie wirklich, daß Chopin solche Orte besucht hat?« fragte das Mädchen, das noch nicht recht bei der Sache war. Der Graf lächelte schwermütig: »Ja, sicher hat er das getan; ist das so sonderbar? Sie und ich sitzen ja auch hier.« Dies Sie und ich hob sie empor, schloß sie zu einem wir zusammen. »Das stimmt,« antwortete Esther naiver als sie wollte, da sie damit ja die Artigkeit akzeptierte. Der Graf lächelte über den weiblichen Zug, eine Schmeichelei nicht zu verschmähen; und in diesem Augenblick fühlte das Mädchen, daß sie von jemand vom andern Ufer angesprochen wurde, und sie suchte einen Kontakt mit diesem besseren. »Was tun wir hier eigentlich? Warum sind Sie hier?« fragte sie unwillkürlich fast vorwurfsvoll. »Ja, mein Fräulein, das ist nicht leicht zu sagen. Ich gehe mit; ich lasse den Schatten eines Verdachtes auf mich fallen, daß ich den andern gleich bin, um einem andern ungerechten Verdacht zu entgehen. Im übrigen haben dieser Ort und seine Bewohner eine Anziehungskraft. Sie erinnern an einen Naturzustand, den wir überwunden haben, deshalb scheint mir Ihr Benehmen naiv wie das des Landmädchens. Ich sehe nie etwas Unkeusches, nie irgendwelche Reue, die das Bewußtsein eines Unrechts andeuten würde; ich verstehe es nicht, aber ich kann es nicht verurteilen, ich billige es freilich auch nicht. Letzte Weihnachten, am Weihnachtsabend, ging ich an der Frauenabteilung des Krankenhauses vorbei. Das Haus sieht aus, als litte es an allen Krankheiten, die es gibt, und der Putz ist stellenweise abgefallen wie Wundschorf. Also, ich ging in Weihnachtsgedanken da vorbei, und durch das Fenster zu ebener Erde mit dem Eisengitter drang Gesang auf die Straße hinaus; ich empfand einen Augenblick unendlichen Schmerz, als ich mich in die Lage dieser Unglücklichen versetzte -- denken Sie, ein Weihnachtsabend da drinnen! -- Aber was geschah? Der Gesang drang lauter zu mir heraus, und ich hörte: ›O wonnevolle Studienzeit ...‹« Esther unterbrach ihn und fuhr fort: »Ich hatte gerade an dem Abend drinnen die Ronde, und ich sah sie um den Weihnachtsbaum tanzen, an dem ein Kruzifix hing, das sie von den Elisabethschwestern bekommen hatten. Sie zeigten die gleiche ungeheuchelte Freude über den Gekreuzigten wie über die Pfefferkuchenmänner. Sie nannten den Gekreuzigten Erlöser, nicht Christus, und den Namen Jesus sprechen sie nie aus. Sie glauben an den Erlöser und sprechen von ihm wie kleine Kinder; hören sie einen Freidenker lästern, so schaudern sie und drücken ihren Abscheu aus. Können Sie diese Menschen erklären?« »Nein, das kann ich nicht!« antwortete der Graf; »und deshalb behandle ich sie stets mit einer indifferenten Achtung als Mitmenschen. Ist Ihnen übrigens aufgefallen, daß man an ihren Wänden nie ein unanständiges Bild sieht, fast nie aus ihrem Munde ein plumpes Wort hört ...« »Ja, ich als Arzt und (hier stockte Esther vor dem Wort, sprach es aber aus) -- und Frau höre ja nicht ...« »Ich auch nicht,« antwortete der Graf. Nun lachte Esther: »Das hängt vielleicht davon ab, mit wem sie sprechen.« Der Graf errötete wie ein Mann, dem von einer Frau eine Schmeichelei gesagt wird, und um seine Verlegenheit zu verbergen, fuhr er mit großem Eifer fort: »Aber das Charakteristischste an diesen Mädchen ist ihre Freude am Lachen; es soll lustig sein, alles soll lustig sein, nicht, wie wir früher glaubten, weil sie vergessen oder das Gewissen betäuben wollen; man nennt sie ja Freudenmädchen, und das ist das rechte Wort. Was ist dies eigentlich für eine natürliche Auslese von Menschen? Was sagt Ihre Wissenschaft über die Sache?« »Sie kann nichts sagen, denn sie weiß nichts. Möglich ist, daß sie nahe Nachkommen von Wilden sind, da sie ein anderes Gewissen haben als -- wir, denn es ist fast unmöglich, ihr Schamgefühl zu wecken; sie wollen nichts davon hören, verstehen es nicht, schlagen es in den Wind, und die größte Furcht haben sie vor ernsten Männern.« »Ja, das weiß ich,« antwortete der Graf; »mich hassen sie, weil ich so langweilig bin, und ich habe doch nie versucht, vernünftig mit ihnen zu reden; aber ich kann nicht lachen ...« »Nicht? Es ist doch so gesund!« »Wenn ich einmal etwas zu lächeln habe, werde ich lächeln, das ist menschlich; aber lachen ist immer boshaft und wird vom Barocken, Verzerrten, vom Bösen hervorgerufen; deshalb löst es sich gewöhnlich in tränende Augen auf und hat oft ein Gefühl der Leere zur Folge, das in wirklichem Weinen, Weinen ohne Ursache endet.« Jetzt erst bemerkte Esther, daß der junge Graf im Frack war. Das sah er und fuhr fort: »Sie sehen meinen Frack an! Ja, ich war bei Professor X. zum Abendessen.« »Nun?« »Es ist schauderhaft, aber vielleicht nützlich. Die Jungen üben sich im Schweigen und die Älteren im Verschweigen; alle gehen wie mit Halftern umher, um nicht zu beißen; und heute abend war die Gesellschaft so, daß keiner ein vernünftiges Wort zu äußern wagte; alle schwiegen. Das nennt man Meinungen austauschen. Wissen Sie, nach einer solchen Maskerade sehnt man sich förmlich danach, hierherzugehen. Sonst pflegen alle Gäste ins Café zu eilen, um dort aussprechen zu können, was in der Gesellschaft nicht gesagt wurde.« »Finden Sie es amüsant zu leben?« fragte Esther ganz schnell. »Zu leben? Ist das: leben? Hier ist doch nur die Rede von töten, alle gesunden, starken Triebe zu töten, die das Leben erhalten sollten; und tötet man sie nicht durch Entsagung, sondern macht ihnen Luft, so stirbt man im Krankenhause oder verendet später im heiligen Ehestande am kalten Brand. Die Sache mit der Lebensfreude in den achtziger Jahren war ein furchtbarer Schwindel; die Propheten nahmen ein trauriges Ende, und alles ging wieder in die alten Gleise zurück. Wissen Sie, daß ich einen Freund habe, der im Krankenhause liegt und ganz sacht und allmählich stirbt?« »Ich kenne ihn; Sie meinen den Dichter?« »Ja, wollen wir hingehen, im Mondschein? Er nimmt die Sache ganz ruhig.« »Gern,« antwortete Esther, und sie brachen auf. Die Herbstnacht war mondhell und lau; sie gingen stille kleine Gassen, breite, grüne Straßen und kamen in den Park des Krankenhauses. Unter den riesigen Bäumen waren Zelte aufgeschlagen für die Kranken, die dort schliefen oder wachten, je nachdem. Unter einem Ahorn aber saß der Unterarzt mit einem Kandidaten und trank Whisky. Esther und der Graf, die beide kannten, traten heran und fragten nach dem Dichter. »Ja,« antwortete der Unterarzt, »er liegt hier ganz in der Nähe und ist wach; aber er macht es wohl nicht mehr lange, da er zu Professor X. geschickt hat.« »Was? Zu dem Theologen?« fragte Esther erstaunt. »Ja, der Alte und Axel verkehrten ja in aller Freundlichkeit, um sich zu streiten, in aller Freundlichkeit, und der Dichter hat uns gebeten, ihrer letzten Schlacht beizuwohnen, um falsche Berichte über deren Verlauf unmöglich zu machen.« »Können wir denn inzwischen zu ihm gehen?« »Bitte; er liegt und liest Andersens Märchen.« Esther und der Graf gingen ins nächste Zelt; da lag Axel E. und las beim Schein einer Laterne. Es war eine kleine, abgezehrte Gestalt mit schwarzem Vollbart, von exotischem, französischem oder italienischem, Aussehen; seine Augen waren groß, glänzend, und er forschte eine Weile, bis er die Eintretenden erkannte, denn seine Augen begannen zu versagen wie sein Gehör. Dann lächelte er, reichte jedem eine Hand und bat sie mit flüsternder Stimme, Platz zu nehmen. Er wußte wohl, daß er sterben würde, aber er verschwieg es sich selbst und wollte nicht, daß ein anderer es sagte. Bisweilen aber fuhr der Hochmut in ihn, und dann pflegte er mit seiner Furchtlosigkeit zu prahlen. »Ja, Kinder,« flüsterte er, »jetzt erlösche ich; das Auge verliert sein Licht, das Ohr sein Gehör und die Stimme ihren Klang.« Jetzt hustete er, unheimlich, denn er hatte Kehlkopfschwindsucht. »Aber seht ihr, noch ist keine Gefahr, denn der Puls geht in den Nächten auf achtunddreißig Grad herunter; und die Nächte sind das schlimmste. Freilich wäre es schade, wenn ich jetzt wegmüßte, wo ich von Tabak, Alkohol und all dem andern gereinigt bin. Ich fühle mich wie innerlich gewaschen. Ja, es ist häßlich zu leben. Hört einmal, dieser Ephraim ist ein komischer Kerl. Er hat mir aus Norrbotten einen Brief geschrieben und fängt so an: Wenn dieser Brief dich noch am Leben trifft. -- So schreibt man nicht an einen kranken Menschen. Ja, das Leben! Wißt ihr, was das schlimmste ist, was ich erlebt habe? Setzt euch, dann sollt ihr es hören! ... Esther, du besinnst dich auf das Mädchen mit dem roten Haar, nicht wahr! mit dem ich mich verheiraten wollte. Ja, wir reisten nach Petersburg, und nach dem ersten Glück kam die Langeweile. Wißt ihr, was Langeweile zu Zweien ist? Allein kann sie schlimm sein, ist aber ganz erbaulich; zu zweien jedoch ist sie grauenvoll; ist sie der Tod; man ist aneinander gebunden, aber man haßt sich, grenzenlos, weil man einander bindet. Nun, sie hatte in aller Heimlichkeit Papiere beschafft, die auch mich durch die Trauung binden sollten. Als ich entdeckte, wer sie war, machte ich meine Armut gegen die Eheschließung geltend, doch da antwortete sie: ich habe Geld. Wir bewohnten in einem einfachen Hotel ein Zimmer. Aber eines Tages -- sie war halbe Tage fort -- führte sie mich in ein Restaurant, das erste in Petersburg. Dort stellte sie mich einem Freunde vor, der uns zu einem Hundertfrankendiner einlud. Ich brauchte ja nur die Augen aufzumachen, um zu begreifen; und als sie beim Champagner einen Blick wechselten, faßte ich einen Entschluß. Also gut, nachdem wir in der Nacht nach Hause gekommen waren, stellte ich mich schlafend. Als ich merkte, daß sie schlief, stand ich auf, nahm ihr Portemonnaie, denn mein Geld war zu Ende, ergriff meine Kleider und Schuhe und schlich auf den Flur hinaus; und im eiskalten Winter kleidete ich mich auf dem steinernen Hausflur an. Daran lief ich zum Bahnhof. Doch es fuhr erst sechs Stunden später ein Zug ab. Kinder! Ich lief sechs Stunden auf dem Bahnhof umher! Und in der Angst, als Dieb festgenommen zu werden! -- Aber es gelang mir zu fliehen! -- -- Als Dieb! Was sagt ihr dazu? -- Und wie würdet ihr gehandelt haben?« »Ebenso,« antwortete der Graf, sei es, um einen Sterbenden zu trösten, sei es, weil er sich der Tat fähig glaubte. »Dieb!« wiederholte Axel E. »Nun, hast du es dir später zum Vorwurf gemacht?« fragte Esther. »Nein,« antwortete der Dichter, »könnt ihr euch das vorstellen? Ich habe mir keine Vorwürfe gemacht; aber ich bin wütend gewesen, weil ich mich in eine so schmutzige Situation hatte hineinziehen lassen. Ich handelte in gutem Glauben, in Begeisterung, und in ... aber auf wen ich böse sein soll, weiß ich nicht. Zufall, Schicksal, Umstände sind für mich Personen, die ich nicht definieren kann, die ich aber als lebende Wesen anerkenne.« »Warum hast du den Professor rufen lassen?« schnitt jetzt Esther ab, die mehr für Wirklichkeiten war. »Den Professor? Ach so, das hatte ich vergessen! Ja, ich war allein und wollte mit ihm streiten.« »Willst du nicht lieber Morphium haben und schlafen?« »Morphium wirkt nicht bei mir; nein, ich will wach sein und reden; ich will meine Stimme hören, so lange sie zu hören ist!« Jetzt zeigte sich in der Tür des Zeltes ein weißer Greisenkopf, der nicht vom gewöhnlichen Schlage war. Es war kein Pauluskopf, auch kein Petrus, aber etwas von beiden. ~En face~ leuchtete Wohlwollen, Ergebung in das Schicksal, christliche Demut daraus; im Profil aber zeigte sich ein Druide, ein Odinspriester, der nach dem Flintmesser sucht, um den Gefangenen das Herz auszuschneiden. Man dachte an die Galgen von Upsala, an die Äste des Odinshaines, wo die Geschlachteten als Opfer für den unversöhnlichen Versöhner aufgehängt wurden. Axel E. aber, der die kolossale Silhouette des Alten sah, die der Laternenschein auf die Zeltleinwand warf, fand in dieser Zeichnung einen Wolkengreis, wie man ihn nach dem Gewitter sieht, etwas von Zeus oder Moses, und er wurde unwillkürlich eingeschüchtert, wie alle, die in die Nähe dieses Beichtvaters der Jugend kamen. »Nun, mein lieber Axel,« begann der Alte, »wie geht es dir jetzt?« »Recht schlecht, Onkel,« antwortete Axel E., der schon bereute, in seiner Schwäche diesen robusten Kämpen herausgefordert zu haben. »Wie steht es denn mit deiner Seele?« »Ja, siehst du, Onkel, an die habe ich in diesen neunzig Tagen gedacht, aber ich komme nicht zur Klarheit.« »Nicht? Nicht? Bist du dir deiner Schuld nicht bewußt geworden?« »Nein, das bin ich nicht. Daß ich ein Sünder bin, weiß ich, denn wir sind in Sünde geboren; da wir aber alle Sünder sind, so bin ich keine Ausnahme und brauche meine Sünden nicht einem andern Sünder zu bekennen, der ebensogut mir beichten müßte, da wir ja Geschwister sind ...« »Du bist noch weit entfernt, mein Junge ...« »Warte ein wenig, dann will ich alles im Zusammenhang sagen, und meine Freunde hier sollen meine Zeugen sein ...« Hier hustete er, und seine flüsternde Stimme bekam ihren Klang wieder, als er sich in sitzende Stellung aufrichtete. »Ich war zwölf Jahre alt, als meine Mannbarkeit sich zeigte. Aus reinem Unverstand, im Spiel, wurde ich von einem älteren Kameraden verlockt, den ich später als den Verführer meiner Jugend verflucht habe, viel später, als ich ihn wiedersah und er seinen Verführer namhaft machte. Ich wurde von einem Buch eingeschüchtert, das mich fast ins Irrenhaus gebracht hätte, weil es mir Furcht vor den ewigen Strafen einflößte. Ich wurde Pietist und glaubte, jetzt würde ich Frieden finden; aber den Gemütszustand, den die Religion mit sich bringt, möchte ich Unseligkeit nennen; alles wurde schwarz um mich her, Welt und Menschen, und das schlimmste waren die Askese und die Quälerei. -- Ich lag auf dem bloßen Bettboden, die Gurten schnitten in meinen Körper, und ich fror unter dem dünnen Laken; ich sprach mein Abendgebet auf den Fliesen vor dem Kachelofen; ich hungerte; ich demütigte mich vor den Menschen, so daß ich in den Rinnstein hinunterging und jedem auswich, weil ich mich für schlechter hielt als alle andern und nicht würdig, auf dem Trottoir zu gehen. Als ich mich nun selbst überwunden hatte, wurde ich im Schlaf von Träumen überfallen; und das neue Unerklärliche erschreckte mich so, daß ich nicht zu schlafen wagte; der heilige Schlaf war mir zum Fluch geworden; aber meine Seele war rein, denn ich dichtete nur Schönes, das wißt ihr alle, die ihr meine Jugendgedichte gelesen habt. Als ich nun sah, daß der gute Wille, daß alle Anstrengungen vergeblich seien, als ich dachte, mein Leben werde entschwinden, als ich erkannte, daß meine Gebete zu Gott nur mit Hohn beantwortet wurden, da glaubte ich in der Hölle zu sein, glaubte, Gott habe mir den Rücken gekehrt. Da las ich Stagnelius und erhielt von ihm eine Art Erklärung des Elends. Die Seele sei in das Gefängnis des Körpers eingesperrt und könne sich nur dadurch frei erhalten, daß sie dann und wann dem Tiere in Form eines Opfers ein Stück Fleisch hinschleudere. Ich tat das -- und immer, wenn ich es getan habe, hat meine Seele den Anker gelichtet, und ich bin über den Sumpf weggeflogen. Sobald ich aber wieder in Askese verfiel, beschäftigten sich meine Gedanken nur mit sensuellen Dingen, so wie der Hungrige stets an Essen denkt. Dann bekam ich diese Krankheit! -- Da fragt man sich, warum nicht alle sie bekommen, und warum nicht zuerst die davon ergriffen werden, die Unzucht als einen Sport betreiben, was ich nicht getan habe. Antwortet darauf! Die Ärzte sagen, einige Individuen seien immun, weil ihre Eltern verseucht gewesen sind ...« Jetzt erhob sich der Alte zornig und warf das Druidenhaupt herum: »Hast du mich rufen lassen, damit ich hier sitzen soll und so eine Schweinerei anhöre?« »Ja, Alter, du sollst mich anhören,« schrie der kleine Mann im Bett und faßte dem andern in das weiße Barthaar, als wolle er einen falschen Bart herunterreißen. »Du sollst mich anhören, du sollst wissen, bevor du richtest. Du sollst wissen, daß meine Gefühle drauf und dran waren, auf Abwege zu geraten, als ich mich durch Enthaltsamkeit von dem Höllenbrand zu befreien suchte; du sollst wissen, daß mir von dem Hausarzt meines Vaters befohlen wurde, Weiber aufzusuchen und daß es mit Willen und Wissen meines Vaters geschah.« »Das lügst du,« antwortete der Menschenopferer. »O schäme dich! Schäme dich! Du Alter, der du im Ehebett mit einer Frau geschlafen hast, die du liebst, ein Glück, das einem jungen Manne nie beschert wird, weil er kein Brot hat: du solltest bedauern, du solltest trösten, aber du hast nur Steine und Schlangen, wo du Brot und Fisch geben solltest.« Der Alte griff nach dem Buch auf dem Nachttisch, und als er Andersens Märchen sah, legte er es mit einer nachsichtigen Miene der Enttäuschung zurück. »Ja, wettere über die Märchen, aber lies das von den bösen Träumen des Priesters, wenn er über die ewigen Strafen gepredigt hat. Kennst du das?« »Hier ist meine Rolle ausgespielt,« verhaspelte sich der Druide. »Du sagst es selbst: deine Rolle,« fuhr der Sterbende fort. »Besinne dich auf die Regungen der Weltlust in dir selbst, der du der Jugend predigst, denke an die ganze ›Freiheit des inneren Sinns von den Verlockungen dieser Welt‹, wenn die Welt dich das nächste Mal verlocken will, du Hofprediger! ›Wehe dem, der in diesem Kampf unterliegt und die Waffen streckt,‹ ~Principiis obsta!~ Du kennst die Versuchungen der Jugend, Alter, aber du kennst nicht die des Alters, wenn weltliche Ehre und Auszeichnung dich zum Abfall locken; dein Tag wird kommen, da du deinen Heiland dreimal verleugnen wirst, Petrus, da du dich verleiten läßt, den Antichrist zu rühmen, der mit seinen Schleichlehren die Sünde entschuldigt, da Gott dich mit Blindheit schlägt, so daß du dich bemühen wirst, den Thron dessen einzunehmen, der unsern Heiland in die Ferse gestochen hat! Gib acht, wenn dieser Tag kommt, und denke dann an mich, der nicht mehr ist ...« Hier erlosch die Stimme des Kranken, und er sank zum Schlummer auf das Kissen zurück. Der Hofprediger -- denn in diese Haut war er jetzt geschlüpft, und er hatte viele zur Verfügung -- wurde groß, bei dem Gedanken, vor der studierenden Jugend, die die erhaltene Lektion angehört hatte, seine Würde wahren zu müssen; und als wolle er den Fall dem zuständigen Arzt überlassen, grüßte er zum Abschied mit der Hand und warf eine Phrase hin: »Sie sorgen wohl dafür, daß er schlafen kann, Herr Doktor.« Jetzt entwickelte sich der Wolkengreis an der Zeltdecke und wurde erschreckend groß, der Kopf eines Riesen, des Urmenschen, der nach Kirchen mit Steinen warf, Glocken nicht vertragen konnte und vor dem Geruch von Christenblut schauderte. Dann schrumpfte der Riese zusammen und kroch durch die Zeltöffnung hinaus. Der Nachtwind von der Ebene schüttelte die großen Ahorne, die wie ein Bach zwischen Kieseln rauschten und rieselten; die Zeltleinwand wellte, und die vier Eckpfosten der Laterne warfen ihr Schattenbild wie einen Käfig, in dem der Kranke lag mit dem weißen Gesicht, das den unendlichen Schmerz eines Menschen ausdrückte, der unverdient zu leiden glaubt. »Er schläft ohne Morphium,« sagte der Unterarzt, nachdem er den Puls gefühlt hatte. Die drei jungen Menschen gingen hinaus und setzten sich unter den Ahorn an den Whiskytisch. Der Mond hatte sich gesenkt und leuchtete weiß auf die Zelte; ein Zeltlager, das für Verwundete und Sterbende aufgeschlagen war. »Ja, Kinder,« begann der Unterarzt, »werdet ihr klug aus dem Professor? Ich als Theosoph und Martinist neige zu der Annahme, daß irgend eine fremde Seele sich früh als Pfropfreis an diesem wilden Stamm festgesetzt hat und parasitisch auf ihm weiter lebt. Dieser Großinquisitor ist im Grunde ein anderer, als er scheint; wenn ich ihn rasieren und scheren könnte, würdet ihr wahrscheinlich einen Typ aus Lombrosos Album vor euch haben: ich meine, er ist ein böser Mensch, der zum Bewußtsein seiner Bosheit gekommen ist und deshalb diesen Pfahl im Fleisch hat, den man Religion nennt; oder er hat sich selbst die Kandare angelegt, um nicht zu beißen. Habt ihr nicht bemerkt, daß gute Menschen nie Pietisten sind? Und daß Pietisten auf uns gewöhnliche Sünder immer einen boshaften Eindruck machen? Ich war Pietist, als ich jung war, und ich nahm die Religion hin wie bissige Hunde das Nagelhalsband. Ohne die strenge Religion meiner Jugend wäre ich ein Unmensch gewesen, denn ich war von Natur nicht gut. Pietismus ist ein Gemütszustand, der sich einstellt oder ausbleibt; es ist also idiotisch, einen Menschen wegen seiner Gemütsverfassung zu hassen oder ihm einen Vorwurf daraus zu machen; Pietismus ist ein Pönitenzzustand, ein Streben nach der Erziehung zum Übermenschen; es mißlingt freilich oft, deshalb erscheinen die Pietisten als Heuchler, sind es aber nicht; ein religiöser Mensch ist immer ein wenig schlechter als andere, weil er die Geißel braucht, und ein wenig besser als andere, weil er sie anwendet. Denkt euch einen Oftedal ohne Religion! Das wäre wahrscheinlich ein Caligula gewesen; jetzt wurde er nur ein kleiner Ludwig XV.; das ist immerhin ein Gewinn. Was Axels Bekenntnis betrifft, so weiß ich, daß es wahr ist; und es war schrecklich, mit anzuhören, daß der Alte ihn zum Lügner machte; aber er versteht es am Ende nicht besser, denn er hat das Leben wohl nie gelebt. Und das ist die große Frage, seht ihr, ob man durch den Sumpf hindurch oder um ihn herumgehen soll. Ich weiß es nicht; manche tauchen einmal unter und schwimmen weiter; andere bleiben auf dem Grunde. Das scheint jedem einzelnen vorausbestimmt zu sein, und der Gnostizismus, den Axel von Stagnelius bekam, scheint ihm das Bedürfnis eingegeben zu haben, die materielle Basis zu vernichten, um das Geistige zu befreien. Wenn die Religion im Großen genommen Anknüpfung an das Oben ist, so war Axel religiös, denn er befand sich ständig auf dem Fluge, suchte stets hinter dem Phänomen, faßte das Leben auf als etwas Provisorisches, Vorübergehendes, ein Gastspiel auf der Durchreise, litt unter dem Dasein und sehnte sich heim. Er war kein böser Mensch, eher das Gegenteil ...« Hier wurde der Sprecher von Esther unterbrochen, die erregt war: »Warum sagst du, er war?« Der Arzt schien sich verbessern zu wollen, aber es war zu spät: »Ich sage _war_, weil er nicht mehr ist. Das habe ich schon eine ganze Weile gewußt.« »Ist er tot?« »Ja!« Es wurde still, und die drei Gesichter wurden weiß. Keiner wollte angesichts des großen Rätsels etwas Banales sagen. Aber sie standen auf und gingen ins Zelt, um Abschied zu nehmen. Der Morgen dämmerte und die Laterne war erloschen. Die Zeltleinwand war von außen schwach rosenfarben, und der Tote lag mit nach hinten geworfenem Kopf da, den Mund wie in Ekstase geöffnet und die Augen nach oben gerichtet; das ganze Gesicht strahlte in Verzückung, als habe er etwas übermäßig Schönes gesehen, vielleicht das Land seiner Träume. * * * * * Nach einem langen Winter in Upsala wurde es wieder Frühling, und Esther kam zu den Eltern nach Hause. Storö hatte sich zum Badeort entwickelt und ein Kurhaus bekommen; dahin kamen mancherlei Leute, Segler, Sommergäste. Und Esther mußte als Dame gekleidet gehen, was ihr höchst kurios vorkam; besonders erschien ihr das Weiß, als ginge sie in ihren Bettüchern umher; es erinnere an Laken und Kopfkissenbezug, meinte sie. Alles saß ihr schlecht, machte sich nicht, und da sie das wußte, hielt sie sich fern. Doch Frau Brita zwang sie, ins Kurhaus zu gehen, denn sie dürfe nicht vergessen, daß sie Frau sei. Diese Stunden, wenn getanzt wurde, waren ihre bittersten. Dann mußte sie an der Wand sitzen und stundenlang warten, aufgefordert zu werden; aber es kam kein Herr; und erschien wirklich einer, so sah sie das Mitleid mit dem häßlichen Mädchen, und das kränkte sie im Innersten. Dann blieb sie weg und ging in den Wald, fuhr auf die See hinaus, wurde aber bei der nächsten Gelegenheit wieder in den Tanzsaal geschickt. Diese Zurschaustellung ihrer Weiblichkeit, dieser Wettbewerb in einem ungleichen, unwürdigen Kampf zerriß sie, und sie verwünschte das grausame Vergnügen, bei dem die von der Natur Vernachlässigten öffentlich gezeichnet wurden. Es war an einem solchen Tanzabend im Vorsommer. Die Eltern gehörten zur Direktion, und Esther war aus Rücksicht auf sie und auch in dem Gedanken an den wohltätigen Zweck mitgegangen. Aber sie war nicht in den Saal getreten, sondern hatte auf der Veranda Platz genommen, wo sie die Paare vorübergleiten sah, vorüber. Die schlimmste Qual für sie war, den Ausdruck von Enttäuschung und Kummer in ihrem Gesicht zu verbergen, und diese gewaltsame Beherrschung verlieh ihren Mienen Wildheit und Trotz. Wie sie da saß, kam ein Mediziner aus Upsala, etwas angeheitert, von einer Segeljacht. »Ach, Pelle,« entfuhr es ihm. »Ist Saul auch unter den Propheten? Du gehst doch wohl nicht auf solche Ausstellungen von Reproduktionstieren?« Esther blieb die Antwort schuldig, und der Kamerad ging in den Saal, ohne sie aufzufordern. Daß er gar nicht fragte, ob sie tanzen wolle, kränkte sie besonders, trotz der Schmeichelei in den zweideutigen Worten des Mannes, nach denen er sie für diesen Aufzug zu gut fand. Nach einer Weile erschien der junge Graf aus Upsala mit der Ballkönigin, der Schönheit des Ortes, die an seinem Arm hing und seine Blicke trank. Esther sah sie den Saal betreten, tanzen und darauf sich unterhalten. Alle Badegäste verfolgten die beiden mit bedeutungsvollen Blicken, und eine ältere Dame, die aus dem Saal kam, äußerte: »Die wird Gräfin werden! Viel Glück! ein Graf, dessen Vater Kassierer und der selber Sozialist ist, das ist eine feine Partie.« »Aber er sieht gut aus!« antwortete die andere Dame. Esther hatte hingehört; und als sie nun diesen neuen Ausdruck im Gesicht des Grafen sah, der den der jungen Schönheit widerstrahlte, da wurde es düster in ihr, und sie begriff, warum sein Gesicht in ihrer Gegenwart nie diesen Glanz bekommen hatte. Sie ging direkt nach Hause und setzte sich in ihr Zimmer. Es war Nacht, aber hell, und vereinzelte Töne der Kurhausmusik drangen bis zu ihr. Da fiel ihr das Chopinsche Nocturno ein, das er ihr in der seltsamen Gesellschaft dort in Upsala vorgespielt hatte. Mit ihrem kalten nüchternen Temperament hatte sie geglaubt über so kindliche Gefühle wie Erotik erhaben zu sein; doch jetzt war sie gefangen, da war kein Zweifel. Und da saß sie und weinte, vor Schmerz, verschmäht zu sein. Da sie nicht einschlafen konnte, ging sie hinaus; kam an den Strand hinunter und nahm sich ein Boot; setzte sich an die Riemen und steuerte über den Fjord auf eine kleine Schäre zu, die ihr Ziel zu sein pflegte. Sie mußte an dem Kurhaus vorbei, und da ertönte noch die Musik; die erblassenden Lichter leuchteten durch die Fenster. Sie wollte fliehen, wurde aber dahin gezogen, als triebe sie die Strömung. Da holte sie mit den Rudern aus und wendete, direkt auf die hinterste Landzunge zu, so daß sie das Land im Rücken hatte, und dann steuerte sie hinaus. Doch die Klaviermusik folgte ihr mit dem schwachen Landwind. Und sie wurde gezwungen, die Ruder im Takt des Walzers zu bewegen, eins, zwei, drei, und das war, als würde sie von drinnen kommandiert, von da hinten, wo die beiden Körper sich im gleichen Rhythmus bewegten. Da wendete sie wieder; aber sie kam nicht los davon, kam nicht aus diesem Zauberkreis heraus. Plötzlich verstummte der Walzer und es entstand eine Stille, die nur von Möwen und Wellengeplätscher gestört wurde. Dann begann die Stille vernehmlich zu werden, und in ihrer Erinnerung hörte sie das Nocturno, vernahm es vielmehr, wie man innerlich sich an, Musik erinnern kann. Doch, dies waren ja wirkliche Töne, ~G~-dur, wie moll klingend; es war sein Anschlag, seine Art zu spielen! Welch ein Verrat! Er spielte ihren Chopin der andern vor, zog sie unter diese Decke, unter der sie beide sich einmal verborgen hatten. Jetzt floh sie im Ernst aufs Meer hinaus und versuchte durch das Geräusch der Ruder die Musik zu übertönen; das Rauschen des Wassers am Kiel half mit, und sie war schließlich außer Hörweite, als sie an einer kleinen Schäre mit einer Kiefer vorbeifuhr. Da aber, als sie das Tempo verlangsamte und die Ruder einzog, hörte sie ein leises Knarren von Riemen in den Dollen von der andern Seite der Schäre. Im nächsten Augenblick schoß der scharfe Kiel eines weißen Kahnes über den niedrigen Felsen, ein Kopf wurde sichtbar und der an den Rudern sitzende Graf tauchte auf. »Bist du es, Esther?« fragte er ganz ruhig. Das Mädchen antwortete ohne ein Zeichen des Erstaunens. »Ja, und bist du hier?« Was sie hinter sich zu haben geglaubt hatte, war vor ihr; der Stromwechsel vollzog sich so plötzlich, daß sie sofort normal funktionierte. »Das war ja eine schreckliche Sitzung!« fuhr der Graf fort. Jetzt erst kam Esther in die qualvolle Stimmung zurück, die sie hinter sich hatte: »Ich dachte, du seist noch da und tanztest mit der Schönen!« »Nein, danke vielmals! das ist so eine, die einen Schweif hinter sich haben muß; eine kokette Kokotte! Sie bandelte mit mir an, um den Seeoffizier zu bekommen; und dann nahm sie den Seeoffizier, um den Postmeister zu ärgern; und daß sie bei dem Apotheker enden würde, war vorauszusehen.« »Soo?« wendete Esther ein, »sie wurde schon Gräfin genannt!« »Ach, sie hat mich ausgenutzt? So sah sie aus, und sie wird wohl mit einer Hundehochzeit enden.« »Was ist das?« »Wollen wir an Land gehen und uns den Sonnenaufgang ansehen?« Sie gingen an Land, und da die Ursache zu Esthers Kummer beseitigt war, verfiel sie in ihren alten gewöhnlichen Humor voll stiller, indolenter Skepsis und ohne eine Spur von Erotik. Und dann fuhren sie im Sonnenaufgang nach Hause. * * * * * Graf Max blieb acht Tage im Hotel auf Storö, und in der ganzen Zeit verkehrte er vertraulich mit Esther. Sie segelten und machten Spaziergänge, gingen aber nie ins Kurhaus; ihr Verhältnis war unverändert, mit dem kleinen Unterschied, daß Esther ihr Äußeres zu pflegen begann, mit der weiblichen Kleidung weibliche Manieren annahm und gewisse Züge einer wilden, gesunden Schönheit verriet. Die Eltern sagten nichts, denn sie wußten, daß hier nichts half. Aber eines Abends -- eines Abends waren die jungen Leute weit in den Wald gegangen, um das Meer anzuschauen. Sie hatte sich auf einen Stein gesetzt und er hatte sich neben ihr ausgestreckt. Es sah intimer aus, als es war, besonders da er gerade ihre Hand gefaßt hatte und fragte, woher sie den Ring habe, den sie trug. Da trat plötzlich Vater Borg, der Redakteur, vor, und zitternd brachte er nur die gewöhnlichen Worte heraus: »Sind die Herrschaften verlobt?« Die Situation war peinlich, und der Graf mußte zuerst sprechen: »Daran haben wir nie gedacht,« antwortete er und erhob sich langsam; dabei betrachtete er Esthers Gesicht, das einen neuen Ausdruck angenommen hatte, einen Ausdruck von Schüchternheit, Scham und kindlicher Furcht vor dem Vater, und entdeckte mit einem Schlage die Art ihrer Intimität. Deshalb fuhr er, jedoch in verändertem Ton, fort: »Das hängt übrigens von Esther ab.« Das Mädchen wechselte bei diesem Zugeständnis wieder die Farbe, und der Vater hatte unfreiwillig den Funken entzündet, der noch kurz vorher nicht geboren war. »Wenn Max das für möglich hält und ...« Hier brach sie in Tränen aus und warf sich dem Vater in die Arme, als wolle sie da die Gefühle verbergen, deren sie sich selbst schämte. Es war lange her, seit Gustav Borg so etwas miterlebt hatte; und als er Esther in seinen Armen hielt, war es ihm, als sei sie wieder Kind, und seine väterlichen Gefühle strömten auf den jungen Mann über, dessen Hand er faßte. »Viel Glück denn!« sagte er und raffte seine Männlichkeit zusammen. »Jetzt verlasse ich euch; aber ich erwarte die Herrschaften zum Abendessen in meinem Hause.« Und dann ging er. Die Verwandlung hatte sich vollzogen, die Transfiguration; und die beiden jungen Menschen standen da nicht als Kameraden und Freunde, sondern als Mann und Weib; sie gewahrten gewissermaßen ihre Nacktheit, wurden schüchtern und sprachen mit neuen Stimmen neue Worte, sie wanderten Hand in Hand wie kleine Kinder unter zitternden Bäumen; und als sie Menschen trafen, schämten sie sich nicht, sondern waren stolz wie junge Götter und meinten, alle beugten sich und grüßten sie mit Ehrfurcht. * * * * * Das war der Sommer 1890. Das folgende Jahr verging auf die gleiche Weise mit Lernen zum Examen und Zukunftsplänen. Die Eltern wollten gern das Gespräch auf die Heirat bringen, aber die Jungen antworteten nicht. Manchmal erregte dies Schweigen Beunruhigung. Aufgehobene Verlobungen waren sehr häufig, aber unangenehm; man hatte sich als Verwandte gefühlt, hatte die Interessen vereinigt, Vorschuß auf Gefühle genommen und vielleicht materielle Werte vermengt. Frau Brita war ruhiger als Gustav. »Laß sie; wir dürfen uns nicht einmischen.« Dann kamen die Weihnachtsferien 1892. Da hatte Frau Brita, ohne ihren Mann zu hören, den Bräutigam eingeladen, bei ihnen auf Storö zu wohnen. Gustav war in Wut geraten, doch vor der vollendeten Tatsache mußte er sich beugen. Weihnachten war vergangen, und es war an einem der letzten Tage des Jahres. Es war grau und trüb, und Gustav Borg wollte eine Partie Brett spielen. Zu dem Zweck ging er ins Turmzimmer hinauf, um seinen Schwiegersohn zu suchen. Als er sah, daß der Schlüssel abgezogen war, klopfte er. Niemand öffnete, und er hörte zwei Stimmen, die flüsternd das Wort »still« aussprachen. Da verstand er und ging hinunter, um seine Frau aufzusuchen. Da er wußte, wie schnell sie mit Antworten bei der Hand war, legte er sich in Gedanken eine Auswahl von Fragen zurecht, mehr in behauptender Form; denn es war schwerer, einer Beschuldigung auszuweichen, als eine Frage mit nein oder ja abzufertigen. Er schlug also wie ein Blitz in Frau Britas Schreibküche ein und rief: »Seit wann weißt du, daß die jungen Leute sich auf seinem Zimmer einschließen?« »Seit wann? Seit sie hier sind!« antwortete Frau Brita, die gerade einen Aufsatz über die neuen Formen der Ehe schrieb. »Es geschieht also mit deinem Wissen und deiner stillschweigenden Zustimmung!« »Mit meiner offenen Zustimmung.« »Kupplerin!« schrie der gereizte Vater und ließ einen Stuhl um vier Axen rotieren. »Schäme dich!« antwortete die Frau. »Du hast unser Haus zu einem Bordell gemacht!« »Das ist es wohl immer gewesen!« Damit war ja alles gesagt, aber der Vater sprach in diesem Augenblick von seinem Standpunkt als Vater und nicht als Gatte, deshalb ging er seinen Weg weiter: »Jetzt gehe ich hinauf und schlage die Tür ein, dann jage ich die beiden mit dem Stock hinaus und beantrage die Scheidung ...« »Mit welcher Begründung?« »Mit der Begründung, daß die Frau als Kupplerin ihrer Tochter auftritt.« »Und die minderjährigen Kinder?« »Die nehme ich, da du als Mutter unwürdig befunden wirst.« »Du willst mich fortjagen?« »Ja!« »Hör einmal, Gustav, um der Kinder willen, willst du dies nicht im Guten abmachen?« »Nein!« »Dann verlange ich Aufschub!« antwortete Frau Brita; »ich muß die Angelegenheiten des Hauses ordnen, verstehst du, und dann verlasse ich dies Haus in Frieden.« Das klang aufrichtig und war es auch teilweise als Ausdruck des Schmerzes, der immer den Gedanken an Scheidung begleitet. Der Mann, der dasselbe empfand, ließ sich täuschen und versprach, drei Tage lang nichts zu unternehmen, gegen die Zusicherung, daß der Graf das Haus verlassen werde. Darauf zog er sich in seine Zimmer im ersten Stock zurück und bat, bei Tisch nicht auf sein Erscheinen zu rechnen. * * * * * Am Abend nach diesem Auftritt hörte Gustav Borg ein eifriges Telephonieren, ein Vorfahren und Abfahren von Schlitten, ein Tappen auf Treppen und Korridoren; aber da das Haus sehr groß war und er keine Neugier zu zeigen wagte, blieb er im Unklaren über das, was vorging. Diese Ungewißheit wirkte jedoch beunruhigend, besonders da sein Entschluß ja von den Angriffsplänen der andern abhing. Seine Vermutungen begannen ihr Spiel, und er stellte eine Kombination nach der andern auf, verwarf sie aber immer wieder, wenn der lose Sand seiner Vermutungen nicht stand hielt. Die Einsamkeit in dieser Lage wurde ihm unerträglich; doch er wagte seine Zimmer nicht zu verlassen. Er wollte seiner Gewohnheit getreu ins Kinderzimmer hinuntergehen und den kleinsten Kindern gute Nacht sagen, einem Knaben von sechs und einem Mädchen von vier Jahren; aber sie schliefen nicht allein, sondern das Kinderfräulein war bei ihnen, und heute war der Augenblick nicht gut gewählt, sich bei ihr zu zeigen, aus den Gründen, die Frau Brita bei einem früheren Anlaß angedeutet hatte. Da war sein schwacher Punkt, den er bisher verborgen gehalten hatte und der jetzt drohend hervortrat. Er war langsam hineingeglitten in dies Verhältnis, das nicht auffiel und geheim gehalten wurde, das man beargwöhnte, aber doch duldete, das auf die Physiognomie des Hauses keinen Einfluß hatte, das fast respektiert wurde, weil die Frau des Hauses sich nicht darum kümmerte. Nach fünfundzwanzigjähriger Ehe hatte Frau Brita vor vier Jahren bei der Geburt des letzten Kindes erklärt: mehr Kinder wolle sie nicht haben, und den Rest ihres Lebens wolle sie dem Dienst der Allgemeinheit und der Menschheit widmen. Das war nichts Neues, denn sie hatte schon bei der Ankunft des ersten Kindes erklärt, mehr wolle sie nicht haben. Und dann kamen sie doch, kamen infolge eines unglücklichen Zufalls, wie ja die meisten Menschenkinder zur Welt kommen. Doch jetzt war ihr Entschluß so unerschütterlich, daß sie ihren Mann von dem Versprechen der Treue entband, als er erklärte, als verheirateter Zölibatär nicht leben zu können. Sie wollte nur »in Frieden gelassen werden« und »nichts davon erfahren«. Es ist ja nicht so leicht für einen Mann, seine Neigung zu ändern; man hat nicht gleich eine neue bei der Hand, wenn der Zufall nicht günstig ist. Der Zufall bot sich in Gestalt des Kinderfräuleins. Als Frau Brita ihr Haus dem siebenundzwanzigjährigen Fräulein überließ, tat sie das ohne Bedauern. Das Fräulein war verständig und unterwürfig, suchte nicht die Macht, nahm aber die Arbeit auf sich. Sie und der Mann besorgten Kinder und Haushalt; und da die Frau meistens fort war, wenn sie nicht schrieb, so entstand in der Einsamkeit ein natürliches Freundschaftsverhältnis zwischen dem Mann und der Pflegerin seiner Kinder; und bald nahm ihre Verbindung den angedeuteten intimen Charakter an, ohne jedoch eine merkliche Änderung im Zusammenleben der Ehegatten herbeizuführen, das im Gegenteil achtungsvoller und weniger stürmisch als früher wurde. Die Maschinerie des Hauses ging lautlos und würde auch weiter so gegangen sein, wenn nicht die Frau ihre Stellung bedroht gefühlt und vor allem gefürchtet hätte, von den Kindern getrennt zu werden, die vielleicht, nachdem sie selbst aufs Trockene gesetzt war, eine Stiefmutter bekommen würden. In dem Gefühl des Bevorstehenden hatte sie in aller Eile Anhänger und Waffen gesammelt, entschlossen, den Kampf aufzunehmen und den Feind zu töten, lieber als getötet zu werden. * * * * * Nach einer schlaflosen Nacht voller Zweifel und Ungewißheit erwachte Gustav Borg und kleidete sich an. Darauf ging er ganz einfach hinunter an den Kaffeetisch, wo er Frau und Kinder traf. Alles war wie sonst, aber doch etwas verändert. Esther war kalt und verschlossen, und als der Vater mit einem Blick nach Graf Max suchte, hatte die Mutter sofort eine Erklärung bereit: »Max läßt vielmals grüßen; er wollte dich nicht stören.« Diese einzige Antwort machte das ganze Geheimnis des Familiengebäudes aus: Hingehen lassen, abfließen lassen, Kompromisse schließen, stillschweigen und weiter gehen. Das wirkte befreiend, so daß Gustav Borg sich wiederfand und dachte, alles sei vergessen; er gab sich der Freude hin, unter den Seinen zu sein, und fühlte sich stark, da er von seiner natürlichen Leibwache umgeben war. Er ließ jeden Gedanken an Anfall und Verteidigung fallen, der Friede war geschlossen, und das Geschehene war nie geschehen; er ging hinaus in den Wald mit den beiden Kleinsten, deren Gesellschaft ihn verjüngte. Sie kamen auf eine Waldwiese, wo Eichhörnchen im Schnee sprangen, um sich nach dem langen Schlaf Bewegung zu machen. Beim Anblick der Spaziergänger eilten die flinken Tiere eine Eiche hinauf, um sich in einem Loch zu verstecken. Der jüngste Knabe, der Liebling, verlangte sofort, der Vater solle auf den Baum steigen und ein Eichhörnchen fangen. Alle Vorstellungen halfen nichts, und wenn der Knirps mit den Augen bat, war er unwiderstehlich. Der Vater warf den Rock ab und enterte die Eiche, aber ohne ein anderes Resultat, als daß er schwitzend und mit zerschrammten Händen wieder herunterkam. Das erinnerte an eine Szene im vorigen Sommer, als der Vater sehr früh an den Strand gegangen war, um allein zu baden. Er hatte seine Schwimmtour gemacht, war wieder angezogen und freute sich innerlich auf den wartenden Kaffee, als das Bürschchen an den Strand kam, um dem Schwimmen zuzusehen. Die Enttäuschung des Kleinen, als er zu spät kam, war groß, und er begann zu weinen. Um schnell seine Tränen zu trocknen, zog der Vater sich wieder aus, sprang ins Wasser und schwamm hinaus, was nicht nach seinem Geschmack war; doch er fühlte sein Opfer belohnt in der unermeßlichen Freude, die seine Mühe und Selbstüberwindung hervorriefen. Nun besuchten sie zusammen alle alten Spielplätze, Grotten und Fuchslöcher, seltsame Strandsteine, Ameisenhaufen, umgewehte Bäume; und der Vater sah das alles wieder, als sei es verloren gewesen und wiedergefunden. Sie suchten Hasenspuren auf, und er lehrte die Kinder sie von Fuchsspuren unterscheiden; sie studierten Vogeltritte und die langen Linien der Ratten; sie sahen Birkhühner in Birkenwipfeln und Dompfaffen in Fichten ... In dieser stillen, unschuldigen Freude wurde er plötzlich von einem Gefühl überfallen, wie es einen bei einem Abschiedsbesuch überkommt. Und er ging wieder nach Hause, unruhig, beklommen, ahnungsvoll. Darauf hielt er sich in seinen Zimmern auf und horchte auf jeden Laut. Aber es war meistens still, und diese dumpfe Stille quälte ihn. Gegen Abend war er so von Unruhe erfüllt, daß er mit jemandem sprechen mußte, wenn er nicht zerspringen wollte. Mit seiner Familie konnte er nicht sprechen, denn sie mußten ja schweigen, sonst zerbrach die spröde Kette. Er wußte wohl, wo er Auskunft bekommen würde, aber zur Freundin wagte er nicht zu gehen. Da klopfte es an die Tür, und als er öffnete, stand das Kinderfräulein draußen, glitt schnell ins Zimmer hinein und verschloß die Tür. »Ich muß mit Ihnen sprechen, Gustav!« rief sie. »Hier geschieht so vieles im Hause, was ich nicht verstehe ...« »Setzen Sie sich, liebe Freundin, und sagen Sie mir, was Sie wissen.« »Ja, ich weiß nichts Bestimmtes; aber oben auf dem Boden wohnt jemand, der sich nicht zeigt. Es wird ihm Essen hinaufgetragen, und die gnädige Frau geht dorthin ...« »Was sagen Sie?« »Und unten im Flügel sind auch Gäste; die Mädchen antworten mir nicht und behandeln mich wie eine Feindin ...« »Was hat man vor? Was glauben Sie?« Da begann das Fräulein zu weinen, und Gustav Borg, der den ganzen Zusammenhang ahnte, ging an den Schreibtisch, um zu telephonieren, was, wußte er selbst nicht; es war wohl ein Ausdruck der Sehnsucht, hinauszukommen. Da wurde zweimal an die Tür geklopft, und auf dem Korridor erklangen Schritte. Im nächsten Augenblick hatte Gustav Borg das Fenster geöffnet, um die Tiefe zu messen; aber im Schneelicht sah er zwei Männer, die er nicht kannte. Das Klopfen an der Tür wurde wiederholt, und jetzt hörte man eine Stimme: »Bitte aufmachen. Der Amtmann ist hier!« Die beiden Eingeschlossenen erstarrten, als plötzlich das Telephon zu läuten begann. Von der Macht der Gewohnheit getrieben, ging Gustav Borg an den Apparat und rief hallo! Da hörte man, wie ein Instrument ins Türschloß geschoben wurde; der Schlüssel auf der Innenseite wurde umgedreht, ins Zimmer gestoßen und die Tür geöffnet. Draußen standen in einer Gruppe der Amtmann, Frau Brita, Doktor Henrik Borg und alle Dienstboten. Als habe er diese Lösung erwartet, ging der auf frischer Tat ertappte Mann geradeswegs hinaus, die Treppen hinunter. Auf dem Flur zog er sich an, lief nach dem Stall, wo er sich Pferde und Schlitten geben ließ; befahl dann: nach Langvik! und fuhr davon, um ein Obdach zu suchen bei dem Sohn, der ihm immer ergeben gewesen war und für den er bedeutende Opfer gebracht hatte. Zehntes Kapitel Vorm Rat Als Gustav Borg in Langvik ankam und den Sohn abwesend fand, war er zuerst verzagt, denn er liebte die Frau des Sohnes nicht und sah an ihrer Verlegenheit, daß er unwillkommen war, weil er Forderungen hatte und weil er der Schwiegervater war. Deshalb war ihr Gespräch sehr kurz, und er schloß sich im Fremdenzimmer ein. Warum er hierhergekommen war? Ja, er konnte sich doch nicht seinem Sohn gegenüber beklagen, denn der stand natürlich auf Seite der Mutter; und im übrigen hatte er sich ja durch seine Unvorsichtigkeit im Hause Hände und Zunge gebunden. Er mußte irgendwo in dem Bezirk bleiben, wo die Scheidung verhandelt werden würde, und hier war doch eine Art Heim, wo er mit einigem Recht sich aufhalten konnte. Als nun Anders gekommen war und seine erste Verzweiflung sich gelegt hatte, ging er zum Vater hinein; und da er ein einfaches Gemüt hatte und verzweifelt war, konnte er weder Freude über das Wiedersehen an den Tag legen, noch ihn willkommen heißen, besonders da er von der bevorstehenden Scheidung wußte. »Guten Tag, mein Junge,« sagte der Vater, der sofort in den leichtverständlichen Mienen des Sohnes las. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, denn ich werde weder lange bleiben, noch die Pacht von dir verlangen.« Anders kaute auf dem Schnurrbart und zwinkerte mit den Augen, denn die bloße Erinnerung an die Schuld war ihm eine Qual. Dieses Schweigen machte den Vater nervös, und er mußte selber sprechen. »Du weißt vielleicht, welche Veränderungen in meinem Hause bevorstehen -- hm! -- aber es wird bald entschieden sein.« Anders' Gedanken waren so fern. Er hatte auf einen angenehmen Abend mit seiner Frau gehofft, an dem er unter dem sichern Schutz des erworbenen Geldes seine Reiseabenteuer erzählen wollte, und nun saß er hier und zitterte vor unangenehmen Fragen hinsichtlich des leeren Speichers und ähnlichem. Der Vater merkte wohl an seinen nach innen gekehrten Augen, daß er abwesend war; doch er verstand die Situation nicht recht. Daß er ungelegen gekommen war, begriff er; aber er mußte aus der Verlegenheit heraus, und als er keine Antwort erhielt, wurde er selbst vernagelt und begann mit den Augen zu blinzeln wie einer, der nach einem neuen Gesprächsthema sucht. Ebenso unglücklich war die Wahl des Stoffes, den er in geheimem Gedankenlesen aus dem Bewußtsein des Sohnes schöpfte. Die Furcht, daß der wunde Punkt berührt werden könne, machte gerade diesen Stoff frei. Er mochte in den leeren Augen des Sohnes den leeren Speicher gesehen haben und wurde gegen seinen Willen dahin getrieben. »Nun, du hast die Bücher abgeschlossen, und du bist mit deinem Jahr zufrieden? Volle Scheunen und Speicher?« Anders wurde von der Wut übermannt, sich bloßgestellt zu sehen, wurde vor Zorn noch stummer, wollte aufstehen, um den unsichtbaren Faden abzuschneiden, suchte einen Vorwand, hätte gern von draußen gehört, daß die Frau polterte oder die Kinder sich prügelten; er war in kalten Schweiß gebadet, saß aber fest auf dem Stuhl. »Bist du taub oder bist du betrunken?« schrie der Vater, der nicht ein Wort aus dem Angeredeten herausbekam. Dadurch wurde Anders aus seinem wachen Schlaf aufgeweckt; wollte in einen Strom von Worten ausbrechen, erfror aber wieder vor der unüberwindlichen Kraft der väterlichen Macht. Er war nur vernichtet, fühlte sich beschämt, so daß der Vater seinen Ausfall bereute und die Szenerie zu ändern beschloß, um eine andere Stimmung zu schaffen. Er stand auf und warf eine einfache Alltagsfrage hin: »Wann eßt ihr zu Abend? Ich bin um mein Mittagessen gekommen und habe Appetit auf etwas Warmes.« »Wir essen nie zu Abend,« antwortete Anders. »Wir haben uns das seit einem Jahre abgewöhnt.« »So setzt mir Butter und Brot vor,« erwiderte der Vater, »ich bin auch mit wenigem zufrieden.« »Ja, ich weiß nicht, ob wir etwas im Hause haben.« »So schicke doch zum Kaufmann,« half der Vater nach, da er Unrat zu ahnen begann. »Wir haben kein Pferd im Stall.« »Wo ist es denn?« »Fort, nach der Stadt.« Der Vater sah an den flackernden Blicken, daß der Sohn log, und begriff den ganzen Zusammenhang; aber jetzt vom eigenen Elend in das anderer untertauchen wollte er nicht. »So laß uns einen Grog trinken und den Abend verplaudern,« schlug er vor. »Wenn ich etwas im Hause hätte,« lautete die tonlose Antwort, die zur Beendigung der Unterhaltung aufforderte. Der Vater verließ das Zimmer, mehr erstaunt über die Entdeckungen, die er gemacht hatte, als traurig; er war keine gefühlvolle Natur, hatte früh seine Ansprüche an die Menschen herabgeschraubt und liebte Abrechnungen und Erklärungen nicht. Als er in das Fremdenzimmer kam, das man zu heizen vergessen hatte, wurde er von einem solchen Frösteln befallen, daß er in Kleidern zu Bett ging; denn er wollte keinen Lärm im Hause machen. In der Karaffe war kein Wasser, ein Lichtstumpf verhieß nur für eine Stunde Licht, und das leere Fenster ohne Rouleau fraß das meiste von dem Lichtschein auf; die grauen Speisekammertapeten sahen wie die ewige Langeweile und Eintönigkeit aus, die spärlichen Möbel sprachen von Armut und Ruin. Er war so überwältigt von den aufregenden Erlebnissen des Tages, daß er sofort in einen todesähnlichen Schlaf fiel. Als er aufwachte, dachte er, es sei Morgen; doch im selben Augenblick schlug die Eßzimmeruhr, und er zählte elf Schläge. Elf! Er hatte sich um neun Uhr hingelegt, und nun sah er die lange schlaflose Nacht vor sich, denn er war vollkommen munter. Und jetzt auf einmal stand seine ganze Lage klar vor ihm. Ein Mann in seiner Stellung, in seinem Alter, aus seinem Heim vertrieben, von seinem Posten abgesetzt; ohne Mittag gegessen zu haben, wie ein Landstreicher, hungrig und frierend, ein unwillkommenes Anhängsel, das man weit weg wünschte ... Die ganze Erniedrigung des Auftritts zu Hause, da er vor seinen Kindern bloßgestellt wurde, das Grauen vor dem, was seiner wartete ... vor Prozessen und Skandalen. Er lag da und blickte auf den Lichtstumpf, wußte, wenn er zu Ende war, würde die Dunkelheit kommen. Da er nicht zu den Leuten gehörte, die den Menschen Mühe machen mögen, fiel es ihm nicht einen Augenblick ein, einen Dienstboten zu wecken, um sich Licht, Feuer und Wasser zu verschaffen. Gelähmt von dem Schicksalsschlage wagte er sich nicht einmal zu rühren, sondern lag da wie festgenagelt, frierend, als seien alle Säfte des Körpers tatsächlich erstarrt. Immerfort betrachtete er das Abnehmen des Lichts und hatte jetzt das Gefühl, als hinge sein Leben davon ab, werde erlöschen, wenn das Licht erlosch. Er wurde durstig vor Hunger und fror vor Hunger, aber Kummer und Sehnsucht, Scham und Zorn mischten sich hinein und klangen zu einem Akkord von Qual zusammen. Alle Bitterkeit des Lebens zugleich erstand in ihm, ohne die Möglichkeit, Trost in Klagen zu finden, denn er war zu aufgeklärt, um über undankbare Kinder oder eine treulose Gattin zu jammern. Er hatte das Leben mit harten Handschuhen angegriffen und war nicht an Verzärtelung gewöhnt, dies aber überstieg seine Kräfte; und als der Lichtrest zischend in die Tülle sank, sprang er auf, um sich gegen die Finsternis zu schützen. Er ging leise in den Eßsaal hinüber und nahm sich Streichhölzer mit; und als er anzündete, sah er, daß die Uhr erst fünf Minuten über elf war. Er zog die Hängelampe herunter und steckte sie an; ging an das Büfett und fand etwas abgestandenes Wasser in einer gelb gewordenen Karaffe; auf dem Büfett lagen die Fahrhandschuhe des Sohnes aus grauer Kastorwolle; der eine Handschuh lag mit geballten Fingern da wie eine harte, drohende Faust, der andere lag auf dem Rücken, die Handfläche ausgestreckt, als bitte ein Bettler um ein Almosen; beide grob, mit Anschwellungen an den Gelenken, wie abgehauen, liegen geblieben, innen noch mit Menschenfett getränkt. Er öffnete die Büfettür; als er sich bückte, schien sein großer, schwarzer Schatten mit hineinzukriechen. Ein hartes Stück Brot war das einzige, was er fand; aus der Menage nahm er gelben Senf und strich ihn aufs Brot, dazu etwas Salz; aber als er es zum Munde führte, roch es nach Petroleum, weil er die Lampe angefaßt hatte, und er legte das Brot auf ein Brett, dessen gemustertes Papier an die Streifen erinnerte, die kleine Kinder um den Hals tragen. Da dachte er: wenn man das Brot mit dem Senf darauf findet, könnte eins von den Kindern morgen Schläge bekommen, weil es unschuldig dieser Untat beschuldigt wird. Er nahm das Brot in die eine Hand und die Lampe in die andere, blieb aber unentschlossen mitten im Zimmer stehen, da er nicht wußte, wo er den lästigen Zeugen seiner seltsamen nächtlichen Expedition verstecken sollte. Wenn ich es in den Ofen lege, wird es morgen früh vom Mädchen gefunden werden; sie bringt es sofort zur Hausfrau und beschuldigt natürlich die Kinder oder das Kind, das sie am wenigsten mag, und dann gibt es Prügel, zunächst wegen des Vergehens, dann wegen des Leugnens. Das habe ich selbst erlebt. Es mußte aber entfernt werden, und er machte schließlich ausfindig, daß die einzige Möglichkeit sei, es in Papier zu wickeln, in die Tasche zu stecken und den morgigen Tag abzuwarten. Er ging nun an den Zeitungsständer, um sich das nötige Papier zu holen, und sein Riesenschatten erhob sich vom Fußboden, kroch die Wand hinauf und nahm die runde Wanduhr auf die Schultern, wo sie wie ein Kopf sitzen blieb, in dem die beiden Löcher zum Aufziehen die Augen bildeten und der Name des Uhrmachers den Mund. Als er vor dem Zeitungsständer stand, besann er sich, denn, dachte er, wenn eine Zeitungsnummer vermißt wird, können die Mädchen unschuldig Schelte bekommen. Es war ein schwieriger Fall. »Ich nehme die Annoncenbeilage,« sagte er, zögerte aber wieder, denn »auf dem Lande liest man die Annoncen, und habe ich Pech ... und das habe ich seit einiger Zeit, ohne zu wissen, warum ...« Er hatte aber doch ein Blatt ergriffen, und als er es entfaltete, knisterte es und machte solchen Lärm, daß er Angst bekam. Auf der ersten Seite des Blattes stand eine Riesenannonce: Frische Austern. Austern, gerade jetzt, im Metropol, um halb zwölf, bevor zugemacht wurde, das wäre etwas! Er näherte sich dem Fenster und wollte das Stück Brot durch die Lüftungsklappe werfen, aber kein Tier würde den Senf fressen, und es wäre wieder dieselbe Geschichte. Jetzt stand er am Fenster; und als er in die Nacht hinausblickte, sah er in dem rechten, vorspringenden Flügel Licht; er stieg auf einen Stuhl, nachdem er die Lampe unter dem Klavier versteckt hatte, und jetzt konnte er sehen ... In der guten Stube saß das Ehepaar am Kaminfeuer; der Mann bei einem Grog und einer Zigarre, munter plaudernd. Ein kleiner Tisch stand hinter ihnen, gedeckt und mit den Resten eines netten Soupers; die leuchtend rote Schale eines Hummers stach in die Augen, daß es weh tat ... Gustav Borg hatte nie Mitleid mit König Lear gehabt; hatte gefunden, er liege, wie er sich gebettet habe, da er als Schwiegervater sich bei Neuvermählten niederließ und eine Garnison von hundert Mann mitbrachte. Er hatte auch Vater Goriot gut bezahlt gefunden durch die Zärtlichkeit, die er seinen Kindern schenken durfte, denn nicht alle Kinder nehmen Zärtlichkeit an. Trotz all dem fühlte er einen Stich im Herzen, stieg vom Stuhl herunter und ging mit seiner Lampe in das anstoßende Zimmer, das das Kontor war. Da stand eine Rasiertoilette, und als wisse er, was er suche, zog er die Schublade auf, nahm das Rasiermesser heraus und den Streichriemen und begann es abzuziehen. »Das beste ist, Schluß zu machen! das beste ist, Schluß zu machen!« Aber dann besann er sich; erst mußte das Brot weg, zuerst; unbedingt. Er warf es oben auf den Ofen, und im gleichen Augenblick fühlte er sich befreit, erlöst von etwas. Und dann nahm er das Fell, das unter dem Schreibtisch lag, und legte es über sich, als er auf das Ledersofa niedersank. Seine letzten beiden Gedanken, ehe er einschlief, waren diese: »Hier ist es jedenfalls warm und schön. Und: sie mögen ja Abendbrot und Kognak haben holen lassen, als ich mich schon zu Bett gelegt hatte. Vielleicht sind sie auch bei mir gewesen, um mich einzuladen, haben mich aber schlafend gefunden. Man verurteilt ja so oft Menschen zu Unrecht.« * * * * * Als Gustav Borg am nächsten Morgen aufwachte, hatte sein Körper durch die Ruhe die Kraft zu leiden wiedergewonnen; denn ein Geschwächter hat nur die Fähigkeit, sich stumpfer Gleichgültigkeit hinzugeben. Er sprang völlig wach vom Sofa auf und übersah die ganze Situation. Hier konnte er nicht bleiben, das war das erste; in der Stadt wollte er nicht wohnen, von Hause war er vertrieben, aber in diesem Kirchspiel mußte er sich des Prozesses wegen aufhalten. Ihm fiel ein Bauer ein, der ein Zimmer an Sommergäste zu vermieten pflegte. Zu diesem wollte er jetzt fahren; und da er am liebsten ohne Abschied abreiste, ging er in den Stall hinunter, um sich Pferd und Schlitten geben zu lassen. Der Stallknecht, der seinen Lohn nicht erhalten und am Abend vorher vom Herrn Schelte bekommen hatte, war heute besonders mitteilsam. Und als der Redakteur den Pferdestand leer sah, erzählte der Knecht sofort, das Pferd sei verkauft, ebenso der Schlitten; er war auch nicht faul, zu erzählen, daß der Speicher leer, der Hof verfallen und der Boden ausgesogen sei. Das war ein neuer Schlag für ihn, da er für die Pacht Bürgschaft geleistet hatte; und er war eben im Begriff, nach dem Hause zurückzugehen, als eine kleine, windige Figur an ihn herantrat und fragte, ob er Redakteur Borg sei. Nachdem er sich zu erkennen gegeben hatte, wurden ihm zwei gestempelte Schriftstücke eingehändigt, die er durchflog und in die Tasche steckte. Statt zusammenzuschrumpfen, schien er zu wachsen, denn er hatte nun etwas, gegen das er reagieren konnte, etwas, was zu fassen war. Er wendete sich zu dem Polizeidiener und fragte: »Glauben Sie, daß man bei dem nächsten Nachbarn Fuhrwerk bekommt? Ich muß nämlich um elf auf dem Pfarrhof sein.« »Der Nachbar pflegt immer Fuhrwerk zu haben,« antwortete der Polizeidiener und damit ging er. Gustav Borg sah nach seiner Uhr und konstatierte, daß er mit Pferd und Schlitten rechtzeitig zu der Sitzung des Kirchenrats kommen werde, zu der er zwecks Entgegennahme der Verwarnung geladen war. Er knöpfte den Rock wieder zu, begann zu marschieren und fühlte sich wie ein Soldat, der zu einem Feldzug aufbricht. Aber der Schnee war tief, der Weg ungebahnt, und das Gehen wurde bald beschwerlich. Er hatte gute Zeit, über seine Lage nachzudenken. Von den beiden barbarischen Arten, ein vieljähriges Zusammenleben zu lösen, hatte man also die demütigende und schamlose gewählt, die Gatten dem Gerichtshof, der Kirchenrat hieß, auszusetzen. Da würden sie sitzen und einander bloßstellen, sich gegenseitig anklagen und wie Unmündige Ermahnungen entgegennehmen. Ein ganzes langes Zusammenleben würde aufgerollt werden, obwohl mein und dein ihre Wurzeln so verflochten hatten, daß das eine nicht abgetrennt werden konnte, ohne daß das andere zerriß; wo Schuld und Nichtschuld unmöglich abzuwägen war, wo Ursache mit Wirkung verwechselt wurde und umgekehrt, wo alles Alte, das vergeben und vergessen war, ausgegraben und in neue Beleuchtung gesetzt werden sollte; was in Liebe vergeben war, sollte jetzt in Haß angeklagt werden. Diese Art hatte man gewählt, um die entehrende, obligatorische Flucht zu vermeiden, wo der Zurückbleibende die Schande des Verlassenseins trägt und der Weglaufende die Schande der Untreue auf sich lädt; und trotzdem stimmte die Flucht mehr mit menschlichen Begriffen von Scham überein, da man den Schauplatz verließ und sein Elend vor neugierigen Blicken versteckte. Die Verwarnung des Kirchenrats war aber nur eine Formalität, die den Gerichtsverhandlungen voranging, und er war vor den ersten Frühjahrsting bestellt worden, angeklagt nach Paragraph so und so des Gesetzes, das seine Verurteilung wegen Ehebruchs unter Verlust aller ehelichen Rechte forderte. Als er die schweren Schritte gegangen war und das Haus des Nachbars sah, war er fast entschlossen, sich vor dem Rat nicht einzufinden, teils um die entsetzliche Szene zu vermeiden, bei der er seiner Gattin begegnen würde, teils weil er alle Verteidigung für nutzlos hielt. Als er zu dem Bauern kam, erfuhr er, daß alle Pferde fort seien. Das war ihm wie eine Befreiung, und er setzte sich zum Ausruhen auf eine Bank. Aber der Bauer war zufällig Schöffe und interessierte sich für die Angelegenheiten des Kirchspiels. »Wollen Sie zum Kirchenrat?« fragte er. »Ja, da Sie es ja wissen!« antwortete der Redakteur. »Den darf man nicht versäumen,« fing der Bauer wieder an; »denn der Ting urteilt nach dessen Protokoll, und hat einer etwas zu seiner Verteidigung anzuführen, so muß es jetzt gleich geschehen.« Diese einfache Mitteilung setzte den Unentschlossenen in Flammen; er sprang von der Bank auf, sah auf seine Uhr und fragte: »Kann ich zu Fuß gehen?« »Ja, aber dann müssen Sie rasch gehen und noch dazu über die Kirchbucht.« »Hält die Kirchbucht denn?« »Ja, gestern hat sie gehalten, heißt es.« »Also dann leben Sie wohl, Schöffe. Aber richtig: kann ich hier für den Winter das Sommerzimmer mieten?« »Ja, das wird wohl gehen!« »Ich komme zurück, dann sprechen wir darüber.« Und nun begann der Marsch wieder. Jetzt wußte er, daß er hin mußte, hin mußte, um sich zu verteidigen, falls die Angabe von Motiven wenigstens als mildernder Umstand gelten konnte, da das Gesetz private Abmachungen, die zu der geltenden Verfassung im Widerspruch standen, nicht anerkannte. Als er eine halbe Stunde gegangen war, kam die Sonne hervor, und da sie tief stand, brannte sie. Er machte den Rock auf und nahm den Hut in die Hand. Der Schnee schmolz halb, wurde feucht und ballte sich unter den Stiefeln. Die Schritte wurden immer schwerer, die Atemnot wuchs und die schweißigen Unterkleider brannten wie Nesseln. Aber er mußte vorwärts. Wie er sich nach einer neuen halben Stunde umdrehte, sah er seine Fußspuren eine krumme Linie von Vertiefungen bilden. Nach abermals einer halben Stunde kam er an die Landstraße; mit wiedergewonnenen Kräften marschierte er, wie befreit von Fußfesseln, und als er auf eine Höhe gelangte, sah er in der Ferne die Kirche. Doch die Bucht trennte, und die sah man nicht von seinem Beobachtungspunkt. Dann ging es abwärts, und er lief zu den Fischerhäusern hinunter. Da blieb er stehen und sah -- die Bucht offen liegen, blau, satirisch lächelnd, zwischen sich und dem Walplatz, wo die Schlacht stattfinden sollte; als er auf die Uhr blickte, sah er, daß zehn Minuten an elf fehlten. Er stürzte zum Fischer hinein und fragte nach einem Boot. »Das Boot ist versenkt, weil es gedichtet werden soll.« »Kommen Sie mit und schöpfen Sie es aus!« »Nee, was hätte das für einen Zweck?« »Helft mir, Leute, ich muß um elf in der Kirche sein.« Nein, man hatte gar keine Lust dazu. Da lief er nach dem Boot hinunter und sah es unter Wasser liegen. Es war ein alter Kahn ohne Ruder und Schöpfkellen. Er lief umher, um die Ruder zu suchen, fand aber keine; er suchte einen Eimer zum Schöpfen und fand keinen; an einer Wand aber stand eine etwas gewölbte Schaufel. Die nahm er, kehrte nach dem Boot zurück und warf den Rock ab; und während er in Hemdsärmeln breitbeinig auf den Bootsrändern stand, schöpfte er das Boot mit der Schaufel halb leer. Darauf stieß er ab, und wie ein Kanuführer paddelnd, rettete er sich über die Bucht, während der Kahn Wasser schöpfte. Als er das andere Ufer erreichte, sank das Boot. Er ließ es liegen, warf die Schaufel hinein und lief nach dem Pfarrhause hinauf. Er hatte nicht Zeit gehabt, sich die Szene, die ihn erwartete, auszumalen; er hatte nur das bestimmte Gefühl, daß der Pastor ihm nach dem letzten Auftritt feindlich gesinnt sei, und daß der Kirchenrat, der aus Pietisten bestand, ihm hart zusetzen werde. Als er den Saal betrat, fand er seinen Schwager als Wortführer dasitzen, ruhig, würdig, mit fast freundlichem Ausdruck. Frau Borg saß kalt, abwartend auf einem Sofa. Als der Redakteur gegrüßt hatte und aufgefordert worden war, Platz zu nehmen, eröffnete der Geistliche die Verhandlung mit einem Hammerschlag und fragte den Rat, ob man ihn als Schwager des Ehegatten und als Bruder der Gattin für befangen erklären wolle. Niemand wollte Einspruch erheben, und so begann der Vorsitzende. »Meiner Pflicht gemäß und nach den Instruktionen des Kirchenrats frage ich hiermit meine Schwester, ob sie die Ehe mit Gustav Borg fortzusetzen gedenkt?« »Nein!« antwortete Frau Brita, kurz, überlegt. »Dann will ich Gustav fragen, ob er die Absicht hat, die Ehe fortzusetzen?« »Nein,« antwortete der Gefragte ebenso bestimmt. »Nun muß ich meine Schwester fragen, welchen Grund sie für Auflösung der Ehe anführt?« Frau Brita antwortete: »Den Ehebruch des Mannes.« Die Sache war ja bekannt, aber trotzdem wirkte das ausgesprochene Wort wie ein Schuß; die Greise am Tisch schüttelten sich, und der Vorsitzende, der es anständig und nett haben wollte, war vor den Kopf gestoßen. Er wendete sich deshalb mit einer gewissen Teilnahme an seinen alten Gegner, und da er die ganze Sachlage im voraus kannte, suchte er sofort auf die mildernden Umstände zu kommen: »Kannst du den dir zur Last gelegten Fehltritt ungeteilt auf dich nehmen, Gustav Borg?« »Ein Verbrechen habe ich nicht begangen, denn ich habe mein Ehegelübde nicht gebrochen, da ich von ihm entbunden worden war, und zwar von dem einzigen Menschen, der das Recht hatte, mich davon zu entbinden, nämlich von meiner Frau.« Neues Schaudern am Ratstisch; und gleich darauf die Stimme des Wortführers: »Ist das wahr, muß ich meine Schwester fragen?« »Das ist Lüge!« antwortete Frau Brita. »Da haben wir es,« fiel Gustav Borg ein. »Mit einem Menschen, der nicht die Wahrheit sagen _kann_, will ich nicht verhandeln und bitte mir deshalb die formelle Verwarnung zu erteilen, die nach dem Gesetz der gerichtlichen Verhandlung des Falles vorangehen muß.« »Meine Herren,« nahm der Pfarrer das Wort, »die Ursache des ehelichen Unglücks liegt gewöhnlich so weit zurück, daß (hier warf er einen Blick nach der Tür zu seinem Innendepartement) man sie nicht genau feststellen kann. Ich bin daher der Meinung, daß wir, da man nicht wissen kann, wer angefangen hat oder wer schuld an dem ist, was später geschah, zu der gesetzlichen Verwarnung übergehen. Hat einer von den Mitgliedern eine Einwendung zu machen?« Hier bat der freikirchliche Hofbesitzer Lundström ums Wort. »Gegen die Erteilung der Verwarnung habe ich nichts einzuwenden, aber gegen die Auffassung des Herrn Redakteurs, als sei die Ehe nur eine private Abmachung, möchte ich opponieren. Staat und Kirche treten doch als Autoritäten auf, um Garantien zu erhalten, was daraus hervorgeht, daß der Scheidungsprozeß vorm weltlichen Gerichtshof verhandelt und die Scheidungsurkunde vom geistlichen Gericht oder Konsistorium ausgefertigt wird. Die Ehefrau kann also den Gatten nicht von seinem Treuschwur entbinden, noch ihn von dem Vergehen freisprechen.« Redakteur Borg bat antworten zu dürfen: »Die Ehe gründet sich zunächst auf eine private Abmachung, die in der Verlobung mündet. Und das Gesetz erkennt private Abmachungen hinsichtlich der Treue an, auch wenn die Ehe geschlossen ist. Zum Beispiel: die Frau ist untreu und gebiert in der Ehe das Kind eines andern Mannes. Hier liegt doch ein Ehebruch vor, aber er darf nicht vom öffentlichen Ankläger verfolgt werden. Wenn der Mann verzeiht, schweigt das Gesetz und erkennt damit die private Abmachung an; das Gesetz drückt ein Auge zu, und das Vergehen scheint damit einer objektiven Basis zu entbehren. Ist aber der Mann unvorsichtig genug gewesen, zu verzeihen, bereut dies später, nach der Geburt des unehelichen Kindes und beantragt Scheidung auf Grund des Ehebruches der Frau, so wird er abgewiesen, weil er verziehen hat. Und was schlimmer ist: das Kind des Fremden steht auf dem Kirchenschein des Mannes, trägt seinen Namen, beerbt ihn, nur weil er verziehen hat. Da sehen wir also, daß die private Abmachung Staats- und Naturgesetze bricht. Ich erhalte deshalb mein Verlangen aufrecht, die Anklage meiner Frau für ungültig zu erklären, da sie vier Jahre lang den Prozeß nicht anhängig gemacht hat. Nun möchte ich hinzufügen; daß ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Ehebruch des Mannes und dem der Frau besteht, ein Unterschied, den die Natur selbst angeordnet hat; denn die Untreue des Mannes kann nie die Einführung falscher Kinder in die Familie oder auf den Kirchenschein der Frau zur Folge haben (wenn sie Witwe wird und ihre eigenen Dokumente bekommt); deshalb ist das Gesetz mangelhaft, da es summarisch urteilt, als seien Mann und Frau gleich, und es ist ungerecht gegen den Mann; ja, ich kenne einen Richter, der einem Manne ein Kind zugesprochen hat, das nicht seins war, obwohl er rechtzeitig die Scheidung beantragt hatte. Dies Kind, dessen Vater offen genannt wird, steht in den Kirchenakten des Mannes, trägt seinen Namen, wird von ihm unterhalten und soll ihn beerben. Das ist doch ungeheuerlich; aber der Richter sagt, kein Mann habe das Recht, ein Kind zu verleugnen, das in seiner Ehe geboren ist.« Frau Britas Hutfeder zitterte vor Wut, denn sie war aus dem Holz, daß sie glaubte, ihre »Ansichten« in der Frauenfrage ständen über allen Tatsachen. Was sie »finde«, sei das richtige; Gesetze hätten keine Gültigkeit mehr, wenn sie etwas »meine«, und sie konnte nie eines Irrtums überführt werden, weil sie Beweise nicht verstand und Gründen nicht zugänglich war. Sie explodierte deshalb und plapperte über die Gleichheit von Frau und Mann, daß die Natur sie gleich gemacht habe (das weiß der Teufel), wenn auch der Mann die Frau als Sklavin behandle (als Herrin des Hauses) und diesen ganzen Unsinn, den auch die dekadenten Männer der Zeit wiederkäuten. Schließlich schlug der Vorsitzende mit dem Hammer auf den Tisch und erklärte, das Gericht sei das rechte Forum für den Scheidungsprozeß, der Frauenklub aber das Forum für Weibergezänk. Darauf verwarnte er die Gatten und erklärte die Sitzung für aufgehoben. Dies war der gewöhnliche Ausgang der Gespräche zwischen Mann und Frau am Ende des Jahrhunderts: die Sitzung wurde aufgehoben. Die Frauenfrage, das größte und schwierigste Problem der damaligen Zeit, war wohl sozusagen die letzte Deduktion der Demokratie ~in absurdum~. Alle Menschen seien gleich (obwohl sie so ungleich sind); das war die falsche These. Die Demokraten mußten sie beibehalten oder ihre Grundsätze verleugnen. Die Aristokraten machten mit, teils um Stimmen zu bekommen und die Taschen der Demokratie zu bestehlen, teils weil sie in der Frau nach ihrer veralteten Weltanschauung ein höheres Wesen sahen. Da war so viel Scheinbares und so viel Wirkliches. Die Frau, die ein Mann liebt, ist ihm anscheinend überlegen, so lange er sie liebt, aber nur ihm, und sie erscheint nur ihm so, denn es gehört zur Liebe des Mannes, daß er sie über sich stellt und auch über andere. Nun aber wurde dies in ein System gebracht und der Mann dankte ab. Nie hat man den Mann so auf dem Bauch kriechen und den Boden unter den Füßen der Frau fressen sehen wie damals. Männer, von denen man Besseres geglaubt hatte, ergötzten sich daran, auf Salonteppichen zu den ungewaschenen Füßen der häßlichsten Frauen zu liegen. Statt daß wie früher auf der Straße der Mann der Frau den Arm bot, was schön wirkte, weil es richtig war, sah man jetzt die dekadenten Männer von ihren Frauen geführt werden. Die Frauen kleideten sich wie Männer und die Männer wie Frauen; das Armband ging auf den Mann über. Das war Perversität, und man begann unangenehme Verwechselungen der Geschlechter wahrzunehmen; während aber die perversen Männer ausgesprochene Frauenfreunde waren, sei es, weil sie ihr Gebrechen vertuschen wollten, sei es, daß sie etwas Weibliches in ihrer eigenen Natur sich regen fühlten, wurden dagegen die perversen Frauen ausgesprochene Hasser des männlichen Geschlechts, woraus sie kein Hehl machten; und ihre Lebensaufgabe war, die Ehe zu sprengen, -- natürlich um die Frau zu befreien. Das Problem, das von Kreti und Pleti durcheinandergewirrt worden war, konnte jedoch auf die eine Formel reduziert werden: Die Befreiung der Frau sollte Befreiung von Kindergebären und Kindererziehen sein. Glaubt ein vernünftiger Mensch an ein solches abnormes Verhalten der Natur? Und wer soll Kinder gebären, wenn nicht die Frau? Das war ja alles Unsinn! Aber auch im Staat der Zukunft, in dem die Frau arbeitete, mußte die Frau doch in der Regel Kinder haben, so daß eine Emanzipation im eigentlichen Sinne wohl nie zustande kommen konnte. Warum also um einiger hysterischer Frauen willen die Gesellschaft um und um kehren? Indem sie den Männern die Stellen wegnahmen, wurde ja für jeden brotlosen Mann eine Ehe unmöglich; dadurch wurden die Ehen vermindert und die Prostitution erhöht! Und dafür arbeiteten Staatserhalter und Sittlichkeitsfreunde. Es war die reine Verrücktheit! Pfarrer Alroth auf Storö hatte aber ein Auge auf diese Bewegung gehabt; seine Schwester, Frau Brita, hatte versucht, seine eigene Frau aufzuhetzen und sie mit Sitzungen und ähnlichem aus dem Hause zu locken; deshalb konnte er von seinen brüderlichen Gefühlen nicht geblendet werden, sondern sah die peinliche Stellung seines Schwagers im Hause sehr wohl ein. Auch gefiel es ihm, daß der Schwager nicht Vergehen gegen Vergehen quittieren wollte, indem er die letzte Geschichte mit den Kindern und was mit Zustimmung der Frau im Hause geschehen war, Dinge, die er von seinem Standpunkt aus verabscheuungswürdig fand, vorbrachte. Als nun der Rat gegangen und Frau Brita nach Hause geeilt war, blieben die Schwäger allein zurück. Der Pfarrer gehörte zu der Art von Menschen, die ihren Vorteil darin sehen, durchzustreichen und weiterzugehen. Er hatte vom Leben gelernt, daß der Schimpf, den man nicht beachtet, nicht existiert, und daß die Rache Zeit kostet und Revanche hervorruft. Er hatte deshalb die letzten schimpflichen Schmähungen des Schwagers aus seinem Gedächtnis gestrichen, wenn auch der Eindruck noch in ihm haftete. Noch etwas anderes machte ihn sanft; eine gewisse natürliche und unerklärliche Sympathie für Gustav Borg bewirkte, daß er ihm nicht richtig böse sein konnte; ein sehr gewöhnlicher Fall, der erklärt, warum man gewissen Menschen gegenüber so schwer recht bekommt, auch wenn sie überführt und auf frischer Tat ertappt sind. Man beklagt sich einem Freunde gegenüber über das häßliche Benehmen eines Abwesenden. »Das kann ich nicht von ihm glauben! Das ist ihm so unähnlich!« antwortet der Freund. Man kommt nicht vom Fleck, sondern sitzt wie ein armer Sünder da, der mit einem mißtrauischen Gemüt behaftet ist; die deutlichsten Beweise, die glaubwürdigsten Zeugen helfen nichts. Also die Schwäger waren allein. »Das ist eine leidige Geschichte,« begann der Pastor. »Und du hast vor Gericht keine Aussichten; der Richter ist besessen und gibt jeder Frau recht gegen einen Mann, trotz klaren Beweisen. Das ist der Geist der Zeit, siehst du! Hast du nicht neulich von der englischen Dame gelesen, die ihren Mann vergiftet hat? Zweiundfünfzig Ärzte schwuren, sie sei unschuldig; sie aber saß im Gefängnis und legte mittlerweile ein Geständnis ab! Tableau! Jetzt war es aus, sollte man denken! Nein, jetzt kamen Massenpetitionen, die den Giftmord verteidigten, unter dem Vorgeben, der Mann sei ein Schwein gewesen. Von meinem Standpunkt, wohlgemerkt, würde ich es so erklären, daß die Vorsehung die Männer wegen ihrer Unmännlichkeit und Charakterschwäche straft, indem sie die Frauen losläßt. Diese Kreaturen, die nicht die Wahrheit sagen können und deshalb nicht zeugen dürfen, sollen Advokaten und Richter werden. Gott bewahre uns davor! Neulich hat das Postfräulein in großer Gesellschaft erzählt, sie öffne und lese alle Briefe auf der Post. Was soll man dazu sagen? Ich sprach darüber mit einem modernen Herrn, und der sagte, das sei Lüge! Ich wollte ihn zuerst schlagen, aber er erschien mir so interessant, daß ich über ihn nachzudenken anfing. Er wurde böse über meine Geschichte, als sei er eine Frau und fühle sich getroffen. Oder er hatte sich der Frauenfrage verschworen und war böse auf sich selbst, weil er unrecht gehabt hatte. Dies ist das wahrscheinlichste. Deine Aussichten, lieber Schwager, bei Gericht sind klein: denn wenn eine Frau heutzutage einem Mann unrecht tut, so hat sie die Sympathien der ganzen Welt für sich. Und Brita hat dir unrecht getan, das weiß ich, das wissen wir alle! Was kann man dabei tun? Nichts! Aber höre auf meinen Rat! Nimm einen Winkeladvokaten, einen Schuft, der eine große Schnauze hat, und geh nicht selbst hin. Das ist etwas besser als selber da stehen und sich zanken; freilich, sicher bist du trotzdem nicht, denn wenn ein Mann einen Weiberrock sieht, wird er feig. Ich hatte neulich einen Prozeß gegen die Lehrerin hier. Und ich wählte aus dem Haufen eigens einen Advokaten, der unglücklich verheiratet war. Jetzt, dachte ich, kriegt sie es! Jawohl! Kannst du dir denken, dies bezahlte Vieh steht da und verteidigt meine Gegenpartei!« Gustav Borg hatte nicht ungern diesen tröstenden und teilnehmenden Worten gelauscht, aber er konnte es nicht über sich bringen, zuzugeben, daß der Pfarrer recht habe, denn das hieße einen Irrtum wiedergutmachen. Er fühlte sich im Gegenteil einen Augenblick herausgefordert, zu widersprechen, die Frauen in Schutz zu nehmen, wie er sie stets in seiner Zeitung verteidigt hatte. Als er nun ging und auf die Landstraße kam, erwachte in ihm ein Nachgefühl des Geschehenen, und er fand, daß die letzten tröstlichen Worte eine Demütigung gewesen seien. Das setzte ihn in Trab, und während er weiterschritt, in die Welt hinaus, faßte er den Entschluß, in die Stadt zu fahren, da seine Anwesenheit hier draußen überflüssig war. Er lenkte deshalb die Schritte nach der Dampferanlegebrücke. Wie er nach der Uhr sah, fand er, daß bis zur Ankunft des Dampfers noch drei Stunden blieben. Das war lange, aber er hatte ein neues Leben vor sich und ein altes hinter sich. Anlegebrücken sind außerordentlich geeignet, um darauf Betrachtungen anzustellen; da ist ebener Boden unter den Füßen, so daß man auf und ab gehen und denken kann; da hört das Land auf und das große, einsame Wasser beginnt; da ist es regungslos still, und man geht und wartet auf etwas, das neue Bewegung in einen bringen, einen an einen andern Ort versetzen, die Anschauungen ändern und das Schicksal umgestalten soll. Gustav Borg ging auf und ab und dachte. Er war jetzt an dem Punkt im Leben angekommen, den man die Zeit des »Ausessens« nennt. »Das mußt du einmal ausessen,« hatte er so oft sagen hören, ohne es zu verstehen, ohne es zu glauben, in dem rastlosen Vorwärtsschreiten des Lebens. Jetzt verstand er es, aber gleich so vielen andern zog er die falsche Schlußfolgerung, er müsse bereuen und die Lehren zurücknehmen, die durch ihn verbreitet worden waren und nicht ganz zu dem beabsichtigten Ergebnis geführt hatten. Er glaubte seine Arbeit an Irrtümer verschwendet zu haben, die jetzt bekämpft werden mußten, erkannte aber nicht, daß in seinem sogenannten Irrtum ein Teil der Wahrheit lag, die nur unter dem Zusammenwirken der feindlichen Plus- und Minusposten ans Tageslicht kommen konnte. Die Verbesserungen hatten schon die Gegner gemacht, er brauchte sie also nicht von neuem zu machen. Nun grämte er sich über vergeudete Mühe, ärgerte sich, daß er wie ein Narr reaktionär gewirkt hatte, während er Vorspann zu sein glaubte. Und die Leiden, die er jetzt durchmachte, sah er als eine Strafe für das Böse an, das er getan hatte, obwohl sie auch Prüfungen sein konnten. Diese Abrechnung, die jeder Mensch in einem gewissen Alter durchmacht, ist jedoch nur ein Bücherabschluß der Persönlichkeit, bei dem eine genauere Untersuchung zeigt, daß das relative Böse, das man zwecks Durchführung einer guten Sache andern zufügen mußte, ein notwendiges Böses war. Andererseits aber scheint eine immanente ewige Gerechtigkeit zu fordern, daß auch unschuldig zugefügte Leiden in der Weltordnung neutralisiert werden durch entsprechende Schmerzen bei dem, der sie hervorgerufen hat. Wenn ein in der höheren Buchführung Erfahrener in diesem Augenblick der Abrechnung neben einem Menschen stände, würde er alle Siegel lösen und zu dem vom Stachel der Reue Verwundeten sagen: »Sei getrost! Sieh hier das Gute, das du ausgerichtet hast, und hier das Böse! Jetzt wollen wir Posten gegen Posten quittieren, dann bleibt doch noch ein Saldo zu deinen Gunsten; denn schon daß du dein Leben so gut du vermochtest gelebt hast, ist eine Heldentat; und jeder Mensch, der sich zu einem natürlichen Tode durchgearbeitet hat, ist ein Held; jeder Gestorbene verdiente ein Denkmal, so schwer und mühselig ist es, das Leben zu leben. Und der Elendeste ist nicht weniger bewundernswert, denn seine Last war schwerer als die anderer, sein Kampf größer, sein Leiden tiefer; und warum er ein Elender war, das weiß kein Sterblicher, kann kein Mensch erklären, weder mit Statistik, noch mit Nationalökonomie.« Gustav Borg konnte die Synthese seines Lebens noch nicht vollenden, sondern befand sich in voller Krisis, da er in das Reich eintrat, das Swedenborg die Vernichtung nennt. Und das schlimmste von allem war: er hatte die Hand gegen sich selbst erhoben; denn er, der Gegner der freien Sittengesetze, war wegen eines Unsittlichkeitsverbrechens angeklagt. Diese Disharmonie war nicht leicht zu lösen. Von der Brücke sah er die Schornsteine seines Hauses. Gerade jetzt stiegen zwei blaue Rauchwolken empor. Es brannte im Herde, da verbrannte alles und das beste: Gattin und Kinder. Elftes Kapitel Der neue Redakteur Holger Borg war ein Kind seiner Zeit; Ingenieur und Elektrotechniker, lebte er das Leben einfach, ohne Reflexionen, praktisch. Verheiratete sich früh mit einem kleinen Mädchen vom Theater, dem er nach der Sitte der Zeit die Rolle des Kameraden einstudierte. Die Ingenieurwissenschaft sich in der Eile anzueignen, war ja für sie etwas schwierig, aber einige Ausdrücke wie Kontakt und Kurzschluß mußten genügen; sie posierte als Ingenieur und entwickelte sich zu einer Tendenzfrau, die der Welt zeigen wollte, daß die Frau in allen Dingen dem Manne gleich sei. Diese Gleichheit sollte sich auch im Verkehr äußern; der Mann durfte nicht allein ins Café gehen, sondern sie mußte mit; vormittags freilich ging sie allein in die Konditorei; und als der Mann im Anfang die mathematische Ungerechtigkeit konstatieren wollte, wurde er mit der Frage zum Schweigen gebracht, ob sie ein freier Mensch, oder ob sie eine Sklavin sei. Um des Hausfriedens und der Gemütlichkeit willen ließ er die Frage unbeantwortet, gab nach, ordnete sich unter, anfangs mehr im Scherz, immer aber mit Rücksicht darauf, daß es sich gut machen sollte. Er mußte ja die modernste Frau haben, und er wollte nach seinen Lehren leben. Auf diese Art bekam er ganz allmählich eine Gouvernante über sich, eine, die ihn in Gesellschaft korrigierte und ihn schließlich alles lehren wollte, alles, was er besser wußte als sie. Doch er klagte nicht und merkte nicht, daß sich unter ihrer Mütterlichkeit Verachtung verbarg. Ihm ging aber eine Ahnung davon auf, als er sah, daß seine Freunde seine Frau wie ein höheres Wesen, ihn selbst aber wie einen Tropf behandelten. Andererseits schmeichelte es ihm, daß er die stilvollste Frau gefunden hatte; und wenn sie den Mittelpunkt des Kreises bildete, war sein Platz anscheinend darüber. Zu Beginn der Ehe hatten die Neuvermählten es recht knapp; sie lebten außer dem Hause, weil es billiger war, und manchmal war zu Hause ein Bohêmeleben. Dann kam das Kind. Da bekamen sie es zu spüren. Die Einkünfte des Mannes, die bisher von zwei Personen geteilt worden waren, mußten jetzt von vier geteilt werden. Das war Entsagen, und das liebte man nicht, sondern pumpte und setzte das alte Leben fort. Aber als das Kind drei Jahre alt war, wurde das Kindermädchen verabschiedet, und die Gatten besorgten das Kind selbst. Die Frau, die nichts anderes zu tun hatte, verlangte trotzdem, daß der Mann, der seine Arbeit in der Fabrik und in den Zeitungen hatte, bei der Pflege des Kindes helfe. Es sollte gleich sein, natürlich. Er, der Esel, wagte nicht nein zu sagen, wollte es auch nicht, weil er ihre Arbeit zu adeln wünschte, merkte aber nicht, welche Ungerechtigkeit er unterstützte, und wie er an seinem Untergang arbeitete. Um sich schadlos zu halten, machte er es wie andere Ehemänner: er erfand das geheime Frühstück außer dem Hause; er schützte Sitzungen am Abend vor und kam schließlich in einen Kreis gesetzter Ehemänner, die ihren Punsch zwischen sechs und sieben Uhr abends tranken, um dann zum Abendbrot zu Hause zu sein. Kam er hierauf nach Hause und roch nach Punsch, so wurde die Frau böse; und bei solchen Gelegenheiten hatte das Kind immer keine Strümpfe. Dann half er sich gewöhnlich damit, »er sei eingeladen gewesen«, und nun hätte die Strumpffrage erledigt sein müssen, aber das war nicht der Fall; sie blieb eine stehende. Er war zum Abendbrot immer zu Hause und war langweilig. Bei Tisch, wenn er das trockene Essen kaute, erinnerte er sich wohl des wollüstigen Frühstücks im Opernkeller; und dann flog bisweilen ein schwaches Leuchten über sein Gesicht, der letzte Wiederschein eines inneren Lächelns, den die Erinnerung an eine lustige Geschichte aus dem Zwischenregister hervorrief. Dann wurde seine Frau finster und merkte, daß er sich ohne sie amüsiert hatte, und sie ärgerte sich, daß er ein Vergnügen haben könne, ohne daß sie dabei sei. Und dann mußte er die lustige Geschichte erzählen. Das war ihr eheliches Recht. Eines Abends saßen die Gatten wie gewöhnlich zu Hause. Die Frau war angegriffen vom Kindergeschrei, vom Abwaschen, vom Aufdecken. Auf dem Tisch stand das harte Brot, Margarine und eine geöffnete Konservendose, deren Boden von drei elenden Fischen kaum bedeckt war, die seit mehreren Tagen niemand hatte anrühren mögen und die deshalb trocken waren wie Juchtenleder. Eine Rinde von einem falschen Schweizerkäse und einige Scheiben roher Speck, der geräucherten vorstellen sollte, bildeten die Basen einer Triangulation. Ungemütlichkeit, Nachlässigkeit, Unlust lag in allem, und es wich sehr von dem ab, was man sich unter Heim und heimischem Behagen vorstellte. Dazu dies heimliche Lauern auf die Schwächen des andern, dies Spionieren nach den unausgereiften Gedanken des andern. Sie waren wie zwei Gefangene, die sich heimlich gegenseitig bewachten. Der Mann sah mit düsteren Blicken die Gerichte an, und beim Betrachten der Anchovis spürte er den schrecklichen Zinngeschmack, das ranzige Öl ... Plötzlich kam ihm ein Gedanke. »Wenn wir ausgingen und kneipten! Wir sind so lange nicht mehr ausgewesen!« »Ja, aber Ragnar? Das Kind?« »Ja, das ist wahr!« Die Frau grübelte: »Es ist jedenfalls entsetzlich, daß ein Kind die Eltern kommandieren soll! Umgekehrt müßte es doch sein!« »Natürlich müßte es das! Wir haben unsere ganze Jugend hindurch entbehrt, und jetzt, wo wir anfangen müßten, das Leben zu genießen, sind wir Sklaven!« »Und jetzt, wenn er schläft, braucht er uns ja nicht.« »Er schläft doch immer, wenn er erst eingeschlafen ist?« »Wir haben ihn verwöhnt, das ist alles! Denke an all die armen Kinder, die morgens eingeschlossen werden und bis Mittag allein bleiben ... Weißt du was, Holger; wir sagen der Portierfrau, sie soll achtgeben, ob er schreit ...« »Ja, das finde ich akzeptabel,« antwortete Holger. Gesagt, getan! Eine Weile später waren die Herrschaften auf dem Wege nach der Stadt. An der Neuen Brücke trennten sie sich; der Mann mußte in die Redaktion, und die Frau sollte im Grand Hotel auf ihn warten, dem klassischen Grand Hotel, das die Männer der siebziger Jahre gegründet, die der achtziger als Erbe übernommen und die der neunziger später dem reformierten Hotel Rydberg zu Liebe verlassen hatten. Als die Frau ins Hotel kam, ging sie hinein und setzte sich an ihren gewöhnlichen Tisch, nahm eine Zeitung und wartete. Gleich darauf trat der Schauspieler ein, ein intimer Freund, und suchte Gesellschaft. »Ach sieh da, Marta,« grüßte er, »wo hast du Holger?« »Er kommt gleich,« antwortete Marta, die sofort in strahlender Stimmung war. »Darf ich hier Platz nehmen?« »Ja, das denke ich,« antwortete die Frau, ohne zu zögern. Sie kamen schnell ins Gespräch, und in einem Augenblick stand ein Punschtablett nebst Zigaretten auf dem Tisch. Die Bestellung hatte der Schauspieler so schnell gemacht, daß die Frau es nicht bemerkt hatte, und nun saßen die beiden da und wollten nicht anfangen, ehe der Mann kam. Sie plauderten von allen möglichen Dingen, und die Zeit verging. Ohne weiter zu überlegen, was er tat, füllte der Freund, da er das Warten lang fand, zwei Gläser, sagte Prosit und sie tranken. Die Zeit verging wieder, und sie zündeten sich Zigaretten an. »Es ist ja schrecklich, wie lange Holger ausbleibt,« sagte die Frau, »wir hätten nicht anfangen sollen.« »Jetzt ist es zu spät,« antwortete der Freund. Da trat eine Gesellschaft ein, die wußte, wer sie waren, ohne sie zu kennen. Diese Leute warfen natürlich verwunderte Blicke auf die beiden, und ihre Blicke wurden spöttisch, als sie sich ihnen gerade gegenüber niedergelassen hatten. Im selben Moment kam Holger herein, übersah mit einem Blick die Situation, die er sich erklären konnte, und war vorurteilsfrei genug, sie nicht zu mißbilligen; dann aber gewahrte er die spöttischen Blicke, und das verletzte ihn, so daß er finster wurde. Als er an dem Tisch angelangt war, grüßte er so ungezwungen er vermochte: »Das ist recht, daß ihr angefangen habt. Ich bekam ein Telegramm und mußte ein paar Zeilen schreiben.« Da er in die frisch aufgebaute Stimmung der andern hineinplatzte und sie Vorsprung hatten, fiel es ihm schwer, sofort mit ihnen auf das gleiche Niveau zu kommen. Und er, der etwas von dem lastenden Ernst der Arbeit aus der Redaktion mitbrachte, wirkte niederdrückend auf sie. Es entstand eine Reibung, und die Verlegenheit der Langeweile legte sich über die Gesellschaft. Die Frau, die sich amüsieren wollte, kam auf den unglücklichen Gedanken, den Mann aufheitern zu wollen; aber da verstummte er ganz. Ihr nächster Versuch lief noch unglücklicher ab, als sie, um die Sache in Ordnung zu bringen, die plumpe Frage hinwarf: »Was ist mit dir?« Das wirkte, als wühle sie in seinem Innern, und er zuckte zusammen, wurde böse auf sich selbst, weil er sich nicht beherrschen konnte, wurde wütend auf die Gesellschaft mit den Blicken, wütend auf die ganze Situation. Sein gequältes Aussehen verriet ja Eifersucht; aber er war nicht eifersüchtig, ihm ekelte nur vor dem Gedanken, dessen verdächtigt zu werden, und er sah sich lächerlich gemacht. Sie hatte ihn durch ihre Frage lächerlich gemacht, diese Frage, die er nicht beantworten konnte. Da entstand dies Schweigen, das niemand zu brechen wagt, weil alle wissen, daß der, der zuerst spricht, eine Dummheit sagen, das Geheimnis verraten muß, an das alle denken. Es war eine Minute von der Länge einer Ewigkeit. Aber dann kam die Rettung: Zwei Künstler ihres Kreises stürzten herein, stellten den Strom um und leiteten die konträren Ströme ab. Und dann verlief der Abend in munterem Geplauder. Nach Theaterschluß vergrößerte sich die Gesellschaft. Alle diese Menschen, die Kinder des gleichen Geistes waren, fühlten eine Zusammengehörigkeit, als seien sie eine Familie. Und sie hatten einen Instinkt, einen Freund zu ahnen; es waren keine Erklärungen nötig, und obwohl sie Verfolgungen ausgesetzt waren, waren sie sorglos, hoffnungsvoll, überzeugt, sich auf dem rechten Wege zu befinden. Es hatte halb zwölf geschlagen, und die Freude war auf ihrem Höhepunkt, als plötzlich eine schwarzgekleidete Frau an den Tisch trat und Frau Marta sprechen wollte. Die fremde Unbekannte wirkte wie eine schwarze Fahne, und der Jubel verstummte. »Frau Borg,« begann sie; »ich wohne in Ihrem Hause und ging zufällig an ihrem Kinderzimmerfenster vorbei, als ich ein einsames, eingeschlossenes Kind schreien hörte. Nein, glauben Sie nicht, daß ich Ihnen Vorwürfe machen will! Aber da das Geschrei verzweifelt klang, ging ich zum Portier, um mir den Schlüssel geben zu lassen und zu dem Kinde hineinzugehen. Bei dem Portier war niemand zu Hause. Ich schickte einen barmherzigen Menschen zum Schlosser, während ich dem eingesperrten Kinde durch das verschlossene Fenster gut zuredete ... beruhigen Sie sich nur, kleine Frau, Sie haben Pech gehabt und haben sich auf eine unzuverlässige Portierfrau verlassen. Als ich hineinkam, beruhigte ich das arme Kind und habe drei Stunden bei ihm gesessen; jetzt schläft es unter Aufsicht der wiedergefundenen Portierfrau. Ja ...« Herr und Frau Borg stürzten hinaus ... So war es, wenn man Kinder hatte! Jajaja, und sie machten sich Vorwürfe, versprachen sich, nie wieder auszugehen. Sie dachten daran, was für tendenziöse Geschichten jetzt verbreitet werden würden; sie liefen nach Hause, da sie keine Droschke fanden. In der Neuen Brückenstraße, als sie eben keuchend die Steigung überwunden hatten, stießen sie auf einen riesenhaften Herrn, der sie in seine gewaltigen Arme nahm und rief: »Hallo, da habe ich euch endlich!« Es war Doktor Henrik Borg. »Du, Holger, bist Redakteur der Zeitung mit sechstausend Kronen Gehalt; und trittst morgen ein. Einverstanden?« Frau Marta weinte an der Brust des Riesen. Und dann liefen sie dem Onkel weg, lachten und weinten. »Wir werden zwei Mädchen haben,« rief die Frau. »Und eine Wohnung am Strandweg!« Auf dem Markt tanzten sie um einen Laternenpfahl und liefen dann wie bei »eins, zwei, drei, das letzte Paar herbei« jeder an einer Seite der Verkaufsstände herum. So wurde Holger Borg Redakteur, und so endete ein qualvoller Tag in Freude. Zwölftes Kapitel Doktor Borg Doktor Borg war zweimal verheiratet gewesen; das erste Mal mit einer einheimischen Närrin, die er wegen ihrer Schönheit und Jugend liebgewonnen hatte. Aber sie war sich dieser Schönheit so bewußt, daß sie ihr einen wahren Kult widmete. Sie konnte stundenlang halbangezogen vorm Spiegel sitzen und sich bewundern; ihre runden Arme küssen, ihren Busen modellieren, sich selbst die Zähne zeigen, ihre Nase kneten, um die schönste Wölbung an der richtigen Stelle hervorzubringen. Als der Doktor sie einmal unbemerkt bei dieser Beschäftigung sah, erschrak er, denn der Ausdruck ihres Gesichts war nicht der eines Menschen, sondern eines albernen Tieres, eines Vogels, der sich in einer Quelle spiegelt und seine Federn zupft. Es kam ihm so unheimlich vor, nicht mit einem Menschen zusammenzuleben, daß er bei all seinem Freimut die Sache in den Sack stopfte und den zuknotete. Trotz ihrer Schönheit verstand sie sich nicht anzuziehen, und wenn er eine Bemerkung machte, wurde das als Majestätsbeleidigung angesehen. Sie zog sich dann geknickt zurück, verhöhnte ihn, daß er sie nicht zu schätzen vermöge, zählte in ihrer Einfalt alle ihre Bewunderer auf, zitierte deren Urteil. Der Doktor setzte nach der Heirat seine Rauchopfer in Form von Blumen und Sekt fort; aber die Blumen paßten nie. »Ich habe von Leutnant X. Orchideen zu sieben Kronen das Stück bekommen. Und richtiger Champagner muß elf Kronen kosten.« Sie liebte sich selbst und ihre Schönheit so objektiv, daß sie auf den Doktor eifersüchtig war, weil er sie gekriegt hatte. »Du hast Glück gehabt! Du weißt nicht, wie gut du es hast. Denke, wie viele dich beneiden.« Aber diese Selbstliebe ging so weit, daß sie sich dem Mann nicht hingeben konnte; sie gönnte ihm ihre Liebe nicht, sondern war noch in den Momenten der Zärtlichkeit so neidisch kühl, daß sie nichts empfangen konnte. Und dann klagte sie. Anfangs kümmerte sich der Doktor nicht darum, denn er wußte, wer er war. Aber bald ging sie zu ihrer Mutter, beklagte sich und sagte, sie betrachte sich nicht als verheiratet. Die Mutter verstand nichts und wollte nichts wissen. Der Doktor, der ein junger Arzt war, verstand auch nicht, was die Frau meinte, wurde aber unruhig und fragte einen älteren befreundeten Kollegen um Rat. »Ja, mein Junge,« sagte der Alte, »jetzt stehst du vor einem Problem, an dem ich noch heute buchstabiere. Aber ich habe kürzlich eine bestimmte Äußerung unseres größten Gynäkologen über diese Frage gelesen. Er sagt, das Freudenmädchen suche die Freude, die Gattin aber suche das Kind; und er erklärt entschieden, das Kind müsse keusch in einer liebevollen Umarmung erzeugt werden, nicht in einer wollüstigen. Das ehrbare Mutterweib wird keusch in der Ehe, gegen ihren Willen, und was sie sucht, findet sie nicht; deshalb klagt sie. Aber, lieber Freund, ich bin so weit gekommen, daß ich finde, auch des Mannes Begierde wird in der Ehe geadelt, gewissermaßen neutralisiert oder vergeistigt; deshalb habe ich ebensoviele Klagen von männlicher Seite gehört. Du siehst ja an Neuvermählten, wieviel Enttäuschung ... übrigens, ist deine Frau schwanger?« »Ja, nach zweimonatiger Ehe!« »Da kannst du ja ruhig sein!« Der Doktor wurde ruhig, zu sehr, so daß es die Frau reizte. Sie wurde noch eifersüchtiger auf ihren Mann, weil ihm die Ehre zuteil geworden war, ein Kind mit ihr zu haben, und sie haßte ihre Schwangerschaft, die ihre Schönheit angriff. Und was ihr nicht gefiel, das existierte nicht für sie. Gedankenlos und einfältig ging sie noch immer umher und spielte Jungfrau. Da wurde ihre Mutter wütend: »Bist du verrückt, Kind? Du bist doch in gesegneten Umständen.« »Nicht, daß ich wüßte ...« »Du weißt das nicht? Hör einmal, wenn du solchen Unsinn redest, wird dein Mann dich totschlagen. Begreifst du nicht, daß die Welt sich fragen wird, woher du das Kind hast, wenn du Unschuld markierst?« Als sie aber die Vaterfreude und den Stolz des Mannes sah, wurde sie gehässig. Eine vollständig tierische Bosheit wuchs auf, und sie wollte ihm nicht gönnen, Vater ihres, _ihres_ Kindes zu sein. War es nun Einfalt oder nur Bosheit, jedenfalls sagte sie eines Morgens, als sie wie gewöhnlich schwatzte: »Ich weiß nicht, aber ich finde, du hast an diesem Kinde keinen Teil ...« Da kam des Doktors afrikanisches Temperament zum Ausbruch, das er so lange unterdrückt hatte: »Was zum T...l sagst du? Es ist nicht mein Kind? Dann bist du eine ..., und das kannst du doch nicht meinen.« Die Frau erhob sich, kleidete sich an, und als sie gehen wollte, äußerte sie: »Jetzt gehe ich, für immer!« »Ja, geh zur H...,« antwortete der Doktor. »Du kannst ja einen Menschen morden mit deiner bestialischen Dummheit und deiner satanischen Bosheit. Geh schnell, sonst schmeiße ich dich raus!« Damit war diese Ehe zu Ende. Auf den Doktor aber war ein Schatten gefallen, denn er konnte sich ja nicht verteidigen, auch wenn er physiologische Beweise erbrachte, die niemand verlangte. So lief er ein paar Monate wütend umher, und in der Wut verheiratete er sich wieder, und zwar mit einer Norwegerin, nachdem er sie gleich geschwängert hatte. Sie war im siebenten Monat, als sie getraut wurden, und die Frau wollte eine stille Hochzeit haben, der Mann aber veranstaltete eine pomphafte kirchliche Trauung mitten am hellen Tage. »Es ist so schön,« sagte er, »ein gesegnetes Weib zu sehen.« Der Pfarrer war nicht derselben Meinung, mußte sich aber zufrieden geben. Und als der Doktor als sein eigener Brautführer seine hochgewölbte Braut den breiten Gang entlang durch die Kirche führte, fiel der Schatten fort, und er stand im Licht, klar und gesund wie er war ... Bei Tisch hielt er vor hundert Gästen eine Rede und trank auf das Wohl seiner Gattin und seines ungeborenen Kindes. »Das ist Stil!« sagten einige. Andere aber fanden es zynisch. Diese Ehe Nummer zwei ging eine Zeitlang so lala. Dann kam natürlich das Puppenheim und der ganze Kram. Ligafrauen und Kanonfrauen, Bundesfrauen und Handschuhfrauen. Das Leben war für einen Ehemann eine Hölle. Die ganze uralte Idolatrie wurde Gynolatrie oder Frauenanbetung. Man hörte einen atheistischen Dichter erklären, seine Religion sei die Frau. Alle Literatur, die nicht die Frau verherrlichte, wurde für wertlos gehalten, so daß man wirklich mit Spencer glauben konnte, Kunst und Poesie hätten ihren Ursprung in der Kriecherei des Männchens vor dem Weibchen. Es hätte noch angehen können mit dieser Frauenlobpoesie, wenn sie nicht von Selbsterniedrigung des Mannes begleitet gewesen wäre. Männer fanden Genuß darin, sich zu erniedrigen und den Beweis zu erbringen, daß der Mann ein niedrigeres Tier sei, und als die alten Narren Ibsen und Björnson rund heraus erklärten, die Gesellschaft könne nur dadurch gerettet werden, daß die Frau ein-, der Mann aber abgesetzt werde, war die Narrheit auf ihrem Gipfel angelangt. Kam die norwegische Frage hinzu, so hatte der Doktor ein gemütliches Heim. Zwei Kinder waren freilich aufgewachsen, im Alter von dreizehn und fünfzehn Jahren, aber jetzt wurden auch sie zu Zankäpfeln. Alles war Zankapfel, und mit einer unlenksamen Frau war nichts zu machen. Warum sie sich nicht scheiden ließen? Die Kinder hielten das Elend zusammen, die Erinnerungen, und dieses Unerforschliche, das Gatten bindet, auch wenn sie sich hassen. Die Okkultisten sagen, daß sie halbgeistige Substrate ineinander erzeugen, die eine Art wesenhaftes Dasein führen; andere meinen, die Seelen des Mannes und der Frau wachsen mit Saugwurzeln ineinander fest und leben im Grunde in einer beständigen Umarmung; sie fühlen miteinander und durcheinander, wie Zwillinge tun sollen; deshalb leidet auch der Teil, der dem andern weh tut; er leidet unter diesem Leiden, das er selbst verschuldet hat; infolgedessen ist man wehrlos gegen die, die man liebt, und lieben ist leiden. Daher ist auch Trennung das schmerzlichste von allem; es heißt das Dasein zerreißen und auflösen, und die Erinnerungen sind die Kinder der Seele; man kann sie nicht verlassen, wann man will. Es gibt Ehepaare, die dreißig Jahre lang mit dem Gedanken umgehen, sich zu trennen, ohne daß es ihnen gelingt; sie trennten sich als Verlobte, als Neuvermählte, als Eheleute; sie trennten sich acht Tage vor der silbernen Hochzeit; und als sie so weit gekommen waren, glaubten sie, jetzt werde es bis ans Lebensende dauern. Aber drei Wochen später ging der Mann von Hause fort und blieb eine Nacht weg, die erste in den fünfundzwanzig Jahren. Am Tage darauf war er wieder daheim, und um die Versöhnung zu versinnbildlichen, richtete er eine neue Wohnung ein; und dann ging es weiter. Der Doktor hatte durch seine erste Scheidung so gründlich gelitten, daß er beschlossen hatte, in der zweiten Ehe auszuhalten, alles zu leiden, nur keine Erniedrigung. Aber es gibt so vieles, was unmerklich erniedrigt. In Gegenwart der Dienstboten abgekanzelt zu werden ist erniedrigend für einen Mann, und in Gegenwart der Kinder als Idiot behandelt zu werden, ist noch erniedrigender, besonders, wenn man der Klügere ist. Dies tägliche und stündliche Unterdrücken seiner Neigungen kann schließlich den Stärksten jedes Selbstgefühls berauben, und als der Doktor merkte, daß er in Gefahr war, beschloß er zu fliehen, die einzig mögliche Kampfweise bösen Frauen gegenüber; denn wer sich mit der Bosheit einläßt, gerät selber hinein. Und ihre Bosheit wirkte wie ein Nervengift, das ihn anzustecken drohte. Der äußere Anlaß zu dem Ausbruch war wie gewöhnlich der Besuch einiger Freundinnen im Hause. Eine von ihnen liebte Frau Dagmar, inwieweit unschuldig, ist schwer zu entscheiden, aber die Damen halten alles für unschuldig, was sie treiben, auch wenn die Grenze überschritten wird. Diese Freundin begann sich in die Erziehung der Kinder zu mischen. Das Mädchen wurde geschoren, und das Haar des Jungen ließ man wachsen, alles, um die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu verwischen. Doch als der Junge in der Schule wegen dieses seines weiblichen Äußern gehöhnt wurde und der Vater zugleich merkte, daß die Instinkte des Sohnes sich zu verweiblichen begannen, bekam er Angst; nahm eine Schere und schnitt das Haar ab. Als die Mutter das sah, geriet sie in Wut: »Darf eine Mutter nicht ihre Kinder erziehen?« schrie sie. »Zum Teufel, dann soll sie aber auch keine Sodomiten erziehen. Zwei gehören dazu, und ich bin der eine.« Die Mutter drohte zum Rechtsanwalt zu gehen. Das sagte sie immer. Aber es gab noch einen andern Faktor, der störend auf die Ehe einwirkte, und das war der damals von einem berühmten Arzt erfundene Kognak. Den benutzte die Frau als Universalmittel gegen alle Krämpfe und meistens vormittags gegen Nervosität und abends gegen Schlaflosigkeit. Die anscheinend unschuldigen kleinen Gläser verdarben Stimmung und Appetit, brachten zu unrechten Zeiten Schlaf und verscheuchten die Nachtruhe. Obwohl es mit dem Erfinder selbst, dem Professor, der Autorität, ein schlimmes Ende nahm und er ein Opfer seiner Kognakhypothese wurde, setzten die Damen das Trinken fort. Wenn der Doktor seine Frau warnte, berief sie sich immer auf den Professor. »Der Professor muß es wohl besser verstehen als du, der du nicht einmal Dozent bist.« Mit einem Wort, die Ehe war reif, so überreif, daß, als der Bruderzwist aufflammte, ein leichter Windstoß sie zum Bersten brachte. Frau Dagmar schrieb in der Frauenzeitung gegen die Theorien ihres Mannes, die sie anführte, ohne jedoch seinen Namen zu nennen, verdächtigte ihn als Reaktionär und warnte die liberalen Wähler vor einem solchen Kandidaten. Damit war offen der Krieg erklärt, und die Gatten hausten jeder in einem Teil der Wohnung. Aber die Katastrophe selbst wurde durch ein kleines Ereignis beschleunigt, das wie bestellt eintrat. Eines Morgens zur Zeit der Sprechstunde kam eine sehr gut gekleidete Dame zu dem Doktor. Dieser war erstaunt, denn die Damen hatten ihn in den Bann getan, weil er »unfein« war; er wollte nämlich ihre Andeutungen nicht verstehen, sondern sprach ihre Hintergedanken ungeschminkt aus; deckte ihre Geheimnisse auf, ohne sie fragen zu müssen. Er bat die Dame aber, Platz zu nehmen, und als er sie fixierte, sah er sofort, zu welcher Sorte sie gehörte. Der Ausdruck der Augen stimmte nicht zu dem des Mundes. Es waren Kinn, Wangen und Lippen eines Kindes, die Augen jedoch sagten etwas anderes, denn sie hatte vergessen, ihre Augen zu erziehen. Als er nun fragte, was ihr fehle, erklärte sie, es sei Blutarmut und Nervosität. Er hatte eine wohlbekannte Spur gefunden und fragte vorsichtig weiter: »Sind Sie verheiratet?« »Ja!« »Haben Sie Kinder, und wie viele?« »Ein Kind.« »Wann ist es geboren?« (Jetzt ging es wie nach einem Formular, denn er wußte die Geschichte auswendig.) »Vor drei Jahren!« »Nun, und dann?« Hier entstand eine Pause, denn in dem Worte »dann« lag das ganze Bekenntnis, das er ihr indirekt in den Mund legte; doch sie war nicht gekommen, um etwas zu bekennen, im Gegenteil. Er nahm deshalb den Faden wieder auf und fuhr selbst fort: »Will Ihr Mann nicht mehr Kinder haben?« »Nein!« »Wollen Sie mehr Kinder haben?« »Nein!« »Ja, daher sind Sie nervös und blutarm: ist Ihr Mann auch nervös?« »Er? Er macht mich ja nervös, und darüber wollte ich sprechen.« »Hören Sie, gnädige Frau, Sie machen sich wohl gegenseitig nervös mit diesem Schwindel ...« »Können Sie mir nicht sagen, Herr Doktor, was ich tun soll; ich kann als Frau nicht unverheiratet leben ...« »Tut Ihr Mann das nicht auch, da Sie keine Kinder haben wollen?« (Sie wollte nicht von ihrem Mann sprechen, nicht an ihn denken.) »Können Sie mir nicht etwas verordnen, Herr Doktor, etwas, was ...« »Meinen Sie, ich soll Ihnen einen Liebhaber verordnen? Dann macht er das Kind, und Sie sind der gefürchteten Schwangerschaft ebenso nahe.« Das war das ganze Geheimnis, und jetzt erlebte er eine Verwandlung bei offenem Vorhang; das kleine Gesicht wurde gegen ein anderes ausgewechselt, gegen ein so fürchterliches, daß er glaubte, ein ganz anderer Mensch säße auf dem Stuhl. Aber er fuhr unerschrocken fort: »Daß Ihr Mann es müde wird, Ihre Laster auszuüben, wundert mich nicht ...« Weiter kam er nicht, denn die Dame war in einem Augenblick zur Tür hinaus. Das war ja ein regulärer Fall und kam ebenso oft vor wie unglückliche Ehe. Aber als er in das Wartezimmer zu dem Diener hinauskam, fand er den Namen der Dame. Es war die Frau des Redakteurs von der Zeitung des Liberalen Vereins. Jetzt hatte er die Karre in den Dreck geschoben. * * * * * Aber damit war es noch nicht zu Ende, denn nach einer Viertelstunde trat Frau Dagmar ein, und da sie ein längeres Gespräch wünschte, war sie sanft, denn sie wußte sehr wohl, daß, wenn sie dreist war, nur die Tür verschlossen werden würde. »Was war mit der kleinen Frau X., die bei dir war?« »Sie wollte, ich solle ihr einen Liebhaber verschreiben. Ja, sie kommen her und verlangen Rezepte für Fruchtabtreibung und Präventivmittel ...« »Jetzt wirst du aber bei der Ärztekammer wegen verletzenden Benehmens gegen eine Patientin verklagt.« »Findest du, daß sie mit ihrer Beschwerde recht hätte?« »Ja!« »Dann bist du auch ein ...« Er suchte nach der Feuerzange, und die Frau verschwand. Da wußte er, daß es aus war. Dies war der damalige höllische Kampf der Geschlechter auf Leben und Tod. Und wenn man so viele Männer zugrunde gehen und vor der Zeit sterben sah, so wurde die Ursache nie aufgedeckt, denn man durfte nicht darüber schreiben. Die Natur hatte dem Mann das Recht der Initiative gegeben, weil er die wirkende Ursache war; jetzt aber sollte er dieses Rechts beraubt werden; die Frau, die nichts gibt, nur empfängt, eignete sich die Initiative an, und da ihre Rezeptivität unbegrenzt ist, mußte jeder Mann in einem ungleichen Kampf unterliegen, da die Ausgaben ihre natürliche Grenze haben. Und alles Umgehen der Naturgesetze bestrafte sich. Die Männer gaben sich, statt Väter zu werden, dazu her, die Zuhälter ihrer Frauen zu sein; die modernen Schlafzimmer mit ihren beiden eisernen Betten glichen mediko-mechanischen Instituten, Samenkletteranstalten oder den Privaträumen der Krankenturnanstalt. Was die Gatten suchten, fanden sie nicht, denn das findet man nur in Mutterschaft und Vaterschaft. Deshalb trat Tod an Stelle der Geburt. Das neunzehnte Jahrhundert war nicht das Jahrhundert des Kindes, das ist eine Lüge. Das achtzehnte Jahrhundert mit Rousseaus Emile, als die Mütter ihre Kinder wieder säugen lernten und der Mutterschaft ihre verlorene Ehre wiederschenkten, das war das goldene Zeitalter des Kindes. Das neunzehnte Jahrhundert aber, besonders dessen Ausgang, wurde die Hölle des Kindes. Die Kinder, die geboren wurden, verdankten ihr Leben einem unglücklichen Zufall, einer mißlungenen Hemmung des Willensaktes, deshalb wurden sie willenlos, geschlechtslos, charakterlos geboren. Die Mutterschaft wurde verachtet; Kindergebärerin wollte keine sein, und die Muttermilch selbst zu geben, wurde für schimpflich angesehen. Die Kinder wurden mit der Flasche aufgezogen und waren immer pimpelig, schlaflos und krank. Chemikalien, kohlensaures Natron, Milchzucker, sterilisierte Kuhmilch, das war die Nahrung. Eine sterile Flüssigkeit, deren Lebenskraft getötet war, sollte die lebendige Muttermilch ersetzen! Sie ergab auch sterile Menschen, die keinen neuen Gedanken zum Wachsen bringen konnten; Epigonen, Automaten, die auf die Fragen der Menschheit gedruckte Antworten von sich gaben, gedruckt auf kleine Papierfetzen gegen Erlegung der Volksschulgebühren. Es war die Epoche der Automaten und der Automatenkinder, der Flaschenkinder, der Schnullerkinder, die nie an der warmen Brust einer Mutter gelegen hatten, sondern gedrillt wurden, in einem wackelnden Wagen still zu liegen und an Körper und Seele zu frieren, unter Aufsicht eines fremden Mädchens und ihres Bräutigams, oft genug einer Prostituierten, die den Schnuller mit unsterilisierten Lippen aufsog. Es war das goldene Zeitalter der sterilen Frauen; und sie predigten Sterilität, bildeten eine Gemeinde und fanden Prophetinnen, bis sie schließlich eine staatlich anerkannte Kirchengemeinschaft waren. Im Kampf gegen diese Dekadenz unterlag der gesunde Mann Doktor Borg, um sich nie wieder zu erheben. Acht Tage später saß er allein in seinem geplünderten Heim, und vierzehn Tage später wurde er von allen Wahllisten gestrichen, als Reaktionär in der Frauenfrage und als Norwegerhasser. Zu einer Anzeige bei der Ärztekammer kam es nicht, aber seine Praxis war geschädigt. Dreizehntes Kapitel Frau Brita auf Storö Frau Brita Borg war durchaus nicht so merkwürdig, wie sie glaubte, und ihre Gutmütigkeit lag mehr im Fleisch. Als die Frauenfrage aufkam, war sie sofort mit dabei, die Menschheit zu retten, deren Grundmauern jetzt auf den Stützen der Gesellschaft, den Frauen, aufgebaut werden sollten. Folglich mußte der Mann gestürzt werden, und sie beteiligte sich an der Jagd. Diese Törinnen veranstalteten eine besondere Treibjagd auf große Männer. Karl XII. sogar wurde ausgegraben und für ein Weib erklärt; Napoleon war nichts aus sich selbst, sondern seine Mutter war alles; Goethe hatte alles von seiner Mutter gelernt (die nichts wußte). Andererseits: alle geheimen Krankheiten der Frau kamen vom Manne (die Männer hatten sie jedoch von den Frauen bekommen); alle Männer waren von Frauen geboren (daß aber alle Frauen von Männern gezeugt waren, darüber wurde nicht gesprochen!). Dieses ganze Lügengewebe und diese Ungerechtigkeit verteidigte man damit, daß die Frau jetzt die eingebildeten Ungerechtigkeiten rächen wolle. Was für Ungerechtigkeiten? fragte man. Ja, die ungleiche, aber schöne Teilung der Geschlechter durch die Natur, die nach dem goldenen Schnitt gemacht zu sein schien, bei dem der kleinere Teil sich zum größeren verhält wie der größere zum ganzen. Wo die Frau Schönheit und Reiz bekam, der Mann aber Kraft und Verstand. Wo der Frau die Pflicht zufiel, das Kind zu gebären und aufzuziehen, dem Manne aber, es zu zeugen und Kind und Mutter zu versorgen. Zu allen Zeiten, wenn ein Mann eine ehrbare Frau liebte, hatte sie alle Garantien gehabt, gut behandelt zu werden, solange sie treu war. Deshalb hatte die Frau immer unrecht, wenn sie sich über ihren Mann beklagte, denn von ihrem Benehmen hing das seine ab. Als ein Amerikaner seiner Frau eine brennende Lampe ins Gesicht geworfen hatte, ließ sich der Friedensrichter folgendermaßen aus: »Was für ein entsetzliches Weib!« -- Ja, ein Mann, der eine Frau geliebt hat, muß das Urböse gesehen haben, ehe er sich so weit vergessen kann. Die Frau hat immer unrecht dem Mann gegenüber, weil er der Mann ist und sie die Ergänzung des Mannes. Der Mann ist der Mensch, der allein die ganze Kultur geschaffen hat: Ackerbau, Industrie, Wissenschaft, Künste, Literatur, deren Früchte er seinem Weibe darbringt (daß ein paar Frauen an einer Ecke mit dabei waren und Kleinarbeit gemacht haben, bedeutet nichts). Frau Brita und ihresgleichen antworteten: Aber die Frau hat alle Menschen geboren. Darauf muß man erwidern: Der Mann jedoch hat alle Menschen gezeugt und seine Kinder vom Weibe gebären lassen! (Amen!) Gustav Borg hatte sich aus ererbter Galanterie, die vom Anfang des Jahrhunderts herrührte, als die Ideen des Mittelalters in der Romantik wieder auftauchten, sofort auf die Seite der Damen gestellt; und in der Galanterie oder Ritterlichkeit gegen die Damen liegt ja eine Parteilichkeit und Ungerechtigkeit. Es ist kein Eingeständnis seiner absoluten Inferiorität, wenn ein Mann aufsteht und einer Dame seinen Platz überläßt; es ist das freiwillige Opfer des Stärkeren für den Schwächeren. Aber so wollten die Damen jetzt die Sache nicht mehr ansehen, sondern sie verlangten Unterwerfung vor dem Überlegenen. Als nun Frau Brita ihre Kraft zeigen wollte, wurde sie roh und gefühllos; und etwas Widerlicheres als ein rohes Frauenzimmer gibt es nicht. Daß sie die Kinder vom Vater trennte, war eine Bagatelle, und daß die Kinder vor Sehnsucht nach dem Vater jammerten, genierte durchaus nicht. Zärtlichkeit, Mitleid, Barmherzigkeit gegen die unschuldigen Kleinen kam nie in Frage, wenn sie nur dem gehaßten Manne ihre Roheit zeigen konnte. In ihrer Klageschrift führte sie zwanzig Belastungspunkte an, von denen die meisten falsch oder leicht zu beantworten waren. Er sei brutal gewesen (wenn sie ihm gerade ins Gesicht log!), er habe sie in der Ehe vernachlässigt (weil sie sich ihm entzog oder ihre Gunst verkaufen wollte); er sei geizig gewesen (weil sie selbst mit Übersetzungen verdiente und das Geld auf die Bank trug oder es verjubelte); und so weiter. Vor Gericht zu stehen und seine Frau bloßzustellen, auch als Kupplerin der Tochter, das verbot ihm seine »Ritterlichkeit«. Deshalb gab er einem Advokaten Vollmacht, er solle auf alle Fragen, ob er etwas einzuwenden habe, nur antworten: »Nichts!« Um die Kinder sich zanken wollte er nicht, denn sie brauchten ihre Mutter nötiger als ihn. Hätte er sich zu einer Verteidigung mit Gegenanklagen verstehen können, so wären ihm vielleicht Kinder und Besitz zugesprochen worden. Jetzt mußte er alles verlieren; das wußte er, denn der Richter war ein Frauenrechtler. Inzwischen saß nun Frau Brita auf Storö und regierte. Das Kinderfräulein war natürlich verabschiedet, und die Minderjährigen wurden vernachlässigt. Sich selbst und dem fremden Fräulein überlassen, gingen sie traurig umher und fragten nach dem Vater. Die Barmherzigen antworteten, er sei verreist, die Unbarmherzigen, er sei fortgejagt. Tatsächlich war der Vater beständig unterwegs. Aus der Stadt war er nach Storö zurückgekehrt und hatte sich bei dem Schöffen eingemietet. Von dort machte er Streifzüge über die Insel, bestieg Berge und kletterte auf hohe Bäume, nur um den Dachfirst zu sehen, unter dem seine Kinder lebten. Nun hatten Esther und Max sich nach Gefallen eingerichtet und machten kein Geheimnis aus ihrem Verhältnis. Ja, sie führten sogar kleine häusliche Szenen auf, die an die allerhäßlichsten der Ehe erinnerten. Die Mutter beobachtete sie, schwieg aber lange. Schließlich eines Nachmittags ging sie zu den jungen Leuten hinein und richtete ohne Umschweife ihre Frage an den Grafen: »Nun, Max, wann gedenkst du zu heiraten?« Nach einer Pause der Überraschung antwortete Esther: »Heiraten? Nie.« »Hat Max dir nicht die Ehe versprochen?« »Nein, im Gegenteil,« antwortete Esther; »wir haben uns versprochen, uns nie zu heiraten. Haben wir bei euch und den andern nicht genug Elend gesehen, um von dem Schwur vor Gott, uns unser ganzes Leben lang zu lieben, abgeschreckt zu werden? Wer ist Herr seiner Gefühle und seiner Neigungen? Wer wagt im Frühling zu geloben, daß es nicht Herbst werden wird?« »Ach so, Graf Max ist so ein Bräutigam, der in den Speisekammern herumsitzt? Wir nannten sie in meiner Jugend Schmarotzer.« Der Graf erhob sich und erkannte in einem Augenblick das Falsche in seiner Stellung, so daß er verstummte. Aber das Mädchen nahm wieder das Wort. »Wann bist du zu diesen Ansichten gekommen, Mutter? Du, die ...« »Jetzt,« antwortete die Mutter. »Jetzt, da ich das freie Verhältnis an euch studiert habe. Nachdem ich eure Stürme und euer Zanken mitangehört habe, sehe ich ein, daß das freie ebenso falsch ist wie das gebundene. Es ist also Unsinn, dem Gesetz die Schuld zu geben; ich habe es eigentlich schon vorher gewußt, da ich gesehen habe, daß ausgehaltene Damen und ihre Aushälter ebenso unglücklich sind wie Eheleute und, wohlgemerkt, sich ebenso schwer trennen können, obwohl sie frei sind. Das ist nicht die Schuld der Ehe, sondern es liegt in der Natur der Sache; die Liebe ist Kampf auf Leben und Tod, und aus widerstreitenden Kräften soll ein neues kräftiges Leben geboren werden, mit Rechten an das Leben; diese Rechte werden vorläufig von Staat und Kirche bewacht, die die Vormünder aller ihrer Kinder sind. Jetzt geht ihr hin und bestellt das Aufgebot; Essen und Wohnung bekommt ihr von mir, aber kein Geld.« »Und der Eid, der falsche Eid?« »Den nimmt der Staat auf sich; übrigens gibt es die Scheidung, die einen von dem Eid entbindet.« Das Gespräch war zu Ende, und man trennte sich, um sich erst beim Abendbrot wiederzutreffen. Die jungen Leute saßen in Esthers Zimmer und waren ernst geworden. »Wir müssen uns trauen lassen,« sagte der Graf, »denn sonst ist mein Ansehen verloren, und ich kann mich selbst nicht achten.« »Also meinetwegen Trauung,« antwortete Esther, »doch wir ziehen nie zusammen, denn dann werden wir Feinde, das fühle ich an mir. Gesetzliche Freiheit! Damit bin ich einverstanden. Nicht gesetzlicher Zwang.« »Gut! Aber Treue, solange das Band besteht,« fügte der Graf hinzu. »Treue? Das heißt ja sich binden ...« »Wir binden doch uns selbst und einander durch eine Abmachung, und Abmachungen müssen gehalten werden, sonst stürzt die Welt ein.« Das verstand Esther nicht. »Das widerstrebt meiner Natur,« antwortete sie. »Denn deine Natur ist Treulosigkeit,« entfuhr es dem Grafen. Und im selben Augenblick zerbrach etwas; und eine Flamme loderte auf. Zum erstenmal in ihrem Leben tauchte der Kampf der Geschlechter auf. Die Frage existiere nicht für sie, hatten sie gedacht, hatten ohne einen Gedanken an den natürlichen Unterschied der Geschlechter gelebt. Jetzt saßen sie da als Mann und Weib, nackt nach dem Sündenfall, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten. Nach einer entsetzlichen Pause nahm Max das Gespräch wieder auf: »Merkst du, daß wir uns jetzt hassen?« »Als Mann und Weib, ja.« »Also müssen die Geschlechter Feinde sein?« »Gewiß, wie Nord- und Südpol am Magnet.« »Dann ist die Liebe Haß, und die Gattung besteht durch Haß fort, nicht durch Liebe.« Merkwürdig war, daß immer, wenn sie haßerfüllte Worte sprachen, die Anziehungskraft sich erhöhte, als habe die Stromstärke durch die Umschaltung zugenommen; und sie wurden mächtig zueinandergezogen in etwas, das der Liebe glich, sich aber als ein rasender Haß offenbarte. Jetzt suchte er sie mit brennenden Blicken und näherte sich ihr, als wolle er ihr weh tun, sie versengen, vernichten. Nicht um etwas zu bekommen, sondern um zu geben, etwas Furchtbares zu geben, vom Wesen des Urfeuers, sie antezipierte Geburtswehen leiden zu sehen. Sie aber, die durch das vorhergehende Gespräch aufgeweckt worden war, wollte nicht empfangen; sie erinnerte sich jetzt ihrer Stellung als Frau, ihrer demütigenden Stellung, die nichts zu geben hatte und das unter der Redensart verbarg, »sie habe ihm alles gegeben, sie habe sich gegeben«; sie sprang auf wie eine wilde Katze, nahm das Papiermesser vom Tisch und schrie: »Ich hasse dich!« Das konnte bedeuten: »Ich fürchte dich in diesem Augenblick, denn wenn du jetzt meinen Willen unterjochtest, würde ich neun Monate wie ein Vogelnest für dein Junges, für deins, umhergehen! Das will ich nicht! Ich will nicht dein Ei ausbrüten! Ich will nicht dein Acker sein, in den du säst ...« Er folgte ihren unausgesprochenen Gedanken und antwortete ihr innerlich: »Du erntest, wo ich gesät habe; du gehst mit meinem Kinde fort, wenn ich es von dir gebären lasse; du Diebin, die du mich und mein Werk ausstreichen willst, wenn du mein Kind geboren hast (denn mein ist es, weil ich ihm Leben und Bewegung gebe). Ich lese in deinen Augen, daß du imstande wärst, meine Vaterschaft zu verleugnen und dich selbst zur Dirne zu machen, nur um mein Eigentum an dich reißen zu können, voll Mutterstolz mein Kind auf den Straßen spazieren zu führen und mit deinem Werk zu prahlen. Einen Mann erniedrigen zu können, ist das letzte Ziel für den Ehrgeiz eines Weibes!« Nun schämten sie sich; sie saßen jeder in einer Sofaecke und haßten. Dann fing es wieder an. Der Graf begann: »Ja, jetzt schlägst du meine Bitte ab, und ich darf nicht böse sein; wenn ich aber deinem Befehl trotze, so glaubst du ein Recht zu haben, böse zu werden, ja ... Wenn man denkt, daß vernünftige Menschen sich wie Katzen balgen! Brunst und Haß! Siehst du, das ist die Liebe, das höchste, was es geben sollte, und doch gehört sie den niedrigsten Regionen an. Du bist ja Ärztin, was ist die Liebe in ihrem tatsächlichen Ausdruck?« »Eine Sekretion!« »Bravo! Und so etwas soll unsere meiste Zeit und unsere besten Gedanken in Anspruch nehmen! Weißt du, Esther, Idealist war ich nie, aber doch ist die Wirklichkeit eine Karikatur unserer Ideen von den Dingen. Alles ist herabgezogen und auf den Kopf gestellt; es gibt Augenblicke, wo ich eine Wahrheit in den Worten der alten Sage höre: Verflucht sei die Erde um deinetwillen! Es gibt Augenblicke, in denen ich glaube, daß der verrückte Stagnelius recht hatte, als er darüber klagte, daß unsere Menschenseelen in Tierkörper gekrochen seien. Wir benehmen uns ja wie Tiere, wir küssen uns mit demselben Munde, der die Speisen einnimmt, und wir lieben mit den Abführungsorganen! Ist es da ein Stolz, ein Mensch zu sein? Nein, demütigend ist es, und wir müßten uns alle schämen. Die Darwinisten haben schon recht, daß der menschliche Körper sich aus dem Tierkörper entwickelt hat, aber sie vergessen, daß die Seele ein selbständiges Dasein führt mit Ahnen von oben, mit Erinnerungen an die Sterne, und daß das Fleisch nur ein Futteral ist, das stremmt. Die Seelenwanderung der Ägypter ist schon richtig, aber ich glaube, wir sind in dieser affenähnlichen Hülle bereits auf der Wanderung begriffen. Weißt du, ich habe einmal in der Schwimmschule die weißgelbroten Menschenkörper gesehen und war frappiert von der Ähnlichkeit mit -- nicht mit Affen, sondern mit jungen Schweinen, die auch rosenrot und haarlos sind. Weißt du, ich habe Augenblicke, in denen ich buchstäblich nicht Platz in meiner Haut habe, wo ich meine Hülle abwerfen und meines Weges fliegen möchte. Ich beginne an alte Märchen zu glauben; ich glaube an den Sündenfall, denn seit wir gefallen sind, du und ich, haben wir uns nur verachtet. In der ersten Zeit, als ich dich liebte, sah ich deinen Körper nicht; ich sah nur deine Seele, und die war schön und gut. Dann kam der Teufel und das Tier. Neulich sah ich das Tier in dir, in deinen Augen. Es war auf einmal wie totes bemaltes Porzellan, sah aus wie ein Emailauge auf dem Schild eines Optikers. Da bekam ich Angst. Und trotzdem müssen wir uns aufbieten lassen! müssen hinunter in den Morast der Küche und des Kinderzimmers; du und ich wie alle andern. Der heilige Ehestand, an dem die Liebe keinen Teil hat, in dem auf den schönen Augenblick der Empfängnis immer Scheltworte folgen, in dem alle Laster blühen und die Tugend, wenn sie sich als guter Geschmack offenbart, ein Fehler ist, der ein Scheidungsgrund werden kann. Ich habe einen verheirateten Freund, der der Kälte gegen seine Frau beschuldigt wurde. Vor dem Richter äußerte er sich vorsichtig ungefähr so: Meine Frau klagt mich der Kälte an. Wir haben nach einjähriger Ehe nur ein Kind, aber wenn wir in Konstantinopel verheiratet gewesen wären, hätte ich jetzt zweihundert Kinder haben können; und trotzdem klagt sie! Zweihundert! Doch du weißt, die Menschen lieben es nicht, daß man sich verteidigt ...« Jetzt klingelte es zum Abendbrot, und sie mußten hinuntergehen. Es ging kalt und steif bei Tisch zu. Die Kleinen waren auch da. Irrtümlicherweise hatte der Knabe des Vaters Serviettenring bekommen. Er spielte damit und las den Namenszug; seine Lippen bewegten sich, aber man hörte nicht einen Laut. Doch Frau Brita hörte und verstand; und mit einem Ruck nahm sie ihm den Ring weg. Der Knabe errötete, schlug die Augen nieder und äußerte nach einer Weile: »Kann der eine Mensch dem andern verbieten zu denken?« Keine Antwort erfolgte; denn in diesem »der eine Mensch und der andere« lag ein starkes persönliches Selbstgefühl, das andeutete, daß das Kind sich mit der Mutter auf gleichem Niveau fühle; diese war ergriffen, vor allem deshalb, weil sie die Stimme des Vaters aus dem Kinde hörte. Dieser Mann, den sie aus der Welt ausgerottet zu haben glaubte, stand wieder auf und saß am Tisch, redend, vorwurfsvoll. Sollte er sich durch die Kinder rächen, sollte seine Seele noch in diesem Hause weilen, von dem er ausgeschlossen war? Sie fühlte in diesem Augenblick einen grenzenlosen Haß gegen das Kind, und als der Knabe aus Gedankenlosigkeit oder in unbewußtem Willen den Serviettenring wiedernahm, stand die Mutter rasend auf und packte das Kind am Ohr. Ruhig, kalt, beherrscht und mit der Überzeugung eines erwachsenen Menschen sagte der Knabe die folgenden Worte, die er nicht zu Ende gedacht hatte: »Rühr mich nicht an, Mama, denn dann stirbst du!« Was meinte er? Meinte er etwas? Wer weiß? Alle Kinder sind Wunderkinder insofern, als ihr intuitiver Verstand in dem kleinen unvollendeten Körper fertig dazuliegen scheint. Aber auch der Kinderkörper scheint fertig zu sein; er erscheint nur in verkleinertem Maßstab, und man hat oft den Eindruck, einen Miniaturmenschen zu sehen, wenn man ein Kind sieht. Die naiven Ausbrüche, die man von einem Kinde hört, sind nicht naiv, sie sind ebenso tief gedacht wie bei einem Älteren. Wir haben ja kürzlich in den Bekenntnissen eines großen Staatsmannes gelesen, er erinnere sich, in seinen Knabenjahren ebenso klug gewesen zu sein wie im Alter. Wenn das so ist, was für einen Zweck hat dann die Erziehung? Soll sie unterdrücken? Als der Knabe schwieg, sollte er in ein dunkles Zimmer gesperrt werden, weil er bei Tisch gesprochen hatte. Die Mutter hatte ihn am Arm gefaßt, die Verstimmung war allgemein, und Graf Max stand bereit, zu vermitteln, als plötzlich alle aufhorchten. Vom Garten her hörte man einen heulenden Laut, vielleicht das Brüllen eines Haustiers ... »Das Vieh ist doch im Winter nicht draußen!« unterbrach der Graf das unheimliche Schweigen. Keine Antwort erfolgte, die Mutter aber stand bleich da und hielt in ihrer Bewegung inne, während das Gesicht des Knaben ein inneres Licht und einen Frieden wie bei einem Sterbenden ausstrahlte. Die Mutter und er allein hatten den Laut verstanden. Es war der Vater! Ein Mann, der keine Tränen weinen kann, brüllt vor Schmerz. Er hatte also an dem dunklen Winterabend vorm Hause gestanden, um einen Schimmer von den Kindern zu sehen! Frau Brita machte mit der Hand eine Bewegung nach der Brust und verließ das Zimmer, ohne ein Wort zu sagen. Als die Kinder später nach ihr fragten, sagte das Mädchen, die gnädige Frau sei zu Bett gegangen und sei krank. * * * * * Am nächsten Morgen war die Frau noch krank; aber sie wollte keinen Arzt haben und wollte niemanden sehen. Sie schrieb ihre Anordnungen auf Zettel. Die jungen Leute bekamen den folgenden Befehl: »Ihr fahrt sofort in die Stadt und bestellt das Aufgebot.« Und sie fuhren. Als sie nach einer Hetzjagd beim Standesbeamten die Papiere in Ordnung hatten, wie sie glaubten, fanden sie sich im Amtszimmer eines Pastors ein, um das Aufgebot zu bestellen. Sie kamen durch ein Vorzimmer, das wie ein kleinerer Flur aussah, und traten in das Kontor, das einem größeren Flur glich. Schnee und Schmutz auf dem Fußboden, die Fenster ohne Gardinen, Holzbänke längs der Wände, Pulte, Ungemütlichkeit, schwere Luft, unfreundlich, unschön. Hier standen und saßen Sünder, die das Leben beginnen wollten, Männer und Frauen zum Beisammenleben für die ganze Zeit der Wanderung; hier standen und saßen Eltern, die das Neugeborene für den Kampf weihen und ihm einen Namen geben wollten; hier standen und saßen Menschen, die einen Anverwandten zu begraben hatten, was auch nicht so leicht ist. Nichts ist leicht, weder der Eingang, noch der Ausgang. Und das spürten sie, als sie hier saßen und warteten. Sie sahen düstere Männer in großen Büchern schreiben, schreiben und ausstreichen, offen die indiskretesten Fragen stellen. Der Name des Vaters? Unbekannt? Schon einmal verheiratet gewesen? Etwa geschieden? Die Scheidungsurkunde vorzeigen! Ist nicht vorhanden! Ist das Kind getauft? Ja, aber nicht hier. Wo? Ganz weit in Amerika! Müssen hinschreiben! Schreiben, schreiben, schreiben! »Dieser Teil der Seelsorge ist etwas sonderbar,« begann der Graf flüsternd. »Kontorarbeiten, Buchführung, Kladde. Das sind ja Standesbeamte! Onkel Henrik nennt es ein Pfarramt, aber es ist ja ein öffentlicher Beichtstuhl. Sind Sie zum Abendmahl gewesen? Was geht das euch an! Und sie sind nicht freundlich. Es klingt so hart, wenn die Diener des Herrn sprechen.« Der Saal leerte sich für einen Augenblick, und einer, der der Bürochef zu sein schien, schnaufte und wischte sich die Brille ab. Es war ein weltlicher Priester, schien es, denn er erzählte laut eine Anekdote von einer Frau, die am vorigen Sonntag von der Kanzel mit einem Verrückten aufgeboten worden war. Als er sich im Zimmer umsah und die Tochter der bekannten Frau Brita bemerkte, diese Tochter, die in Upsala ebenfalls von sich reden gemacht hatte, wurde er rot bis an die Haarwurzeln; und als der Kirchendiener im selben Augenblick vorbeiging, um das Kaminfeuer zu schüren konnte er den Mund nicht halten. »Nachheizen, Söderström, daß der Kamin rot wird; rot muß er sein, rot für die Roten!« »Schilt er uns aus?« flüsterte der Graf. Aber das Büropersonal belohnte den Chef mit einem erstickten Kichern, und dieser, dem der Erfolg zu Kopf stieg, trachtete nach neuen Lorbeeren. »War nicht vorhin ein Lümmel hier, der die Einzelheiten der letzten Scheidung wissen wollte?« fragte er den Küster. Dieser murmelte etwas, was nur dazu dienen sollte, den derben Witz hervorzurufen, der jetzt abgefeuert wurde. »Das ist ja wie im Volkstheater,« flüsterte der Graf. »Und ich habe es so ernst genommen! Wollen wir unserer Wege gehen? Esther?« »Nein! Denke an Mutter!« »Aber dies ist ja Schwindel! Ich gehe!« Der Kirchendiener kam wieder herein, in der Hand einen Wacholderbusch, den er im Kamin anzündete und im Saal umherschwenkte. Es herrschte nämlich eine Epidemie, und alle öffentlichen Lokale mußten ausgeräuchert werden. Das war Wasser auf die Mühle des Geistlichen. »Recht so, Söderström, räuchern Sie die Nihilisten aus!« »Das ist unglaublich,« flüsterte der Graf. »Das sind ja Landstreicher! Landstreicher! Wenn man sich vorstellt, solche versoffenen Studenten; wenn sie die Landwirtschaftliche Hochschule nicht absolvieren können, werden sie Seelsorger, und dann haben sie das Recht, ihren Mitmenschen die Leviten zu lesen; man nimmt den Zehnten, und dann kann man die Seelen lösen und binden. Nein, weißt du, dies ist faul, und ich sorge für meine Seele selbst besser.« Nun kam der Pfarrer. Er war ein gebildeter, würdiger Mann, jedoch ein höherer Beamter, kein Hirt und kein Hoherpriester. Er las in den Papieren und sagte mit freundlicher Miene, durchaus nicht herablassend: »Hier steht Herr Adelstorm, da muß doch Graf stehen.« »Ja, das müßte es, aber mein Vater, der Bankkassierer ist, hat einen Titel abgelegt, der nur falsche Prätentionen mit sich bringt ...« Der Geistliche machte ein anerkennendes und fast bewunderndes Gesicht. »Und ich,« fuhr der Graf fort, »bin dem Beispiel meines Vaters gefolgt, besonders weil das ganze Titelwesen veraltet ist.« Der Geistliche wurde finster, denn er witterte einen dieser modernen Angriffe auf die Gesellschaft, die doch ihre Mitglieder nicht nach dem eigentlichen Gewicht ordnete. Aber er war ein humaner Mann und ging weiter. »Sind Sie, Herr Graf, Verzeihung, ich kann nämlich Ihre Ansicht über die Wertlosigkeit der Titel nicht teilen, da der Staat selbst durch sie bürgerliche Verdienste einschätzt ... Sind Sie nicht getauft, Herr Graf? Ich sehe keinen Taufschein.« »Getauft? Nein, das glaube ich nicht.« »Glauben Sie nicht? Dann kann ich nicht aufbieten.« »Dann stehen wir da! Esther! Aber seltsam ist es jedenfalls, Herr Pastor; wenn man nicht heiraten und sich nicht trauen lassen will, dann wird man in Acht und Bann getan; und will man heiraten und sich trauen lassen, dann werden Hindernisse aufgerichtet, über die alle Verheirateten sich beschweren. Warum wollen Sie eine so einfache Sache hindern? Sie verlangen ja unter anderm den Beweis, daß man für die Ehe frei ist! Wie soll man das beweisen können!« »Meine Instruktion ist das einzige, worauf ich Rücksicht nehme ...« »Aber das ist mir nicht möglich, und deshalb ... deshalb gehen wir jetzt unserer Wege, _unserer_ Wege.« »Warten Sie einen Augenblick,« fing der Pastor wieder an. »Wir wollen uns die Papiere des Fräuleins ansehen! Hier steht -- unkonfirmiert! Ja, dann geht es nicht. Ich bedaure, aber ich kann nichts dazu tun.« Jetzt war an Esther die Reihe zu reden, denn sie hatte ihrer Mutter das Versprechen gegeben, und in ihr erwachte auch eine Erinnerung an den Vater, wie er sie draußen am Strande bei der Verlobung, die doch die Einweihung einer neuen Familiengründung war, in die Arme geschlossen hatte. Damit war das Bündnis doch gewissermaßen etwas anderes geworden als eine Bekanntschaft. »Können Sie uns nicht helfen, Herr Pastor?« sagte sie in halber Verzweiflung, die sie anziehend machte. »Nein, meine Freunde, das kann ich nicht. Denn ich setze voraus, daß Sie, Herr Graf, sich nicht taufen und Sie, mein Fräulein sich nicht konfirmieren lassen wollen.« »Nein,« antwortete Esther und wurde zu einem ganz kleinen Mädchen, »denn wir glauben nicht an die Lehre. Aber sollen wir deshalb ausgestoßen und von Eltern und Geschwistern verachtet werden? Das ist doch zu streng!« Der Pastor war gegen seinen Willen gerührt, als er sah, daß sie bei dem wichtigen Schritt doch gleichsam einen höheren Schutz in den schlimmsten, verhängnisvollsten Kämpfen des Lebens suchten. Er fand auch in ihrer Opferwilligkeit den Wünschen der Eltern gegenüber etwas Schönes, obwohl sie streng genommen ihr Gewissen opferten. »Ich gebe zu,« begann er ... Jetzt hustete der Bürochef, und das bedeutete: »Gib nichts zu!« »Ich gebe allerdings zu ...« »Herr Pastor,« unterbrach der Buchhalter ... Und diesmal wurde nichts aus dem Zugeben. Als die jungen Leute das Haus der Sünder verließen, konnte der Graf nicht mehr an sich halten: »Pfui!« sagte er, »dies ist ja alles verrückt.« Im selben Augenblick stand der Pastor an ihrer Seite; und mit einer freundlichen, menschlichen Miene faßte er Esthers Boa, als wolle er sie am Schwanz festhalten oder sie schelmisch zausen: »Mein Fräulein,« sagte er, »lassen Sie sich konfirmieren; es ist ja nur eine Formalität; und Sie, Herr Graf, lassen Sie sich taufen, es ist ja nicht gefährlich; nur etwas Wasser!« »Sind es nur Formalitäten,« antwortete Graf Max, »und nur etwas Wasser? Ja, dann ... danke für die Aufklärung, Herr Pastor ... Aber denken Sie, wir Dummköpfe dachten, es sei etwas anderes! Komm, Esther!« Sie gingen. »Glaubst du, es ist seine Überzeugung, daß es nur Formalitäten sind?« fragte Max. »Nein,« antwortete Esther, dem Weinen nahe; »er ist ein netter Mann, der uns trösten und helfen wollte. Deshalb hat er das gesagt.« »Jetzt küsse ich dich in Gedanken, Esther, hier mitten auf der Straße, weil du gut von den Menschen denkst!« »Es kann doch auch um einen Pfaffen schade sein!« »Sogar um einen Pfaffen! Ja, jetzt sehen wir aber, daß die Kirche schuld ist, wenn die Ehen ab- und die freien Verbindungen zunehmen. Geschehe ihnen nach ihrem Willen.« »Was machen wir jetzt?« »Wir gehen zu Holger in die Redaktion und reden uns dies von der Seele.« »Ja, das tun wir.« * * * * * Die Zeitung hatte einen gewaltigen Aufschwung genommen, seit sie in ihrem jungen Redakteur einen neuen Motor bekommen hatte. Kühn, vorurteilsfrei hatte er in seinem Akkumulator alle Ströme gesammelt. Liberalismus, etwas Sozialismus, die ganze Frauenfrage, etwas Theosophie, Tierschutz, Sport, ein wenig Verteidigungsfreundlichkeit neben sukzessiver Abrüstung, Weltbürgerschaft auf patriotischer Basis, prinzipieller Freihandel mit Schutzzoll, wenn die Gefahr es verlangte. Dieser Eklektizismus konnte so aussehen, als sei er durch den Wunsch nach Erhöhung des Abonnentenkreises geboten, aber er hatte wohl andere Gründe. Als die schwedische Landwirtschaft sich Ausgangs der achtziger Jahre in wirklicher Gefahr befand, wurde die Zollfrage in den Kammern aufs Tapet gebracht und versetzte das Land in vollständigen Aufruhr. Wie gewöhnlich wurde die Proposition falsch gestellt: Schutzzoll oder Freihandel; und die ganze Nation teilte sich in zwei Lager: Bauch und Glieder, obwohl keiner recht wußte, wer Bauch war. Die Schutzzöllner siegten, und die Bauern hielten sich für gerettet. Aber im Jahr darauf war eine Mißernte in Rußland, und die schwedischen Bauern, die auch Saatgetreide kaufen mußten, fürchteten Hungersnot. Da wurde der Schutzzoll auf Getreide wieder aufgehoben, der ganze schreckliche Zollkrieg erwies sich als eine Zeit- und Kraftverschwendung, und die Siegenden waren die Verlierer. Wir, die wir im neuen Jahrhundert gesehen haben, wie die alten Freihandelstheorien Englands aufgegeben wurden, haben wohl unsere Begriffe korrigiert und erkennen, daß das ökonomische Leben sich nicht so mathematisch abwickelt, wie man geglaubt hat. Freihandel bedeutet, daß mehrere Staaten frei ihre Produkte austauschen. Man verliert dann vielleicht an einem Posten, gewinnt aber an einem andern, und allmählich findet zum Vorteil aller ein Ausgleich statt. Daß aber ein Staat sagt: Jetzt bin ich Freihändler, während die andern Schutzzöllner sind, das heißt ja sich selbst plündern und ist im übrigen etwas Unsinniges, da das ganze einen Vertrag zwischen mehreren voraussetzt. Das ist, als wolle man in Kriegszeiten abrüsten. Alle aber, die den Zollkrieg erlebt und gesehen hatten, daß Recht und Unrecht nicht auf einer bestimmten Seite lag, wurden etwas vorsichtiger; und das ist das Charakteristische in der Physiognomie des Jahrhundertendes: Vorsicht, Bedachtsamkeit. Das hätte man früher Kompromiß genannt im boshaften Sinne oder Krämertum, Skeptizismus in der Bedeutung von Schlappheit des Charakters und der Ansichten. Jetzt trat dieser Ausgleich ein, bei dem der eine tatsächlich von dem andern empfing; man lernte voneinander; der eine tauschte einen Vorteil gegen einen andern ein; die Gesellschaftsklassen vermischten sich, man brauchte nur im Adelsalmanach nachzusehen, wie viele bürgerliche Namen sich mit hochadeligen verbunden hatten und wie viele geringe Posten mit Trägern der größten Namen besetzt waren; der Staat unterstützte den Sozialismus, und die Sozialisten bekämpften den Anarchismus. Die Zeit der Zersplitterung begann in die der Konzentrierung überzugehen, und die Menschen gaben sich Mühe, einander zu verstehen. Manches von dem Neuen hatte sich als ein mißglücktes Experiment erwiesen, doch auch Experimente mit negativem Resultat sind nützlich und erzielen Nebenprodukte; die Alchimisten fanden freilich das Gold nicht, dafür aber entdeckten sie die Schwefelsäure, die viel nützlicher ist. Als Ingenieur Borg zur Macht gekommen war, hatte er sofort entdeckt, daß es nicht lohne, danach zu streben, eine Meinung zu beherrschen und die andern zu verfolgen, denn dann zeigte sich sofort beim Quartalsende ein Rückgang. Der Kassierer war das Barometer; er sah in seinen Büchern, wie der Wind wehte. Und wenn auch der Redakteur den Mut gehabt hätte, dem wirtschaftlichen Verlust zu trotzen, so sah er doch durch die abgehenden Abonnenten den Einfluß der Zeitung sich verringern. Er verlor also schnell seinen frohen Glauben an die Allmacht der Presse und fand sich allmählich darein, Diener zu sein statt Herr; daher blühte das Geschäft. Das junge Paar hatte jetzt eine große Wohnung mit drei Dienstboten, und die Redaktion hatte ihr Lokal erweitert. In ihren Räumen gingen Minister, Bauern, Arbeiter, Generale, Schauspieler und Künstler aus und ein. Einfluß hatte man, aber die Macht stand im umgekehrten Verhältnis zu der Abhängigkeit, der man sich unterwerfen mußte. Gehorchen und herrschen! Heute war Sturm auf der Redaktion. Es gab nämlich Mitarbeiter, die in der verflossenen Zeit lebten und die Zeitung für ihre privaten Interessen benutzten. Jede Notiz, auch die unschuldigste, hatte einen geheimen Sinn: einen Vorteil, einen Nutzen zu erringen, einen Groll zu befriedigen. Besonders hatte der Theaterkritiker sich eine Machtstellung angemaßt, die er mißbrauchte, um zu herrschen und sich als jemand zu fühlen, obwohl er nichts war. In Verbindung mit weiblichen Favoriten bestimmte er über die Schicksale der Menschen, stürzte und lancierte ganz nach Belieben. Besonders hatte er sich des Theaters angenommen, das aus leicht erratbaren Gründen den Namen »Hoflieferant« führte. Es bot schlechtere Dinge als das zweite Theater, genoß aber Protektion und Staatsunterstützung, während das Personal sich zu den höheren Hofbeamten zählte. Ingenieur Borg kannte die Verhältnisse an den Theatern nicht, aber es hatte ihn gereizt, daß das schlechtere sich einer Protektion erfreute, die das bessere hinderte, emporzukommen. Daß da manche häßliche Dinge vorgekommen waren, wußte er, aber darum kümmerte er sich nicht, und von der intimen Rolle, die sein Kritiker in dem königlichen Lustgarten spielte, ahnte er nichts. Deshalb schlug er los mit einem Artikel gegen »ungesetzliche Protektion« und trat damit in den Kohlgarten seines Rezensenten. Darauf folgte die Entlarvung, bei der herauskam, daß gerade seine Zeitung die Misere unterstützt hatte. Das war ärgerlich, und Ingenieur Holger war weitergegangen, als er wollte, hatte an ein faules Ei gerührt und sich einer Majestätsbeleidigung schuldig gemacht. Die Klage war noch nicht erhoben, aber man sprach in den höheren Kreisen darüber, und auf der Redaktion rüstete man sich zum Kampf. Während dieser allgemeinen Aufregung kamen Max und Esther in die Redaktion, um Holger aufzusuchen. Dieser war in sprühender Stimmung und freute sich über das Ereignis, das Anlaß geben würde, allerlei alten Kram zu ordnen. Er begrüßte die Schwester und Max, den er schon Schwager nannte und als solchen betrachtete, denn in den Vorstellungen der Jüngeren stand fest, daß eine Verlobung die Veröffentlichung einer erlaubten Verbindung sei. »Also ihr wart auf dem Pfarramt und habt Schelte bekommen! Was wolltet ihr da auch? Die eigenen Kinder der Kirche sind die Stiefkinder; Israeliten, Freikirchler und Mormonen werden aufgeboten, wir aber, die zu dem rechten Schafstall gehören, werden es nicht. Hört einmal, wenn ihr Lust habt, so will ich selbst Hochzeit halten und euch in der Zeitung aufbieten, zum ersten, zweiten und dritten Mal.« »Wir hätten alle Formalitäten übergangen,« antwortete Esther, »wenn Mutter uns nicht gezwungen hätte.« »Mutter, ja? Wie geht es ihr?« »Sie sagt, sie sei krank, und hat sich nach einem Auftritt zu Bett gelegt ...« »Ja, das mit dem Alten war ja furchtbar, aber in diesen Zeiten muß man um seine persönliche Existenz kämpfen, und wer fällt, bleibt ungerächt liegen.« Jetzt klingelte im Zimmer nebenan das Telephon. »Entschuldigt!« Und Holger verließ die jungen Leute. Durch die halbgeöffnete Tür hörte man einige abgerissene Ausrufe. »Was sagt ihr? Herr du meine Güte! -- Das ist unglaublich. -- Ja, sie sitzen hier in meinem Zimmer, und ich werde sie sofort hinausschicken! -- Das ist zu gemein! -- Vater, Vater sollte ...? Ach, Unsinn! -- Und der Pastor glaubt es? -- Herr des Himmels! -- Wißt ihr ... Wißt ihr ... Hallo! ... Ist der Arzt draußen gewesen? ... Was hat er denn gesagt? ... Keine äußere Beschädigung! ... Ja, adieu einstweilen; sie kommen mit dem nächsten Dampfer!« Holger kam heraus, weiß um die Nase, die schmal war wie ein Messer. »Herr des Himmels, ist das eine Geschichte! ... Mutter ist tot! in ihrem Bett gestorben!« »Mutter ist tot?« »Ja, und das schlimmste ist: die Leute sagen ... Vater stehe im Verdacht ... weil sein Prozeß ... nur auf diese Weise beigelegt werden konnte!« »Das ist entsetzlich!« rief Esther, die in diesem Augenblick nicht recht wußte, welche Richtung ihre Sympathien nehmen sollten. »Und was sagt der Arzt?« »Er kann keine andere Todesursache finden als Herzschlag.« »Dann müssen wir sofort hinausfahren!« Keine Träne wurde vergossen, keine andere Gemütsbewegung äußerte sich als ernstes Erstaunen. Man kannte das Leben und seine brutale Art; man war von Anfang an auf alles gefaßt, und in dem Kampf, dem ewigen Kampf um alles, mußte ja einer unterliegen. * * * * * Als Esther und Max in der Villa auf Storö anlangten, sahen sie weiße Laken vor den Fenstern hängen. Auf dem Flur kamen ihnen die kleinen Kinder entgegen, die schwarz gekleidet waren. Sie hatten keine Vorstellung vom Tode und schienen sich in dem Frieden und der Stille, die nach den Stürmen herrschten, wohl zu fühlen. »Mama ist tot!« sagte der Knabe, als berichte er irgend etwas Beliebiges, und mit einem kleinen Anflug von Stolz, als erster eine Neuigkeit überbringen zu können. Als Esther mit der Wirtschafterin in das Zimmer der Mutter trat, erinnerte sie sich sofort daran, daß sie Ärztin war, und untersuchte den toten Körper, der wirklich als tot befunden wurde. Der Gesichtsausdruck war genau der gleiche, den sie bei ihrem letzten Zusammensein bemerkt hatte, als das Brüllen des Vaters aus dem Garten ertönt war, und das veranlaßte sie, an eine psychische Todesursache zu denken. Es gab also etwas, was Seele hieß, es existierten Gefühle und ähnliche Dinge, die nicht aus Zellen und Geweben hergeleitet werden konnten. Als sie das, was sie wollte, konstatiert hatte, fragte sie die Wirtschafterin: »Hat der Herr, hat mein Vater sich hier im Hause sehen lassen, nachdem er es verlassen hat?« »Nein, das hat er nicht; aber ... aber er ist wohl gemütskrank, denn man hat ihn gehört ... die ganze Nacht und den Tag über hier draußen im Walde.« »Gehört?« »Ja, er hat geschrien, so daß die Frau nicht schlafen konnte. Aber als die Frau tot war, wurde er still.« »Wie seltsam! Wo ist er denn jetzt?« »Es heißt, daß er in der Pfarre wohnt.« Esther ging zu Max hinunter, der am Klavier saß und tat, als spiele er, ohne aber die Tasten niederzudrücken. »Glaubst du,« fragte sie, »daß Mutters Gewissen erwacht ist?« »Nein, das glaube ich nicht.« »Was glaubst du denn?« »Ja, wenn ich Theosoph wäre, würde ich vermuten, sie sei an seinem Kummer gestorben. Seine Seele, die auf ihre gepfropft war, wurde ja weggerissen, und es fehlte die Zeit für eine sanfte Loslösung; daher wurde ihr Herz zerstückelt. Es ist nicht so leicht, sich zu trennen, wie die Leute glauben, und es ist nicht ungefährlich. Wenn eine Frau ihrem Mann untreu ist, auch wenn er nichts davon weiß, fühlt er es telepathisch und wird von Selbstmordzwang ergriffen. Merkwürdig ist, daß die Mordlust des betrogenen Mannes meistens im Aufhängen ihren Ausbruch sucht. Daß er sterben will, hängt damit zusammen, daß seine Seele durch die Frau in unerlaubte Verbindung mit den niedrigeren Sphären eines Mannes gebracht wird; und der Selbsterhaltungstrieb der Seele ist so stark, daß sie lieber stirbt, als sich verunreinigen läßt. Wenn die Männer wüßten, wie gefährlich es ist, anderer Frauen zu berühren, lebensgefährlich; und wenn sie wüßten, wie geringe Lust ihnen zuteil wird, wenn sie die Frau eines andern besitzen! Sie suchen _sie_ und finden ihn, denn er ist in ihr und versperrt den Weg. Vor kurzem ist ein junger Millionär mit der Frau eines andern durchgebrannt. Sie sind genügend weit gereist, bis in den Orient. Als sie sich nun hatten, konnten sie sich doch nicht kriegen. Deshalb hat er erst sie und dann sich selbst erschossen.« »Konnten nicht?« »Nein! So stand es in seinem letzten Brief an -- den Mann, der sein Freund gewesen war und es jetzt in der Todesstunde wieder wurde! -- Ein anderer Fall! Ein Mann verließ seine Frau, weil nicht mit ihr auszukommen war. Nach einem Jahr verheiratete er sich mit einem jungen Mädchen. Als er in das Brautgemach trat, fand er seine erste Frau im Brautbett. Sie war es natürlich nicht, aber die Ähnlichkeit war so täuschend, daß er von Entsetzen gepackt wurde und vor dem Spuk davonlief. Da hast du die Lösung der rätselhaften Geschichte. Nach ein paar Jahren verheiratete er sich wieder, bekam Kinder und lebt noch jetzt.« »Das sind unheimliche Geschichten!« »Aus dem Alltagsleben. Beobachte jetzt deinen Vater, wenn er wieder heimkommt, denn das tut er, aber erst, wenn Mutter in der Erde ist. Er ist gesund. Er vermißt sie nicht, im Gegenteil; er trauert nicht, im Gegenteil; aber er hat Leichenfarbe und leidet besonders an Frost; er friert so entsetzlich, und weinen tut er auch, ohne traurig zu sein. Er magert zugleich ab, und seine körperliche Abnahme steigert sich ungeheuer. Das ist die Loslösung von ihr. Das pflegt ein Jahr zu dauern.« »Wo hast du das gelesen?« »Ich habe es nicht gelesen, ich habe es beobachtet, an Alltagsmenschen. -- Und wenn ein Mann von Liebe erfaßt wird, von großer Liebe zu einer Frau, so hast du wohl seine Transformation gesehen. Das erste ist, daß er abmagert, aber in schöner Art. Alle Gewebe werden subtiler während der Verlobung, er ändert, ohne sich dessen bewußt zu sein, seine Diät. Bevorzugt Obst, Milch und Wein; verträgt nichts Scharfes oder schlecht Riechendes. Der Körper bereitet sich auf die neue Geburt vor, um die Emanationen ihrer Seele aufzunehmen; er bewacht seine Handlungen und Gedanken, denn er weiß, daß jetzt alles von ihm abhängt. Er will sie nicht von weitem besudeln, und er weiß, daß sie leidet, wenn er böses denkt. Ist dir aufgefallen, wie sein Äußeres sich vergeistigt, wie ein Leuchten von ihm ausgeht, wie er phosphoresziert; wie der Einfältige scharfsinnig, der Dumme geistreich, der Häßliche schön wird? Das ist die Vermählung der Seelen!« »Das verstehe ich nicht!« unterbrach Esther. »Nein, das weiß ich,« antwortete Max, »und deshalb ist unser Verhältnis zu Ende!« »Zu Ende!« »Ja, zu Ende! Denn ich bin schon von dir gelöst!« Jetzt sprang Esther zornig auf: »Ich habe dich nie besessen!« »Nein, du konntest mich nicht bekommen! Du gehörtest nicht meinen Regionen an.« »Und das sagst du so kalt!« »Es ist nicht kalt, aber du empfindest es so! -- Frierst du jetzt nicht?« »Ja, ganz furchtbar!« »Siehst du, es gibt andere Wärmequellen als mechanische Arbeit und chemische Verwandtschaft. -- Findest du nicht, es zieht hier im Zimmer?« »O, es weht.« »Das bin ich, ich nehme meine Aura zurück; weißt du, was Aura ist? Nein, das steht nicht in deinen Veterinärbüchern. -- Hast du mich wirklich nie besessen?« Esther wurde rot und flüsterte, als schäme sie sich: »Doch, einmal ... im Traum!« »Das wußte ich,« antwortete der Graf; »und ich weiß wann! Siehst du, mein Kind, ich glaube, daß unsere Körper sich hassen, und das ist so oft der Fall in der Ehe ... Jetzt aber hast du den Beweis für die Ausdehnungsfähigkeit der Seele oder ihre anscheinende Kraft, aus sich selbst herauszugehen. -- Weißt du, was der nächtliche Alp ist? Das ist die Seele deines Feindes, die dich besucht. Deshalb, siehst du, soll man sich mit Menschen nicht allzu intim einlassen, denn dann kommen sie in Kontakt mit einem und gewinnen dadurch Einfluß oder die Fähigkeit, mit dir in Rapport zu treten. Ich kenne zwei Neuvermählte, die mitten in der Nacht von Herzklopfen und Angst geweckt wurden. Sie konnten es nicht erklären. Aber dann wurde festgestellt, daß das Phänomen mit einem Traum im Zusammenhang stand, den sie gemeinsam gehabt hatten, wenn auch sehr dunkel, so dunkel, daß er nur den Eindruck einer bestimmten Person hinterlassen hatte. Er, der Mann, wollte nicht gern den Namen nennen, denn es war ein Kurmacher seiner Frau vor der Verlobung. Aber als die Frau diesen Namen aussprach, fühlte sich der Mann auch nicht mehr behindert, und siehe da, ihre Gedanken und Träume waren von dem nächtlichen Besuch des Verschmähten gestört worden. Denke dir, wie sorglich man seine Gedanken hüten muß, um nicht ein Verbrechen zu begehen ... Jünglinge und Jungfrauen, die im Schlaf gestört werden, werden meistens nicht von _ihren_ Phantasien beunruhigt, wie man glaubt, sondern von den Phantasien anderer, Schlafender oder Wachender. Ich kann mich nicht erinnern, als Jüngling von wollüstigen Träumen gestört worden zu sein, wohl aber von Empfindungen, die von außen heranzudrängen schienen und mir handgreiflich vorkamen. -- Um nun aber wieder von deinem Vater zu reden, so ist meine Überzeugung, daß er deine Mutter getötet hat, ohne es zu wissen. Sie ist an ihm erfroren, und wenn du nachsiehst, so ist sie den Tod des Erfrierens gestorben.« Esther begann im Zimmer auf und ab zu gehen und nahm einen Schal vom Riegel: »Ich fürchte mich vor dir,« sagte sie. »Ich friere an dir auch zu Tode!« »Leg den Schal deiner Mutter fort,« sagte der Graf ruhig. »In ihm steckt soviel von ihrer Aura; und das kann dich beunruhigen! Du kannst in krankhafte Stimmungen kommen ...« Esther warf den Schal weg und sagte: »Es brennt wie Nesseln auf dem Körper!« »Das Nessusgewand! da hast du es! -- Siehst du, wie empfindlich das Seelenleben ist. Du siehst es im Mikroskop nicht, aber mit deinem wachen inneren Auge siehst du es!« »Warum hast du mir so etwas früher nie gesagt?« »Wenn ich es gesagt hätte, wäre unser Verhältnis zu Ende gewesen; denn es beruhte ja darauf, daß ich dich in dem Glauben ließ, ich sei dupiert. -- Aber mein Kind, du hast nie Geheimnisse für mich gehabt. -- Als du das letzte Mal ohne mich auf den Ball gingst, warst du böse auf mich und hattest beschlossen, dich zu rächen. Ich saß zu Hause und begleitete dich in meinen Gedanken. Als du mich verrietest, als du meinen Kopf und meine Ehre einem Kavalier ausliefertest, dessen Persönlichkeit ich errate, da weinte meine Seele wie über ein Verbrechen gegen die Gesetze des Himmels. Und als du dich hinter einer Tür von ihm küssen ließest ...« Esther stand stumm vor Entsetzen da, und ihr Gesicht fragte: »Wie kannst du das wissen?« Max aber, der nur auf diese Bestätigung gewartet hatte, fuhr fort: »Da hatte ich ein Gefühl von Schmutz auf meiner ganzen Haut, so intensiv, daß ich alle meine Kleider abwerfen und mich in meiner Badewanne abspülen mußte. Du siehst also, daß wir nicht zusammen leben können, da du kein Geheimnis vor mir haben kannst! Nachdem ich also die Gesetze der Ehre erfüllt und dir die Trauung angeboten habe, sage ich dir lebewohl. -- Lebwohl! Jetzt nehme ich das meine zurück!« Er ging, und Esther blieb mitten im Zimmer stehen, starr wie eine Bildsäule. Vierzehntes Kapitel Majestätsbeleidigung Die Anklage war erhoben und hatte viel Aufsehen erregt. Man fragte sich, ob es ein Ausdruck des Übermuts oder der Furcht sei. Die Königsmacht war ja so geschwächt, daß ihr Inhaber die großen Rechte, die die Verfassung bewilligte, zum Beispiel seine Ratgeber frei zu wählen, nicht zu benutzen wagte. Und in Norwegen wurde tatsächlich mit dem Namensstempel regiert. Der Monarch war nur eine Art Repräsentant des Reiches in der Heimat, wie die Gesandten das Reich im Auslande repräsentierten. Regieren tat der Reichstag, und der Monarch war nicht mehr Regent. Beim Empfang einer Deputation, die seine Unterstützung in einer wichtigen Gesetzgebungsfrage erbat, hatte Seine Majestät bedauert, nichts in der Sache tun zu können, da seine Macht nicht so groß sei, wie sie glaubten. Aber je schwächer die Stütze dort oben wurde, desto ängstlicher wurden all diese Hilflosen, die bei ihr Schutz suchten; sie rotteten sich zusammen wie zornige Schafe und gingen Richtpfade, um früher anzukommen, Wege, die nie gerade waren und deshalb oft für die von unten sich Verteidigenden recht schwierig zu verfolgen waren. Zu den unschuldigeren Verteidigungsmitteln der Monarchie gehörte der Besitz der Hegemonie in der Theaterwelt. Im Theater traf das Volk seinen Monarchen, nur da; und dort hielt er seinen Empfang ab, wurde von seinen Getreuen begrüßt, gab durch Zusammenschlagen der Hände einen Wink, was beifällig aufgenommen und was totgeschwiegen werden sollte. Es war ein »Maifeld« und ein Volksthing, deshalb war diese Position nicht unwichtig. Nun hob der Reichstag die Subvention auf, in einem Anfall von Sparsamkeit oder in der Erkenntnis, daß die Theater, in denen zuweilen bestellte Stücke in leichtsinniger Weise die Gesetzgeber im Reichstag karikierten, als eine außerordentliche Reichsversammlung eine Bedeutung hätten. Da entstand Unruhe im oberen Lager. Das Privattheater, das mit der Zeit gegangen war und die große Kunst pflegte, hatte eine schwere Konkurrenz mit dem staatlichen Theater zu bestehen gehabt, und die Mittel, das freie Theater zu hindern, waren nicht immer gewählt gewesen. So hatten die Königlichen, die selbst in einem absolut feuergefährlichen Haus saßen, die Behörden veranlaßt, dem Privattheater gegen dessen geringere Feuersgefahr so kostspielige Schutzmaßregeln vorzuschreiben, daß es in drückende Schulden geriet. Jetzt, als das Königliche Theater geschlossen werden sollte, entstand die Befürchtung, das Privattheater könne die tonangebende Nummer eins werden, und das mußte man verhindern. Da rotteten sich Adel und Bürger zusammen und bildeten ein Theaterkonsortium, das unter der Maske vaterländischer Aufopferung ein Lotterietheater startete, das später der Nation als Königliches Nationaltheater oktroyiert werden sollte, alles unter der Voraussetzung, daß der Reichstag dies trojanische Geschenk annehmen werde. Das heißt, man wollte ein Hoftheater haben, das der Reichstag unterhielt, trotz dessen bestimmter Weigerung, Theater- und Kneipenwirtschaft zu betreiben. Dies betrügerische und etwas einfältige Vorgehen hatte die Demokraten gereizt und den Ausgangspunkt für Holger Borgs Artikel gebildet, die schließlich in Majestätsbeleidigung ausliefen. Der Artikel hatte im Auszug folgenden Inhalt: Über den Fürsten von Anti-Macchiavelli. Solange die Völker noch einen Herrn wünschen, soll dieser sich stets erinnern, daß er auf Wunsch des Volkes seinen Platz innehat; aber auch wenn er durch Gottes Gnade da zu sitzen glaubt, muß er bedenken, daß es eine Gnade Gottes ist, daß er da sitzt, und darf sich nicht dem Irrtum überlassen, daß er als Gottes Vorsehung regieren darf. Der Fürst soll zum Staatsmann erzogen werden, nicht zum Offizier, denn der Staat ist kein Heer, sondern der Staat ist ein Staat. Der Fürst ist auch der ~Summus Episcopus~ der Kirche, deshalb braucht er aber im Staatsrat nicht mit Mitra und Krummstab aufzutreten, was ebenso unschicklich ist, als wenn er fremde Botschafter in Admiralsuniform empfinge. Der Fürst soll sich von allen mitbürgerlichen und kleinbürgerlichen Interessen fernhalten, denn seine Person gehört dem Staat; er soll in seiner Person das Ansehen des Staates, das er repräsentiert, würdig aufrecht erhalten. Der Fürst soll keine Geschäfte treiben, nicht in Kunst, Wissenschaft und Literatur konkurrieren, denn seine ganze Zeit gehört dem Staat. Der Mann, der die Arbeit von acht Staatsministerien und zwei Repräsentantenkammern überwachen soll, darf zu etwas anderm keine Zeit haben. Hat er Zeit zu anderm, so füllt er seinen Posten nicht aus. Der Fürst muß gerecht sein wie die Allmacht, an die er glaubt; fest, aber nicht grausam; nachsichtig, aber nicht schlapp; untadelig, aber nicht scheinheilig; er soll den Mut haben, auf die Gunst des wankelmütigen Haufens zu verzichten und im Bewußtsein der Erfüllung höherer Pflichten allein zu stehen wagen, wenn es darauf ankommt. Auf seinem erhöhten Platz, befreit von der Berührung mit den Lappalien des Lebens, der Sorge um sein Auskommen enthoben, soll er in Schönheit leben und mit weisen und guten Männern verkehren, nicht mit Gecken und Spielern; dann kann er mit größerem Blick über die Dinge als andere Sterbliche das Reich überschauen; dann wird sein Rat ins Gewicht fallen und sein Wort Geltung haben. Der Fürst darf kein Standesbewußtsein besitzen. Er soll nicht das Oberhaupt des Adels, nicht des Hofes, nicht des Fürstenhauses sein, sondern soll sich als Vorsehung des Staates fühlen, als Schutz der Nation und als Vater des Landes. Der Fürst soll nicht auf Kleinigkeiten achten, über so etwas muß er erhaben sein; seine Gnade soll die Würdigen treffen, nicht die Unwürdigen; denn Gnade wird leicht Unrecht. Der Fürst soll die Schwachen schützen, nicht weil sie schwach sind, sondern wenn sie unterdrückt werden, sonst nicht. Allgemeine Worte, die auf besondere Fälle angewendet werden konnten, bildeten den Inhalt des Artikels. Das Urteil war aber gefällt worden und lautete auf drei Monate Gefängnis. Man fragte sich, wie das möglich sei. Es war in den letzten Jahren viel geschehen: durch die Schutzzölle hatte das Reich sich isoliert; durch die Annäherung der Regierung an das Deutsche Reich hatte sich in den oberen Schichten ein gewisser Junker- und Militärgeist der Gemüter bemächtigt; und jetzt nach dem außerordentlichen Reichstag, als die Armee in die Erziehung der Nation eingriff, wurde die Luft dick. Die Kriegsdrohungen und Rüstungen der Norweger erschreckten die Stillen im Lande; das Vorrücken der Sozialdemokratie bedrohte die Grundfesten der Gesellschaft; deshalb sammelte sich alle Hilflosigkeit, alles, was müde und faul war, unter dem höchsten Schirm, und in dieser hochbürgerlichen Majorität wurde Anklage und Urteil mit einstimmiger Befriedigung begrüßt. Holger Borgs Heim hatte mit dem wachsenden Einfluß der Zeitung den Charakter geändert und war eine Zuflucht für mancherlei Leute geworden. Die Frau des Hauses aber, die die Einladungslisten aufstellte, merkte bald, daß sich die Zahl der Absagen erhöhte, so daß man die Einladungen nach Klassen oder Klubs ergehen lassen mußte. So wurden besondere Gesellschaften für höhere Offiziere, ehemalige Staatsräte und Ausschußmitglieder veranstaltet; das war das Aufgebot erster Klasse. Viele kamen, weil sie nicht wegzubleiben wagten, und alle, die gezwungen worden waren, zeigten unverhohlen, daß sie nicht freiwillig gekommen seien. Sie beobachteten nicht die gewöhnliche Höflichkeit, sie unterhielten die Wirtin nicht, sie schwiegen und aßen, ließen aber wohl ein paar Gerichte unberührt vorbeigehen, weil sie schon vorher satt waren. All dies demütigte den strammen Ingenieur, aber seine Frau wollte es, und da er die Rechte der Frau vertrat, durfte sie bestimmen. Gerade so ein Diner fand statt, als man die Anklage erwartete. Die höheren Offiziere waren weggeblieben, und es war nur ein Hauptmann anwesend. Er war da, teils weil er Wechselschulden hatte, teils weil er kleine Notizen aus dem Generalstab in die Zeitung brachte, anscheinend unschuldige Notizen, die aber einen recht gediegenen Inhalt hatten. Heute saß er auf hohem Pferd, weil seine Vorgesetzten abwesend waren und er die Ungnade witterte. Er stocherte mit dem Dessertmesser in den Zähnen, schenkte sich selbst ein und steckte sich Zigaretten an. Die Frau des Hauses war nervös, und da sie die häßliche Gewohnheit angenommen hatte, ihren Mann zu korrigieren, tadelte sie alles, was er tat, mehr aus Gedankenlosigkeit und mangelnder Beherrschung als aus Bosheit. Der Mann, der einerseits durch die Frau, andererseits durch das ungehobelte Benehmen des Hauptmanns gereizt war, verstummte völlig, und sein Schweigen wirkte auf die Gesellschaft. Man beugte die Köpfe über die Teller und wagte sich nicht anzusehen. Die gemütliche Verzauberung, die bei einem festlichen Mahl zu herrschen pflegt, wo man aus den funkelnden Gläsern Vergessenheit getrunken zu haben scheint, wo man einige halbe Stunden miteinander verlebt in der vollständigen Illusion, befreundet zu sein und keinen Streit miteinander zu haben, war gebrochen. Alle waren erwacht und bewußt und saßen wie entkleidet einander gegenüber; sie hörten die verschwiegenen Gedanken des andern, sie sprachen mit den Mienen die Geheimnisse aller aus; alle Interessen und Passionen, die sie hier zusammengeführt hatten, schienen bloßgelegt zu sein, und sie schämten sich voreinander und vor sich selbst. Die Wirtin, die für diese Gelegenheit die Bohêmemanieren abgelegt hatte und steif und feierlich gewesen war, schlug jetzt um und nahm einen andern Ton an, da sie sah, daß das Feld aufgegeben war; in reiner Verzweiflung leerte sie ein volles Glas, um sich Mut zu machen, und dedizierte dann das Glas dem Hauptmann, der sofort die Situation erfaßte und beschloß, die Gesellschaft aufzuheitern. Eine Erinnerung daran, daß die Zeitung die »unanständige Literatur«, die er nie las, in Schutz und Schirm nahm und gewisse Gerüchte über die Feste dritter Klasse für die Künstlerbohême, auf denen es so lustig zugehen sollte, tauchten vom Grunde des letzten Glases auf; er vergaß die grauen Köpfe der weisen Männer und legte sich ins Zeug. »Nun, es soll auf Ihren Künstlerfesten ja so lustig hergehen,« sagte er, »ich habe saftige Sachen erzählen hören, und ich möchte gern nächstes Mal mit dabei sein.« »Was haben Sie denn gehört?« fragte die Frau unvorsichtigerweise; aber jetzt sollte es lustig werden, einerlei um welchen Preis. »Nun, also ...« Hier suchte der Herr des Hauses abzulenken, aber es war zu spät. »Ja, ich hörte, der Dichter Grönlund sei eine halbe Stunde zu spät zum Diner gekommen, und als er kam, sei er so betrunken gewesen, daß er den Fleischkloß vor sich aufs Tischtuch legte!« »Es war freilich kein Fleischkloß!« rief die Frau. »Nun, so war es ein Lungenragout ... und als man zu den Omeletten kam, hat er die gnädige Frau auf den Schoß genommen, mit dem Erfolg, daß er hinausgeworfen wurde. Stimmt das, Holger?« »Daß er hinausgeworfen wurde, ist wahr!« antwortete der Herr des Hauses, »und daß das jedem passieren kann, der sich schlecht benimmt, das steht fest.« Die letzte Spur von Verstellung war verschwunden; man saß da als das, was man war, als geborene Feinde, erzogene Feinde, und nun brach es los. Der Offizier zog blank: »Meinst du, ich, der ich dein Haus mit meiner Gegenwart beehre, würde aufs Hinauswerfen warten? ich würde beim ersten Wink diesen Staub von meinen Füßen schütteln und einer Gesellschaft den Rücken kehren, in die ich nie meinen Hintern hätte setzen dürfen ...« Die Frau lief weinend hinaus, ihr Mann folgte ihr. Die Gäste standen auf und gingen in den Korridor hinaus. Der letzte Kämpe, der Hauptmann, schenkte sich ein Glas Madeira ein, trank es ruhig aus, und deutete damit an, daß er nicht floh, sondern auf den Kampf gefaßt war. Aber als niemand kam, steckte er sich eine Zigarre an und ging in den leeren Korridor hinaus, wo das Dienstmädchen ihm in den Überrock half. Nachdem er sie unters Kinn gefaßt und gefragt hatte, wie sie heiße, rasselte er hinaus. Unterdes hatte die Frau sich rasend auf ihr Bett geworfen. »Ja, warum lädst du solche Vagabunden in Uniform ein?« tröstete der Mann. »Ach, das sind keine Vagabunden, aber du schreibst wie ein Vagabund in der Zeitung, und deshalb will kein ehrenhafter Mensch mehr zu uns kommen.« Das war die ganze Ansicht der Frau über seine Tätigkeit. Er hatte das schon lange gefühlt, aber die Frau hatte sich so oft als sein guter Genius feiern hören, daß sie der Rolle zuliebe gern seine Artikel inspiriert haben wollte, wenn sie mit Beifall begrüßt wurden. Das offene Eingeständnis, daß sie seine Anschauungen verachte, traf ihn gerade jetzt, wo er Anerkennung brauchte, wie ein Schlag ins Gesicht, aber er konnte nicht böse auf sie werden, obwohl sie ihn in diese Kreise hineingebracht hatte, in die er nicht gehörte. Er ging in das Eßzimmer, das er mit der geplünderten Tafel leer fand; die Diener standen wartend da, und er schämte sich vor ihnen. Die Gäste waren ohne Abschied gegangen. Das Heim war beschmutzt, und er selbst beschimpft, gedemütigt. Aber in diesem Augenblick beschloß er, das Haus zu reinigen und nicht mehr der Eitelkeit seiner Frau zu erliegen. Es würde ihn sein zerbrechliches Glück kosten, das nur eingebildet war, aber es mußte geschehen. Er zog sich an, um in die Redaktion zu gehen. Da bekam er die Nachricht, daß die Klage erhoben sei, und das klärte plötzlich seine Stellung. Es war die Kriegserklärung, und in den Abendzeitungen wurde bereits der Aufmarsch vollzogen. Kein Kompromiß mehr, keine Illusionen hinsichtlich der Versöhnung zwischen den Klassen; die oberen hatten das Obergewicht, und nachdem sie vom außerordentlichen Reichstag die Armee bekommen hatten, eröffneten sie den Kampf. * * * * * Am Tage bevor er ins Gefängnis mußte, hatte er eine Szene mit seiner Frau, die sie entzweite. Sie verlangte, er solle um ihretwillen ein Gnadengesuch einreichen. Als er sich weigerte, erklärte sie, er sei kein Mann, denn ein Mann müsse sich für seine Frau opfern. Er war so verstrickt in seine Theorien, daß er keine Erwiderung fand; aber in diesem Gefühl der Wehrlosigkeit wurde jetzt zum erstenmal der Widerstand geboren, der die Befreiung werden sollte. Warum konnte er nicht antworten? Weil ihr Verlangen so dumm war, daß es keine passende Antwort darauf gab. Er ging am Abend aus, entschlossen, nicht zurückzukommen. Um halb elf hatten seine Freunde ein Abschiedsfest für ihn in den Gotischen Zimmern veranstaltet. Vorher ging er mit seinem Onkel Doktor Borg in die Oper. Sie saßen im Parkett und warteten auf die Ouvertüre. Das Publikum war festlich gekleidet, aber die königliche Loge war leer, so daß ihm die Situation nicht klar wurde. Das Orchester versammelte sich und begann zu stimmen. Der Kapellmeister stand auf; klopfte ... aber im selben Augenblick wendete er sich mit einer Verbeugung zu der königlichen Loge; und jetzt wurde gespielt »Aus dem schwedischen Herzen«. Das Publikum stand auf; alle erhoben sich, außer Holger und dem Doktor. »Verbeugt man sich vor Geßlers Hut?« fragte er den Onkel. »Es muß Namenstag oder Geburtstag sein ...« »Ja, aber vor der leeren Loge? Das ist doch Unsinn!« Plötzlich hörten sie eine befehlende Stimme: »Aufstehen!« Holger drehte sich um, doch da wurde er am Kragen gepackt und von seinem Platz hochgezogen. Da er nie andere Waffen gebraucht hatte als Wort und Feder, ging er, und der Doktor folgte. »Was bedeutet dies?« fragte er, als sie auf der Straße waren. »Das ist der schwedische Lakai! Seinen Monarchen grüßen, gewiß, aber Stühle und Tische grüßen! Jetzt weißt du, was die Neue Oper bedeutet!« »Ich hatte also recht, dreinzuschlagen! Wir haben jetzt wohl ein schönes Dezennium vor uns!« »Ich will dir etwas erzählen, was ich heute gehört habe, aber du mußt mir das Versprechen geben, darüber zu schweigen. Ein Landarzt, ein Freund, der nie lügt, hat mir erzählt, er sei von der Militärbehörde gefragt worden, ob er im Falle eines Krieges gegen Norwegen als Chirurg mitgehen wolle!« »Das habe ich schon von anderer Seite gehört, aber es wird von oben offiziell in Abrede gestellt.« »Die lügen natürlich.« »Das glaube ich nicht, aber es könnte ja sein, daß sie sich orientieren wollen.« »Die da oben lügen nicht? Dann kennst du die Diplomaten nicht. Es ist ja übrigens die alte Staatskunst, aufrichtig zu erscheinen, aber falsch zu sein. Der ehrliche Makler hatte doch die Emser Depesche redigiert. Ja, Norwegen, das Schweden zwanzig Jahre Denkarbeit gekostet, das uns zerrissen und unsere Gedanken von unseren eigenen Interessen abgelenkt hat. Verdient das kleine Land soviel Aufmerksamkeit? Ein Volk von Fischern, Schiffern und Hirten, das für den Tag lebt und verschuldet ist wie wir. Ein Touristenland mit Hotelwirten; berühmter wegen seiner Fernsichten, als wegen seines Ackerbodens; exportiert gedörrte Fische und gefrorenes Wasser. Was haben wir mit ihnen zu schaffen? Hochmütiges Gesindel, die ein Weiberregiment wollen! Pfui Teufel!« »Du Weiberhasser!« »Dummkopf! Ich bin gerade im Begriff, mich zum drittenmal zu verheiraten.« »Es gibt keine Frauenfrage für mich! Ich sehe nur Menschen.« »Wenn du den Unterschied zwischen Mann und Frau nicht sehen kannst, bist du pervers wie all die andern. Aber da du morgen ins Gefängnis mußt, so wollen wir von etwas anderm sprechen! -- Hast du gehört, daß die gelbe Brigade degradiert worden ist?« »Ja, man sagt es, aber sie sollen auch die Kirche verspielt haben.« »Das Monument der Niederlage bei Lützen. Die Leute sind köstlich bei uns zu Lande, sie feiern ihre Niederlagen; sie werden nächstens auch noch Pultawa feiern.« »Übrigens die Gelben, da sollen auch falsche Ahnen sein, denn die gelbe Brigade bei Lützen wurde von Deutschen gebildet und stand im Zentrum; im übrigen bestand eine Brigade aus mehreren Regimentern, und _diese_ gelbe Brigade stammt erst aus der Freiheitszeit.« »Ja gewiß, aber kommen diese Kassenverwalter ins Gefängnis?« »Nein, sie werden befördert; wer jedoch darüber zu sprechen wagt, kommt sicher ins Gefängnis! Ich hatte diese Geschichte in meinen Artikel einflechten wollen, besann mich aber; jetzt bereue ich es.« Sie gingen an dem Kleinen Theater vorbei, das zur Galavorstellung hell erleuchtet war. »Das Repertoire des Volkstheaters und die Prätentionen eines Nationaltheaters, Königliches Theater, begründet von dem Majestätsbeleidiger Anders Lindeberg; beginnt und endet mit einer Majestätsbeleidigung! Welch ein Paradoxon!« »Ein Nationaltheater, das von einer Bordellwirtin vom Strandweg geleitet wird und sich rekrutiert aus ... nun ja; aber die Großen werden ausgeschlossen; Antigone und Julia sind geflüchtet, Hamlet und Horatio gehen müßig auf dem Markt spazieren und warten auf das Ende. Der Geschmack ist auf den Höhen nicht auf der Höhe. ›Lustig und schmutzig!‹ das ist ihr Ideal. Vor dem Ernst haben sie Angst.« »Es ist köstlich mit den alten Idealisten; die Zeitung ›Allerlei‹ proklamiert Paul de Kock als unschuldig, und die Postzeitung beschützt den ›liederlichen und gottlosen‹ Anatole France! Was bedeutet das?« »Das ist Barrabas! Jeder Beliebige wird freigegeben, selbst Barrabas, nur nicht der große Zola! Sie haben ein Grauen vor allem Großen und Starken, weil sie klein und schwach sind. -- Weißt du, vorhin in der Oper, als sich die Hand von hinten schwer auf mich legte, da fragte ich mich, was der Unbekannte eigentlich wolle. -- Ein armer Tropf ohne Selbst, der keine Gewalt über mich hat, erweitert seine unbedeutende Person, indem er sich zu einem Teil des Hofes macht. Er will, ich soll seinen Gott anbeten, weil es sein Gott ist, dann fühlt er sich einen Augenblick mir überlegen. Es ist eine Art Kolonietier, Korallen, die in Klumpen leben und wachsen. Sie haben keine Gedanken, sondern nur Erinnerungen an das, was sie in Zeitungen, Büchern gelesen, was sie haben erzählen hören; wenn sie lesen, assimilieren sie alles ungereinigt, Korn und Steine, Blutklöße und Dreckklumpen; und wenn sie reden, öffnen sie den Sphinkter und lassen alles zum Munde hinaus, der ihr Anus ist. Das ist die Majorität, das treue Volk, der gesunde Verstand, der nur Unverstand ist; das sind die Rechtdenkenden, die Stillen im Lande, der Kern der Bevölkerung. Und sie alle sind herrschgierig, können aber nur durch den Herrscher herrschen, der ihr Werkzeug wird, während er durch sie herrscht. -- Weißt du, ich werde Anarchist gegen meinen Willen!« »Wer wird das nicht! -- Nachdem Leben und Entwicklung das Tempo gesteigert haben, so daß man jetzt in zehn Jahren eine weltgeschichtliche Epoche durchläuft, wird es für die Wachsenden immer qualvoller, von einer veralteten Regierungsform niedergedrückt zu werden, die von ihrer Zeit nichts versteht. Die Sitten verändern sich, aber die alten Sittengesetze bleiben; die Rechtsbegriffe erneuern sich, aber das Gesetzbuch steht noch bei 1734 und 1866. Wenn wir nach Metern und Kronen rechnen, messen die Alten mit Ellen und Talern. Diese Mißverhältnisse im Gesellschaftsbau machen das Leben zu einer Hölle oder einem Irrenhaus. Weißt du was: ein Land, das seine Revolution nicht gehabt hat, kann nicht wachsen. Sieh, im Adelsalmanach wirst du finden, ob wir ein Stockholmer, ein Linköpinger Blutbad und eine Reduktion Karls XI. nötig haben. Bist du in Lund gewesen und hast den Park von Lund gesehen? Da kann nicht ein junger Baum wachsen, denn die alten stehen im Wege und schatten; hohl und morsch sind sie, und Eulen nisten in ihnen. Fällen darf man sie aber nicht! Warum zum Teufel darf man es nicht? ... An dem Tage, da sie von selber stürzen, ist der ganze Park eine Sandwüste, und man muß Menschenalter warten, bis Neuwuchs da ist. Nein, man muß lichten und verjüngen!« »Möchtest du am Schafott stehen?« »Ich? Wie gern! Ich bin an die Leiden Unschuldiger bei Operationen gewohnt; und ich würde neben ihnen stehen und ihnen im letzten Augenblick ein gutes Wort geben, nachdem ich sie chloroformiert hätte. Ich bin ein Wilder, obwohl ich in Schweden heimatberechtigt bin; und ich glaube, daß den Wilden die Zukunft gehört. Du weißt ja, daß alle gebildeten Nationen sterben, an Bildung, an Verweichlichung, an Tierschutz und ethnographischen Museen. Wer sich umdreht, um seinen Dreck anzusehen, wird des Todes sterben. Und das tut die Nation jetzt, wenn sie zurückblickt, auf Lützen und Narwa, auf Gustav III. und die Schwedische Akademie, auf Wanzenhäuser und Glockentürme, auf Kummethölzer und Trinkschalen, sie drehen sich nur um, deuten auf den Dreckhaufen und sagen: Seht, das haben wir gemacht! -- Ja, und wenn sie nicht bald fertig sind, dann kommt für uns nie die Gelegenheit, _unsere_ Notdurft zu verrichten!« »Stehst du noch auf deinem früheren Standpunkt, daß alles Unsinn ist?« »Ja, wenn ich müde bin, dann finde ich, daß alles Unsinn ist; aber wenn ich ausgeschlafen habe, dann bin ich bereit, wieder dem großen Unbekannten entgegenzutanzen.« * * * * * Sie wanderten straßauf, straßab. »Siehst du,« fing der Doktor wieder an; »der Zustand jetzt ist umso unleidlicher für mich und meine Altersgenossen, als wir in den sechziger Jahren in der Vorstellung erzogen wurden, die Monarchie sei etwas Ungesetzliches, Usurpiertes; der Fürst sei der natürliche Feind des Volkes, und der Mann, der Brutus sein wolle, verdiene großen Triumph. Wir hörten ja Freiheitssänger wie Talis Qualis und Snoilsky die Republik als das höchste Gut besingen. So kam es, daß wir Republikaner auf das neue Jerusalem warteten, und 1866 glaubten wir es gekommen. Aber es kam nicht. Jetzt mit deiner Verurteilung sind wir in die vierziger Jahre hinuntergestürzt. Ich finde, es riecht heute nach Karl Johann, nach Crusenstolpe und Anders Lindeberg, am meisten aber nach Karl Johann. Der ist für mich der Inbegriff alles Modrigen: Rekrutierungsgewalt und Stadthaus, Festung Vaxholm und Feldlager; mit einem Wort: was vor mir war, war tot, war Erdboden, in dem wir schon wuchsen; der wird jetzt aufgegraben und stinkt. Nun, aber hast du Angst vor dem Gefängnis?« »Nein! Im Gegenteil! Es wird für mich eine Rekreation sein, und ich will meine Erziehung von vorn anfangen.« »Ja, damit ist nicht zu spaßen; ich habe als Militärarzt sechs Tage gesessen, und es drohte im Gehirn eine Überproduktion zu entstehen.« »Was hattest du denn getan?« »Ich hatte mich gegen die ungesetzliche Behandlung der Wehrpflichtigen aufgelehnt. Die Ärzte benutzten die Mannschaften zu idiotischen Experimenten, zum Beispiel maßen sie den Inhalt des Magensacks, den jedes Lehrbuch auf drei Liter angibt. Sie mußten den Schlauch hinunterschlucken, und wenn sie es nicht konnten oder wollten, wurden sie wegen Insubordination bestraft. Was sagst du dazu? Nun, ich verteidigte sie, weil ihnen Unrecht geschah, und bekam sechs Tage Gefängnis. Das ist Schweden, das Land, das in meiner Jugend durch Gesetz aufgebaut werden sollte! -- Diese neue Armee bedeutet den kleinen Belagerungszustand! Eine konstitutionelle Monarchie mit einer prätorianischen Garde, die den höchsten Willen bestimmt. Willkür, Parteilichkeit, Gesetzlosigkeit, da hast du es ...« Sie gingen noch eine halbe Stunde, schweigend, und warteten auf den Glockenschlag, mit dem das Abschiedsfest beginnen sollte. Da tauchte plötzlich ein Koloß hinter ihnen auf, und sie hörten Pastor Alroth mit milder, teilnehmender Stimme sagen: »Was geht ihr hier so betrübt umher?« Der Pastor war nämlich in die Stadt gekommen, um seinen Neffen Holger zu begrüßen und ihm seine Teilnahme auszudrücken. Er war freilich ein loyaler Untertan, konnte aber gleich den Geistlichen im allgemeinen nicht leiden, daß das Oberhaupt der lutherischen Kirche ein Admiral war. Diese Sachlage, daß der Landesvater der ~Summus episcopus~ der Kirche war, hatte die Reformation mit sich gebracht; und ein weltlicher Papst über dem Erzbischof erinnerte etwas an die Hierarchie des Garderegiments, wo der Oberst doch stets nur der zweite Chef ist. Daß Holger auf diese alte Unsitte hinwies, hatte dem Pastor gefallen, und er war deshalb eitel Freundlichkeit, als sie in die Gotischen Zimmer hinaufzogen. Die alte Garde war da; Konsul Levi, der Architekt Kurt, der sonst seine eigenen Wege ging und nicht von sich reden machte; Sellén, der unsichtbar und viel auf Reisen war. Die Stimmung war gedrückt. Der Ernst war schließlich gekommen, und die Flegeljahre waren vorbei. Jetzt mußte man seine Lehren durch Leiden besiegeln und ohne Klagen die Folgen auf sich nehmen. »Wo ist Professor Lundell?« fragte der Doktor, der einen Sündenbock haben wollte. »Er kommt nicht,« antwortete Sellén. »Er ist Ritter hoher Orden und liebt keine Majestätsbeleidigungen!« »Da habt ihr den Orden! Das Zeichen, das beweist, daß man seinen äußeren Menschen abgelegt, seine Haut verkauft hat! Er ist nicht so unschuldig, wie man sagt!« rief der Doktor. Der Pastor nahm Holger beiseite in eine Fensternische. »Ich soll von deinem Vater grüßen!« »Was macht er? Wie lebt er?« »Er sitzt wieder zu Hause bei den Kindern, ist aber nicht mehr der Alte. Der unverdiente schlechte Ruf, in den er gekommen ist, und der entsetzliche Verdacht, der beim Tode deiner Mutter entstand, scheinen so in ihn eingedrungen zu sein, daß er sich einbildet, schuldig zu sein.« »Ein nicht unerwarteter Fall,« antwortete Holger. »Damals als ich die Beschimpfungen meiner Person in den Zeitungen las, begann ich schließlich allmählich zu glauben, ich sei wirklich der Schuft, den man schilderte. Nun, wie geht es Bruder Anders auf Langvik?« »Weißt du das nicht? Er will nach Amerika, sobald die Pacht abgelaufen ist.« »Nach Amerika? Nach Neuschweden? Nun, dort werden wir uns wohl alle einmal treffen.« Die Bowle war aufgetragen, und der Doktor rief: »Ja, liebe Freunde,« begann er, »in diesem Raum feierten wir Ende der achtziger Jahre die französische Revolution. Bruder Alroth war freilich damals nicht dabei, denn er ist nicht Revolutionär, und daß er heute hier ist, hat seine intimen Gründe, die wir respektieren wollen. Die Türen zum Musiksaal sind auch seinetwegen geschlossen, aber er gestattet wohl, daß wir sie einen Augenblick aufmachen, da ich zu Ehren des Tages die Marseillaise spielen lasse.« Der Pastor nickte zustimmend, wenn auch nicht ohne eine gewisse Furcht. »Was wir Holger heute abend sagen möchten,« fuhr der Doktor fort, »weiß er im voraus; wir rühmen weder seine Tat, noch beklagen wir sein Schicksal, denn der Krieger tut seine Pflicht, ohne Lohn oder Lob zu verlangen.« »Nur keine Politik!« flüsterte Holger mit einem Blick auf den Pastor, mit dessen Gefühlen er trotz allem Mitleid hatte. »Nein, keine Politik, nur etwas Musik, um uns aufzumuntern!« Er gab dem Kellner einen Wink, die Türen im Hintergrunde, die zum Saal führten, zu öffnen, und trat auf den Balkon, wo er mit der Serviette nach dem Musikpodium winkte. Es entstand eine Pause. Und dann spielte das Orchester: »Aus dem schwedischen Herzen.« Scharren von Tischen und Stühlen war von unten zu hören, wo das Publikum aufstand und in das Lied einstimmte. »Auch eine Antwort, Kinder,« resignierte der Doktor. Der Pastor verstand die Situation nicht, sondern glaubte, das ganze sei ein Scherz gewesen, so daß er von dem Gegenhieb unberührt blieb, der die andern verstimmte. Und er begann über alle möglichen Dinge zu sprechen, über gleichgültige Kleinigkeiten, denen die andern zuhörten, während sie ihre unausgesprochenen Gedanken dachten. Das Souper ging schnell vorbei, und man brach bald auf, denn man fühlte das vielköpfige Wesen unten im Saal als etwas Drohendes, Erstickendes. Doktor und Neffe gingen allein in ein Hotel, denn Holger wollte sein Heim nicht mehr sehen, bis er aus dem Gefängnis kam. »Heute Minorität, morgen Majorität!« sagte der Doktor. »Im übrigen lehrt die Erfahrung, daß einer, der im Wald wandert und sich verirrt zu haben glaubt, oft plötzlich am Ziel ist. Die französische Revolution konnte nur nach der Regierung eines Ludwig XV. kommen. Je schlimmer, desto besser! Übrigens ist dies hier nur eine Essenspause; man schnallt den Riemen weiter, und der Appetit ist wieder da ... Das Segel schlägt um, wenn man wendet, und du sollst sehen, daß wir bald über Stag sind. Es kommt mir vor, als ginge man umher und nähme Abschied von allem Alten, von dem man sich bald trennen muß; dann wird einem alles so teuer, auch das, was man weniger geschätzt hat. Das neue Jahrhundert kommt mit einem neuen Geschlecht und neuen Gedanken, und dann ist dies alles von selbst verwelkt. Kriech jetzt hinein, Holger, und verpuppe dich. Komm wieder heraus mit Flügeln, dann fliegen wir! -- Und jetzt! Laß dich umarmen und gute Nacht!« Sie trennten sich, ohne Schmerz, ohne große Worte, aber mit einem Ernst, den sie früher nicht gekannt hatten. Fünfzehntes Kapitel Im Opernkeller Ein paar Jahre waren wieder vergangen. Doktor Borg und Redakteur Holger saßen eines Nachmittags im neuen Opernkeller. Holger Borg war nicht mehr der Alte; die drei Monate im Gefängnis hatten einen merkwürdigen Einfluß auf ihn ausgeübt. Etwas war geschehen, worüber er nicht sprechen wollte; und sein Gesicht war erstarrt, so daß er nicht lächeln konnte; innerlich war etwas erfroren, und ein Nerv schien zerrissen zu sein. Aber er hielt an seinem Vorwärtsstreben fest; doch war ein Unterschied in seiner Behandlung der Religiösen zu bemerken. Er höhnte nicht mehr, lästerte auch nicht mehr, sein freudiger Glaube an den Weltmechanismus ohne Mechaniker war verflogen, und er konnte das Schicksal der Menschen nicht mehr mit der Zoologie erklären. Im selben Jahre begann es in der Welt zu spuken. Zeichen und Wunder geschahen, geheimnisvolle Todesfälle, Ferngesichte, Prophezeiungen. Und Frontveränderungen traten ein; die Gläubigen wurden ungläubig, und die Männer der Aufklärung wurden gläubig. Die Wissenschaften selbst machten Fiasko; Kochs Millionenlymphe versagte; keine Erfindungen, keine Fortschritte, nur Kleinarbeit; aber da hörte man aus Amerika, daß man aus Silber und Kupfer Gold mache und unter dem Schutz der großen Namen Edison und Tesla eine Gesellschaft gegründet habe. Damit war ja die Chemie bankrott und die Alchimie kam auf. In Paris sollten Hexenprozesse bevorstehen; man hörte von Bekehrungen zum Katholizismus; die schönen Künste hatten den Naturalismus aufgegeben und gingen wie die Literatur zum Mystizismus über. Es war ein Wallen, eine Bewegung in der Welt, die Neues verkündete. Die Freunde saßen gerade und diskutierten die Zukunftsaussichten, als Holger zufällig seinen Blick auf die berühmten Deckengemälde richtete: »Etwas Unsittliches kann ich nicht darin sehen; solche Bilder haben sie in Mengen im Museum und im Stockholmer Schloß auch.« »Ja, aber das Kostbare an der Sache ist, daß der große Faustübersetzer, der im Jahre 84 Sittlichkeitsfreund und Antinaturalist war, jetzt zur Verteidigung der Nacktheit aufgetreten ist, mit einer Energie, die man an rechter Stelle vergebens von ihm erwartet hatte.« »Er ist jetzt tot und wird morgen begraben. Das wird interessant werden.« Da kam die Abendzeitung. Holger mußte einen Blick hineinwerfen. Der Doktor hörte ein Schnaufen und Knistern und merkte, daß Holger schmal um die Nase wurde. »Hast du etwas verloren?« fragte er. Die Zeitung raschelte in der Hand des Lesenden, und er ließ sie auf den Tisch fallen. »Was ist passiert?« »Lies!« Der Doktor las, las und blähte sich, las und strahlte. Er las, die Oberpriesterin der schwedischen Frauenemanzipation habe den ganzen Kitt hingeworfen, da sie entdeckt habe, daß es Torheit sei. Und sie forderte ihr Geschlecht und die Mütter auf, an der Entwicklung des Weibes zur Frau, zur Mutter und Gattin zu arbeiten. »Endlich!« rief der Doktor aus. »Pfannkuchen war es und blieb es, weil es von einer falschen Voraussetzung ausging. Wenn man sich vorstellt, wieviel Arbeit, wieviel Haß, wieviel Sch... aufgerührt ist. Sie wollten Falk ja ermorden, weil er die Finessen der Verrücktheit nicht begreifen konnte. Wenn ich gläubig wäre, würde ich den Göttern eine Hekatombe opfern.« Holger konnte nicht teilnehmen, denn ihm war, als habe er seine Religion, den Glauben an die Frau, verloren! Und einen Irrtum einzugestehen, hatte er nicht die Kraft. Er wurde böse, wie es üblich ist, und nachdem er sich erholt hatte, sträubte er die Haare. »Weil sie erlahmt ist ...« »So? Sprechen wir von etwas anderm! Wie geht es Esther und Max?« »Sie sind sicher gute Freunde, aber die Heirat ist aufgeschoben, weil die Pfarrer sie nicht aufbieten wollten.« »Und warum soll aufgeboten werden, daß zwei Menschen lieben wollen! Das Geheimste, das zu verbergen einem ein natürliches Gefühl gebietet, soll zur Schau gestellt werden! Ich finde das zynisch! Aber man hat Angst vor Doppelehen! Das hat man, doch diese bekannten Bigamien und Polygamien innerhalb der bekannten Ehe sind straflos und sind Sitte geworden. Die Frau nimmt jetzt nur einen Mann, um einen Deckmantel und einen gesetzlichen Schutz zu haben -- da mag der Teufel Lockvogel für liederliche Weiber sein. Als ihr die Frau von der Weiblichkeit und der Keuschheit losmachtet, wurde sie eine Kokotte. Ihr habt das Geschlecht und die Ehe vernichtet; diese männlichen Frauen haben die Instinkte des Mannes so verdorben, daß er pervers geworden ist. So endete Griechenland! Mit Aspasien, Freundinnen und Sodomiten. Ich glaube, wir sind dem Ende nahe! Ich habe, wie du weißt, mehrmals eine Gattin gesucht, eine Hausfrau und Mutter, habe aber nur eine Kokotte gefunden. Brunst und Haß, das habe ich gefunden. Für meine Liebe -- verzeih den Ausdruck -- suchte ich Gegenliebe, fand aber nur Haß; Haß gegen den Mann, Haß, der die sogenannte Liebe der Frau auszumachen scheint. Einen Mann erniedrigen zu können, ist ihr Ideal. Du kennst das! -- Du gibst ihr deine Manneskraft, und mit dieser Kraft, deiner Kraft, beherrscht sie dich. Sie wirkt wie der Induktionsapparat; sie vervielfacht deine Stromstärke und stellt den Strom um gegen dich. Aber das hast du nie verstanden! Sieh dein Juwel an, wie sie zusammenfällt, so oft du den Strom unterbrichst! Vor dir selbst beugst du dich, wenn du dich vor ihr beugst! Sieh dir an, wie die ›großen Frauen‹, die du bewunderst, entstehen. Zunächst suchen sie starke Männer auf, berühmte, suggestive; wenn sie Kraft aus ihren Akkumulatoren geholt haben, beginnen sie selber Batterie zu spielen und Ströme auszusenden, die aber nur sekundär sind. Wenn alles fertig ist, dann kommen sie und nehmen; wenn das Schlachtfeld mit Toten und Verwundeten besät ist, dann kommen die Knochenleserinnen; und immer findet sich eine Schar von schwachen Männern, die den Lumpensammlerinnen wie Königinnen huldigen; du kennst diese Art Männer, die Männern Fußtritte versetzen ...« »Ja, aber du bist Weiberhasser!« »Wenn ich es mir recht überlege, muß ich vielleicht ja sagen. Ich hasse alles Feindliche, und da ich sie hasse, ist sie der Feind. Und ist sie der Feind, so haßt sie den Mann. Die Geschlechter hassen einander, das ist wohl die Wahrheit, und dieser Haß ist vielleicht die Repulsion zwischen Entgegengesetztem, die in der Liebe zu Attraktion umpolarisiert wird. Du kannst also ebensogut alle Frauen Männerhasserinnen nennen, wie du mich Weiberhasser nennst. Intermittierende Ströme! Das ist die Liebe! -- Aber die Frau hat immer eine gesunde Anziehungskraft auf mich ausgeübt, deshalb kann ich mit gutem Gewissen einen speziellen Frauenhaß nicht zugeben, mit dem ich allein dastände! Im Gegenteil, ich habe stets die Öde des Lebens empfunden, wenn die Wärme des Mutterschoßes fern war; aber seit ihr die Frauen zugrunde gerichtet habt, ist es nicht zu ertragen. Ihr sagt, ich hätte sie nicht festhalten können; ich antworte, ich wollte kein verfaultes Fleisch im Hause haben. Aber da kommt ja Kurt! Kennst du denn seine Ehe? Die war lecker, kann ich dir sagen!« Der Architekt kam herein mit einem bebrillten Manne von unbestimmtem Aussehen. Der Bruder nickte und ging mit seinem Begleiter in eine Ecke des Saales. »Ja, wie ist es mit seiner Ehe?« fragte Holger. »Es war alles so heimlich; ist es aus?« »Aus? Ich hoffe es! Hör zu, wie es ihm ging. Er wurde in eine kinderlose Familie hineingezogen, und zwar in dem Augenblick, als die Ehegatten sich gegenseitig langweilig geworden waren. Er befreundete sich mit beiden; sie drängten sich ihm auf und schleiften ihn mit, um sich die Langeweile zu vertreiben. Die Folge war, daß er und sie sich ineinander verliebten; der Mann kuppelte, ohne es zu wissen, und eines schönen Tages unterrichteten sie, um loyal zu sein, den Mann von ihrer Neigung, worauf die Frau nach Paris reiste, um geschieden zu werden. Kurt wartete, und nach geraumer Zeit sollte sie nach Hause kommen. Da er ungeduldig war, fuhr er ihr bis Södertelje entgegen. Der Zug hielt; Kurt ging durch die Wagen, um die nichtsahnende Braut zu suchen. Schließlich kam er an ein Rauchkupee. Da lag seine Geliebte, den Kopf auf dem Schoß eines fremden Herrn, und rauchte eine Zigarette. Kurt geriet nicht aus der Fassung; er lüftete den Hut, bat um Entschuldigung und tat, als erkenne er sie nicht. Aber als er ins Nebenkupee ging, kam die Dame ihm nach und fiel ihm um den Hals; sie weinte und schwur, es sei nichts dabei; ein Freund, der ihr für die Reise seinen Schutz angeboten habe. Da Kurt selbst ehrenhaft und treu war, glaubte er, sie sei es auch. Deshalb hält die Frau den Mann für dumm! Jetzt weißt du es! Also gut, der Freund wurde vorgestellt und war diskret genug, am ersten Abend zu verschwinden. Am nächsten Abend aber soupierten sie mit Verwandten zusammen, und der Freund war dabei. Da wurden vertrauliche Worte und Blicke zwischen Freund und Braut gewechselt, so intime, daß Kurt schließlich die Fassung verlor, eine Szene machte und seinen Teller auf den Boden warf. Ganz plötzlich fand er sich in der Rolle des lächerlichen Ehemanns, heiratete aber schnell, auf jeden Fall. Nun saßen sie da und langweilten sich, ganz wie früher sie und ihr Gatte. Wie köstlich! Sie konnte nämlich nur in Saus und Braus leben. Er mußte mit ihr ausgehen. Dann lebte sie auf, wenn sie im Restaurant die Blicke der Herren auf sich zog, und es war ihr ein Genuß, den Mann leiden zu sehen. Ihr ganzes Dasein hing davon ab, daß der Mann gequält wurde. Und er mußte den glücklich Verheirateten spielen, wie alle, die mit geschiedenen Frauen verheiratet sind. Er sollte ja ein lebender Beweis sein, daß der erste Mann ›sie nicht hatte glücklich machen können‹. Und um den ersten zu zerschmettern, wollten sie jetzt Kinder haben. Kurt hält sich nämlich für einen furchtbaren Matador in dieser Beziehung. Aber siehe da, sie bekamen kein Kind. Also: er auch nicht! Jetzt begann die Hölle für ihn in ihren ständigen Vorwürfen. ›Es gibt keine Männer mehr,‹ sagte sie. Daß es ihre Schuld sei, kam nicht in Frage. Was tat Kurt? Ja, was sollte er machen? Er schaffte sich ein Verhältnis an und ein Kind. Er mußte doch seine männliche Ehre retten. Die Frau verließ ihn. Aber Kurt hatte doch die ganze Schande. ›Er hat die Frau eines andern verführt, und dann hat er sie sitzen lassen.‹ Aber er hatte sie nicht verführt. Das war egal! ›Er hatte die Frau eines andern verführt!‹ Daß die Frau ihn sitzen ließ, darum kümmerte sich niemand. Gut, jetzt ist er frei, aber kannst du glauben: seine Gedanken beschäftigen sich noch heutigentags mit dem Freund im Kupee. Er hat wohl sämtliche Bekannte gefragt, ob sie glaubten, daß es etwas gewesen sei. -- Ja es ist heutzutage verwickelt!« Jetzt betraten den Saal ein großer fetter Herr, eine Dame und drei Kinder. Die Dame sah sehr gut genährt aus und hatte einen zu kleinen Kopf auf den Schultern. Der Doktor blickte einen Augenblick auf die Gesellschaft, zuckte zusammen, wendete sich zum Fenster und hielt die Hand vor die Augen, mit einem Ausdruck zwischen Lachen und Weinen. Als die Gesellschaft ein Stück entfernt war, sagte er mit komischer Salbung: »Da geht meine erste Frau mit ihrem zweiten Mann (oder dritten, wer weiß). Diese Närrin, die als Neuvermählte sagte, sie lebe wie eine Nonne, und als das Kind kam, tat sie, als begreife sie nicht, wo es her kam. Dieser Kaltwasserfisch zwang mich durch sein idiotisches Geschwätz, mich scheiden zu lassen und mich wieder zu verheiraten. Sieh dir ihren Mund an, Holger, und hüte dich vor Kindermündern. -- Und das war meine erste Liebe! -- Ich glaube bisweilen, es war nicht Dummheit, sondern Bosheit. Sie war eifersüchtig auf mich, weil ich sie gekriegt hatte. Die Ehre war zu groß, deshalb mußte ich ihrer beraubt werden! Sie war das größte Vieh, das ich gekannt habe, und deshalb machten alle meine Gegner sie zu dem höchsten Wesen; sie sagten, ich hätte alles von ihr bekommen, sogar mein medizinisches Wissen. Alles, was der kleine Mund sprach, war so boshaft, daß ich ihr einmal einen Nagel durch die Zunge schlagen wollte. Ich hoffe, ihr Dickus dahinten wird es ihr besorgt haben. -- Ja, Holger, so ist das Leben, und ich habe es nicht gemacht.« Sechzehntes Kapitel Bei den Toten Esther Borg ging an der Kirche vorbei und sah, daß sie offen war. Es war schön drinnen, und der Altar war mit Grün bekleidet. Draußen waren Tannenzweige gestreut und also ein Begräbnis zu erwarten. Es kamen Leute, und unter ihnen sah sie Graf Max, mit dem sie seit sechs Monaten nicht zusammengewesen war. Sie sah ihn, aber es war nicht er selbst, sondern einer, der ihm ähnelte. Dies nannte sie »sehen«, und nun wußte sie, daß er bald kommen werde. Sie ging hinein, um zu warten. Sie und der Graf waren damals auseinandergegangen, entschlossen, sich zu trennen; aber sie hatten so unter dem Bruch gelitten, daß sie wiederanknüpften. Dann hatten sie am Zusammensein gelitten und hatten wieder gebrochen, und dabei waren sie dies Jahr geblieben. Esther ging auf die rechte Empore hinauf, warum wußte sie nicht, aber sie fühlte, daß dies der Platz sei, wo er sich wohl fühlen werde. Es sah so aus; er war nahe der Decke, hoch über der Menge, und man fühlte sich geborgen. Nach einer Weile kam der Graf wirklich und ging ruhig auf Esther zu, als habe er sie zu einem Stelldichein bestellt. »Hast du lange gewartet?« fragte er mit seiner gedämpften Stimme. »Sechs Monate, wie du weißt,« antwortete Esther, »aber hast du mich heute gesehen?« »Ja, vorhin in einer Straßenbahn; und ich sah dir in die Augen, so daß ich mit dir zu sprechen meinte.« »Es ist seit damals viel geschehen.« »Ja, und ich dachte, es sei aus zwischen uns.« »Wieso?« »Alle Kleinigkeiten, die ich von dir bekommen habe, sind zerbrochen und auf eine okkulte Art. Aber das ist eine alte Beobachtung.« »Was du sagst! Jetzt besinne ich mich auf eine ganze Menge solcher Ereignisse, aber ich habe das für Zufälle gehalten. Ich bekam einmal einen Kneifer von meiner Großmutter, als wir gute Freunde waren. Er war aus geschliffenem Bergkristall und ausgezeichnet bei Obduktionen, ein wahres Wunderwerk, das ich sorglich hütete. Eines Tages entzweite ich mich mit der Alten, und sie wurde böse auf mich. Bei der nächsten Obduktion fiel das Glas ohne jede Ursache heraus. Ich dachte, es sei ganz einfach zerbrochen, und schickte es zum Reparieren. Nein, es verweigerte beharrlich den Dienst, wurde in eine Schublade gelegt und ist weggekommen.« »Ach nein! Wie seltsam, daß alles, was die Augen betrifft, am empfindlichsten ist. Ich bekam von einem Freunde ein Opernglas; es paßte so gut für meine Augen, daß die Benutzung ein Genuß war; der Freund und ich entzweiten uns. Du weißt, so etwas kommt vor, ohne ersichtliche Ursache; es ist, als dürfe man nicht harmonisch sein. Nun, als ich das nächste Mal das Glas benutzen wollte, konnte ich nicht klar sehen. Der Schenkel war zu kurz, und ich sah zwei Bilder. Ich brauche dir nicht zu sagen, daß weder der Schenkel kürzer noch der Augenabstand größer geworden war! Es war ein Wunder, das alle Tage vorkommt und das schlechte Beobachter nicht bemerken. Die Erklärung? Die psychische Kraft des Hasses ist wohl größer, als wir glauben. Übrigens, der Ring, den ich von dir bekommen habe, hat den Stein verloren und läßt sich nicht reparieren, läßt sich nicht. Ebenso ist es mit dem Petschaft. Willst du dich jetzt von mir trennen?« »Ja, du weißt, wir wollen beide, aber wir können nicht. Ich lebe den ganzen Tag so intim mit dir, daß ich deine Gegenwart kaum vermisse, und ich finde es so besser, denn wenn wir zusammenkommen, ist Unfrieden. Es ist, als wenn unsere Körper sich nicht ertragen können.« »Ja, so scheint es. Doch deine Aura folgt mir, und ich spüre aus der Ferne deine Gemütsstimmung mir gegenüber wie drei verschiedene Düfte, von denen zwei mir äußerst angenehm sind. Der erste ist wie Weihrauch, und er kann so dicht werden, daß er wie Hexerei und Wahnsinn wirkt, der letzte ist wie frisches Obst. Der zweite in der Reihe ist schwül wie Seifenparfüm und wirkt sinnlich unfreundlich. Aber in deiner Nähe spüre ich diese Düfte oder andere nie; also sind es keine Geruchswahrnehmungen im materiellen Sinne, sondern etwas wie eine Version. Und ich fühle mich nie uneins mit dir in deiner Abwesenheit; trennen wir uns nach einem Sturm, wo mein Haß so grenzenlos ist, daß mir die Worte fehlen, so legt sich, sobald du nur fort bist, der Haß, und eine stille, liebliche Ruhe tritt ein, in der ich mit dir so intim lebe, wie ich will. Alles, was ich spreche, denke oder schreibe, widme ich dir; Und wenn du mir zustimmst, habe ich deinen Geschmack im Munde, und dein Weihrauch wird Balsam. Um von dir loszukommen, suche ich bisweilen Gesellschaft, aber ich fürchte mich vor den Menschen, sie verletzen mich mit ihrer Gegenwart, sie verwirren unsere Fäden, und ich meine dir untreu zu sein -- ja, liebe Freundin, das Universum hat Rätsel; aber die Menschen gehen umher -- nicht wie Blinde, denn sie sehen wohl -- verstehen aber nicht. -- Wer du bist, wer ich bin, das wissen wir nicht. Aber als wir uns vereinigten, glaubte ich eine Leiche zu umarmen, die nicht deine war, sondern die einer andern ... ich will nicht sagen, wessen.« »Und mir war es, als seist du mein Vater, so daß ich Scham und Abscheu empfand! Was ist dies Furchtbare, Geheimnisvolle, in das wir hineingeraten sind?« »Jetzt erst wird vielleicht die Menschheit die unlösbaren Rätsel erfahren! Sie zum mindesten ahnen. Du hast wohl oft gemerkt, wenn ich zu dir kam, daß ich finster wurde und verstummte. Du nanntest das schlechte Laune. Nein, liebe Freundin, ich kam in strahlender Stimmung und bereit, dich stundenlang zu unterhalten. Aber du sahst mich mit einem fremden Blick an, dein Zimmer war giftig, so daß ich am Ersticken war; ich mußte hinaus, das war alles, was ich wußte. -- Und wenn du dann böse auf mich warst, konnte ich nicht antworten und mich nicht verteidigen. Ich glaube übrigens nicht, daß es zwei Menschen gibt, die sich verstehen. Der eine mißt dem Wort einen andern Wert bei als der andere, und außerdem, wenn man sich selbst nicht versteht, wie soll ein anderer einen verstehen können? Ich verstehe dich am besten im Schweigen und in der Ferne; dann bist du mir am nächsten, ohne Mißverständnis.« »Ich brauche dir von meinem Leben seit damals nichts zu erzählen; denn du kennst es ...« »Ja, ich kenne es; du sehnst dich heraus aus dieser Unfreiheit, denn das ist es, für dich wie für mich; jedes Liebesverhältnis ist Unfreiheit und deshalb qualvoll ...« Jetzt legten sich zwei schwere Hände freundlich auf ihre Schultern, und Doktor Borg ließ sich hinter ihnen nieder. »Guten Tag, Kinder, seid ihr auch hergekommen, um euch den Aufzug anzusehen? Der Antichrist soll von Christi Nachfolger bestattet werden. Schweden soll einen großen Dichter bekommen, der nie Dichter war, weil er nie gelebt hat; er beklagte selbst, daß er nichts erlebt und daher nichts zu erzählen habe. -- Er hat den ersten Teil übersetzt, zu dem zweiten langte es nicht! Das war ein Schwede! Alles, was er angespien hatte, las er schließlich auf und hängte es an die Brust, alle Ideale seiner Jugend tauschte er gegen Titel und Würden ein, und diese charakterlose, knochenlose Gestalt wird schon jetzt als der charakterfeste Mann mit Rückgrat gepriesen! Wir leben ja in der Epoche des Humbugs!« »Sprich nicht schlecht von den Toten,« flüsterte Graf Max; »sie können sich rächen!« Jetzt kam die Prozession herein, und Max wendete sich zu Esther, mit gedämpfter Stimme, um vom Doktor nicht gehört zu werden. »Siehst du, da gehen die Toten! Die jetzt Lebenden atmen ihre Gegenwart, nähren sich von dem Heutigen; die da unten leben um 1850, wie der Tote; sie haben Asche und Knochen gefressen, deshalb sehen sie wie Asche aus; alles, was schon konsumiert und assimiliert war, die Reste, das ~Caput mortuum~, ist ihre Nahrung; sie gehören dem Reich der Schatten an, und ohne Glauben an die lebendige, wachsende Allmacht machen sie sich ein tönernes Götzenbild und legen es in einen Sarg mit silbernen Füßen; aber der Tote gehörte nicht ihnen; einerlei, denn ihnen ist alles einerlei; er entstammte ihrer furchtsamen, blutlosen Nachhallzeit, und sie kennen die Ihren; sie haben seinerzeit gegen ihn gekämpft, sie haben ihn besiegt, und nun tragen sie seine Leiche im Triumph daher; der Kampf um die Leiche des Patroklus, des Patroklus, der Jahrhunderte lang tatenlos dalag, schließlich aufwachte, von Apollo selbst mit Blindheit geschlagen und von Hektor getötet wurde.« Hier unterbrach Doktor Borg ihn: »Hört jetzt zu! Jetzt spricht ihr Riesengenie, der Mann, der nie etwas getan hat, dafür aber mit siebenunddreißig Jahren Staatsrat wurde, nie etwas vollendete, außer ein paar unvollendeten Broschüren. Die Broschüre, der Essay, das war die Form der Zeit. Er fürchtet die Kritik der Nachwelt an dem Werk des Toten, deshalb versichert er ihn gegen diesen Unglücksfall. Hört! Er, der Tote, hatte so mächtige Gedanken, daß erst in kommenden Jahrhunderten Generationen geboren werden, die imstande sind, sie zu begreifen! Ist das ein Hund! -- Jetzt kommt Christi Nachfolger, der sich nicht entblödet, sich auf den Thron des Antichrist zu setzen. Versöhnlichkeit ist schön; wird sie aber mit weltlicher Ehre und irdischer Auszeichnung erkauft, dann ist sie Unsinn! -- Hört, wie er die Glaubenslehre anpaßt, an den Statuten rüttelt ... und jetzt! Jetzt wird das Schwarze weiß! Charakter! Charakterfest! Charakterstärke! und jetzt: Freimütig, freisinnig, warum nicht Freidenker? Nein, ich danke!« Graf Max wendete sich zu Esther: »Er war einer von denen, die Holger wegen der Majestätsbeleidigung verurteilten. Dies ist ein seltsames Schauspiel! Diese Aschemenschen gleichen den Lemuren und Larven, die Fausts Leiche stehlen wollen! Erinnerst du dich? Und es ist, als stände Mephistopheles hinter dem Altar und blende ihnen den Blick! Sie sehen alle Eigenschaften, die dem Toten fehlten. Ganz wie im Auerbachkeller: Falsch Gebild und Wort Verändern Sinn und Ort.« »Sprichst du von den Sinnbildern des Opernkellers?« unterbrach der Doktor, der nicht recht gehört hatte. »Sie sehen Weinberge und Trauben,« flüsterte Max Esther zu. »Betrug war alles, Lug und Schein! Aber ich finde den Oberpriester am schlimmsten; er ist unheimlich in seiner Verblendung; er scheint in einem kräftigen Irrwahn befangen zu sein, da er glaubt, daß Lüge Wahrheit ist. Erinnerst du dich, daß er Axel auf dem Totenbett der Lüge beschuldigte, als dieser die Wahrheit sagte?« »Ja, jetzt hat Schweden einen Heiligen mehr!« schloß Doktor Borg. »Schwede in Seele und Herz nach ihrem Bilde; ein Dilettant, der nichts vollendete; ein Dürrdenker, der Leere philosophierte; ein Sänger ohne Stimme; ein vom ersten Baß künstlich in die Höhe getriebener Tenor, begann in der Opposition, endete in der Schwedischen Akademie; erst spanische Fliege, nachher weißes Pflaster. Da im Sarg liegt ja Barrabas und lächelt, der Pastor glaubt aber, es sei der Gekreuzigte! -- Hört, wie er die Glaubensartikel dreht und wendet, hört, wie es im sechzehnten Stuhl knarrt; hohle Worte wie Zuckerwasser im Schein der Stearinkerze. Sie weinen, ganz wie Voltaires Kartenspieler, die Homers Tod beweinen! Wißt ihr, daß so ein Überlebter neulich den Toten als zweiten Homer bezeichnet hat, obwohl er weder eine Ilias, noch eine Odyssee geschrieben hat? Sein Leben war freilich eine Odyssee insofern, als er so lange fort war; und als er heim kam, waren die Freier in sein Haus eingezogen. Lassen wir seine Asche in Frieden ruhen und beglückwünschen wir uns, daß eine Epoche mit ihm ihre drei Schaufeln Erde bekommt; eine Epoche, die der großen Revolution feindlich war, die die negative und wenig ehrenvolle Aufgabe hatte, zu hemmen.« Der Doktor ging, als die Orgel zu spielen begann, denn er konnte dies Instrument nicht vertragen. Esther und Max blieben sitzen. »Ja,« sagte Max, »unser guter Doktor hat die Anschauungen der achtziger Jahre; aber er vergißt, daß wir in den neunzigern sind. Er versteht die neue Zeit nicht, die hereinbricht; er versteht uns Junge nicht; denn hätte er unser Gespräch vorhin gehört, so bezeichnete er es als -- ja wie heißt die schöne Umschreibung?« »Neurasthenie!« »Ja, so hätte er es genannt! In den achtziger Jahren hatte man Magenkatarrh, der keiner war; jetzt hat man Neurasthenie. Jede Zeit hat ihre Krankheiten, die auf Veränderungen in der Seele zu beruhen scheinen, ganz wie die unerklärlichen Krankheiten der Kinder in den Wachstumsjahren. ›Erwächst‹, sagt man. Ja, wir sind gewachsen, und deshalb sind wir krank. Was ist Blinddarmentzündung? Das ist doch wohl eine Krankheit eines tierischen Organs, das überflüssig geworden ist und deshalb weggeschnitten wird. Ich wünschte, alles Tierische könnte weggeschnitten werden, und deshalb, siehst du, will ich nicht leugnen, daß meine Sympathien oft dem Toten gehörten, der bei geringer Kraft guten Willen und hohes Streben besaß. Unser Doktor dagegen -- ja, er war ein Kind seiner Zeit, aber diese Zeit ist vorbei, mir ist er fremd, für mich gehört er schon zu den Toten. Die Ideale seiner Jugend sind zum Teil keine Ideale mehr, weil sie verwirklicht sind, und Ideale müssen vor uns liegen. Das Gefährliche an dem Doktor ist aber, daß er schon ein Hinderer geworden ist. Er fürchtet die Jugend und will von dem Neuen nichts hören. Er hat seine Grenzlinie gezogen: bis hierher, aber nicht weiter. Statt den Versuch zu machen, das unerklärliche Alltägliche zu erklären, verwirft er es. Er, der an Gesetzmäßigkeit und Ordnung glaubt, glaubt trotzdem an Zufälle; es ist aber eine Denkschwäche, im gleichen Atemzuge seine These zu verleugnen. Er, der an Entwickelung und Wachstum glaubt, will unserm Seelenleben die Möglichkeit, sich zu höheren Fähigkeiten zu entwickeln, abstreiten. Er glaubt an die drahtlose Telegraphie, leugnet aber die Fähigkeit der Seele, sich aus der Ferne mitzuteilen. Unser guter Doktor ist etwas primitiv! Holger dagegen kann wachsen; er scheint im Gefängnis einige Entdeckungen gemacht zu haben, schämt sich aber, darüber zu sprechen und hat Furcht, als Mystiker belächelt zu werden; er weiß auch, daß seine Zeitung an demselben Tage tot sein würde, an dem er diese Saite berührte ... ›Du weißt selbst, ich kann das, was ich schreibe, nicht drucken lassen, denn man nennt es Verrücktheit; und ich muß warten, vielleicht dabei untergehen ...‹« Jetzt verließ die Prozession die Kirche. »Es ist ein seltsamer Anblick,« sagte Esther, »wie so verschiedene Parteien sich in der Verehrung des Toten zusammenfinden.« »Ja, liebe Freundin, das kann bedeuten, daß in aller Herzen eine Erinnerung an ein Jenseits lebt und daß das Erhöhte zu sich hinaufzieht. Ich kann die Widersprüche in seinem Leben lösen und aus den schroffen Widersprüchen die Synthese gewinnen, aber dazu gehört Erziehung und Selbstüberwindung. Gerettet ist das edle Glied Der Geisterwelt vom Bösen; Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen. Und hat an ihm die Liebe gar Von oben teilgenommen, Begegnet ihm die selige Schar Mit herzlichem Willkommen. Aber ich verstehe auch die Rolle, die berechtigte Rolle des Mephistopheles. ›Der Herr‹ legt sie so aus: Ich habe deines Gleichen nie gehaßt. Von allen Geistern, die verneinen, Ist mir der Schall am wenigsten zur Last. Höre jetzt genau zu! Des Menschen Tätigkeit kann allzu leicht erschlaffen, Er liebt sich bald die unbedingte Ruh; Drum geb ich gern ihm den Gesellen zu, Der reizt und wirkt und muß als Teufel schaffen! Das ist die Aufgabe des Verneiners, die Berechtigung des Bösen in der Ökonomie des Lebens. Da hast du die Gleichung unseres Doktors; der Widersacher, der Fehlersucher, der seine Aufgabe wie ein Mann versieht, und der sehr nützlich ist in diesen Zeiten, da die Versöhnten einander in Schmeicheleien und gegenseitigem Lob überbieten. -- Jetzt müssen wir gehen; die Kirche soll geschlossen werden!« Sie gingen, und wie in schweigendem Einverständnis lenkten sie die Schritte nach den Inseln. Das waren ihre besten Stunden, wenn sie zusammen wanderten. Wenn sie sich im gleichen Takt vorwärtsbewegten, waren sie ja gezwungen, gleichen Schritt zu halten und sich einander anzupassen; dadurch entstand eine Harmonie, die sich auf gegenseitiges Nachgeben gründete; die Blicke der Menschen bewahrten sie vor zudringlicher Annäherung, und dadurch, daß fortwährend neue Gegenstände defilierten, wechselten die Stimmungen und damit die Unterhaltung. Als sie sich müde gelaufen hatten, wollte Esther auf der neuen Opernterrasse sitzen. Nach einigem Zögern ging Max mit. Und nun saßen sie sich an einem Tisch gegenüber; es wurde intimer, und sie blickten sich in die Augen. »Wie sollen wir aus dieser Sache herauskommen, Esther?« fragte Max. »Ich weiß es nicht! Ich wünsche es, und wünsche es nicht.« Ein plötzliches Verlangen, von etwas anderm zu sprechen, überfiel beide; sie sehnten sich wahrscheinlich nach einem Aufschub der schmerzhaften Operation. Esther sah sich um unter den vielen Menschen, um einen zu finden, der Stoff liefern, eine Vorstellung von etwas Entlegenem wecken konnte. Da saß ein Hauptmann in Artillerieuniform, und sofort hatte sie einen Anhalt, um sie beide der Verstimmung zu entreißen: »Erinnerst du dich,« begann sie, »im vorigen Jahr des französischen Artilleriehauptmanns, der als überführter Spion deportiert wurde?« »Ja,« antwortete Max zerstreut. »Es beginnt jetzt das Gerücht zu gehen, daß er unschuldig war; was glaubst du von der Sache?« Max liebte solche Sprünge in der Unterhaltung nicht; es erschien ihm wie ein Versuch, ihn zu betrügen, seine Gedanken in Bahnen zu locken, in die er nicht wollte. Er antwortete aber, um nicht unhöflich zu sein. »Ich war damals gerade in Paris und hatte den Eindruck, daß er schuldig sei, was ich sehr natürlich fand, da er als deutschsprechender Elsässer geboren ist und seine Heimat 1871 annektiert wurde.« »Warum glaubst du denn, er sei schuldig gewesen?« Der Graf suchte im Gedächtnis nach einer ihm gleichgültigen Sache und entgegnete: »Der Hauptmann blieb Franzose, seine Verwandten in Mülhausen aber wurden Deutsche; und wenn Dreyfus, so hieß er ja wohl, sie jeden Sommer besuchte, so war es ja klar, daß er manches ausplauderte. Ich hörte auch, er habe in Fontainebleau oder irgendwo anders den Besuch eines deutschen Bruders bekommen und ihm eine Reihe neuer Erfindungen gezeigt, sofern daran überhaupt etwas zu zeigen war.« »Nun, woraufhin wurde er denn aber verurteilt?« »Auf Grund von Indizien; übereinstimmende Zeugenaussagen und belastende Umstände; die moderne Beweisführung nimmt auf diese Dinge mehr Rücksicht als auf materielle; und Zeugenaussagen sind ja immer falsch infolge der Unvollkommenheit des menschlichen Gedächtnisses, infolge der Abhängigkeit des vulgären Urteils von Interessen und Leidenschaften.« »Ja, aber ich glaube mich zu erinnern, daß er auf Grund eines zweifelhaften Dokuments verurteilt wurde.« »Du meinst den sogenannten Bordereau. Den habe ich autographiert gesehen neben einem Brief von Dreyfus, dazu das Schreiben, das der Oberst -- wie hieß er doch noch -- Dreyfus nach Diktat schreiben ließ. Aus diesen Schriftproben kann man nichts beweisen, denn Dreyfus hatte zwei Handschriften, eine deutsche, aus der Kindheit, und eine französische, die er in Frankreich gelernt hatte. Der Bordereau weist französische Handschrift auf, das sieht man besonders an den Ziffern, an der 4, die so, $4$, geschrieben ist, wie nur ein Franzose sie schreibt; ebenso an der 5.« Er zeichnete mit seinem Bleistift auf der Marmorplatte. »Aber in der Probeschrift nach dem Diktat des Obersten hat Dreyfus deutsche Ziffern und deutsche Datumsbezeichnung angewendet. Zum Beispiel beginnt die Schrift: Paris, 15. Octobre 1894.« Esther machte große Augen: »Du scheinst diesen Prozeß gründlich studiert zu haben.« »Ja, genauer, als ich dir gegenüber zugeben darf; und ... Also hier sind die Ziffern deutsch; doch er hat das Datum geändert, die 15 aus einer 13 gemacht. Warum hat er zuerst 13 geschrieben, da er doch beim Diktat leicht den Unterschied zwischen fünfzehn und dreizehn hören konnte? Ja, weil am dreizehnten etwas geschehen ist, was du nicht weißt! Die Schrift des Bordereaus ist also als Beweis wertlos, da der Mann zwei Handschriften hatte, von denen die Kindheitsschrift bei gewissen Gelegenheiten hervortrat.« »Glaubst du denn nicht, daß er den Bordereau geschrieben hat?« »Das weiß ich nicht! Aber da er nicht auf Grund dieses Schriftstücks verurteilt ist, sondern auf Grund einer Menge Indizien, ist es gleichgültig. Sonderbar ist, daß man eine Abschrift des Bordereaus in Dreyfus' Weste gefunden hat, als er nach der ~Ile de Rez~ gebracht werden sollte. Wo hatte er die her, da er im Gefängnis keinen Zugang zum Original hatte; und was wollte er mit ihr, da sie ihn zu Fall brachte? Weiß man, ob die Kopie das Original war oder nicht?« »Woher weißt du das?« »Das steht doch in den Prozeßberichten, und er hat die Existenz der Kopie in der Weste nie abgeleugnet, da sie einmal gefunden worden war. Warum interessierst du dich so sehr für diesen Prozeß?« »Das kann ich nicht sagen.« »Jetzt sitzt er jedenfalls auf der Insel, die von manchen ~du Diable~, von andern ~du Salut~ genannt wird. Es ist kurios. Und man spricht von vorbeifahrenden Jachten, die ihn befreien wollen.« »War er Jude?« »Ja gewiß; aber das sprach nicht gegen ihn in dem aufgeklärten Frankreich, wo das Heer schon sechsunddreißig jüdische Offiziere hatte und wo Dreyfus, trotz seiner deutschen Herkunft, in den Generalstab aufgenommen wurde, eben weil er Jude war. Man wollte nämlich aufgeklärt und vorurteilsfrei erscheinen. -- Daß aus diesem Ei etwas herauskommt, glaube ich zu wissen. Es ist wohl ein Basiliskenei!« »Glaubst du denn, daß er schuldig ist?« Max betrachtete Esther, und er fühlte in ihrer Frage einen Stachel des Hasses, eine Herausforderung, eine Schlinge. Er antwortete deshalb kalt: »Ich glaube, daß er geklatscht hat, und das finde ich verzeihlich; ob er den Bordereau geschrieben hat, weiß ich nicht; ich halte es für unwahrscheinlich, daß man ein Verzeichnis seiner Verbrechen mit sich herumträgt. Wahrscheinlich ist er schuldig, aber nicht der Dinge, derentwegen er angeklagt ist. Und das ist seine Stärke. Deshalb konnte er auf dem Marsfelde bei der Degradierung freimütig ausrufen: ›Ich bin unschuldig!‹ (Im Sinne eurer dummen Anklage!)« Es entstand eine Verstimmung, und Esther begann zu frösteln. Graf Max wurde nervös und fand die Gesellschaft am Nebentisch zu lärmend; ein unerzogener Hund ging umher und fegte die Tische mit seinem Schwanz ab; der Kellner puffte jedesmal, wenn er vorbeiging, Esther in den Rücken. »Ich glaube, die Séance ist zu Ende,« sagte Max. »Hier ist Unlust, und das ist immer so, wenn gewisse Gespräche über niedrige Dinge zu wirken beginnen. Es ist etwas Böses in der Luft; die Toten hier in der Nähe berühren mich unangenehm, und ich sehne mich fort, hinaus; ich wünschte nur, ich könnte aus dem Körper herauskriechen und mit den Möwen ans Meer fliegen, mich in einer großen, grünen Woge baden, auf dem Rücken liegen und nur den Himmel sehen, ein Riesenwalfisch sein und mich draußen im Ozean abspülen, mit Fregatten um die Wette schwimmen und in Tangwälder hinuntertauchen.« Jetzt begann es vom Kirchturm zu läuten. »Und dann diese Glocken! Diese Kirche ist mir immer vorgekommen wie eine Nebenkapelle zum Opernkeller, das Portal ist in der Oststraße, der Turm über dem Salon auf den ~Champs de Mars~. Wenn sie da oben läuten, dann klappern alle Groglöffel auf der Terrasse, und die Punschgläser klirren gegen die Tablette, die Lorbeerbäume rascheln und riechen, wie Quecksilber schmeckt; diese Terrasse erinnert übrigens an einen französischen Kirchhof, mit seinen bepflanzten Gräbern und den gestutzten Bäumen. Hu, wie mich friert; wollen wir gehen?« Esther wußte, daß es bedeutete, sie wollten voneinander gehen; denn jetzt begann die Repulsion, der Haß, ohne bestimmte Ursache, und wenn sie darauf bestand, bei ihm zu bleiben, so würde das mordende Schweigen eintreten, oder das unvernünftige Gezänk ausbrechen. Sie gingen ohne Abschied auseinander, nach stillschweigendem gegenseitigem Übereinkommen, aber in der Überzeugung, sich früher oder später wiederzutreffen. Siebzehntes Kapitel Das Versöhnungsfest Esther und Max gingen den Strandweg entlang, um die Ausstellung zu besuchen, die sie noch nicht gesehen hatten. Da sie beide in Stockholm geboren waren, hatten sie die Umrisse ihres alten Tiergartens so sicher im Auge, daß sie sie im Dunkeln hätten zeichnen können. Jetzt, da sie in ihr Gespräch versunken, mit in sich gekehrten Blicken dahingingen, blieben sie plötzlich stehen und blickten auf. Vor ihnen lag eine weiße, schimmernde Stadt, wie zum Fest gekleidet. Max blieb stehen und blickte vorwärts, aufwärts, wie in einer Ekstase: »Das Licht ist wiedergekommen!« Und sie gingen weiter, während er sprach: »Die Furcht vor dem Weißen ist verschwunden. Die Augen konnten keine weißen Häuser ertragen, deshalb verbot die Hygiene Kalkputz, und die Fassaden unserer Jugend waren mit Ruß und Rost gestrichen; die Behörden schrieben Kienruß oder Eisenocker in der Tünche vor. Und das Grün, das Grün der Hoffnung, das die Ästhetik in den Bann getan hatte, darum und darum ... das Grün hat seine Wiederkehr gefeiert; das Weiße grünt und das Grün vergoldet sich. Selbst die Nationalflagge ist von dem stumpfen Indigo zu dem milden Kobalt übergegangen, vom schweren Eigelb zum blassen Gold. -- Wir sind im Dunkel gewandert, aber es war nur eine Sonnenfinsternis, die ihre Zeit dauern mußte. Ich erinnere mich meiner Kindheit, als die kleinen Schwestern weiße Strümpfe trugen wie ihre Mütter, und wie dann ihre Beine schwarz wurden; ich fand, sie sahen aus wie Dämonen, die aus Schornsteinen herunter kommen; das Weiße wurde schwarz, und es gab gewisse Frauen, die mit Trauerkleidern kokettierten, obwohl sie keine Trauer hatten. Jetzt tagt es wieder; die Strümpfe haben wieder Farbe bekommen, und der Stiefel hat seine Schwärze verloren, die Frau hat ihr langes Haar wieder, hat Hals und Brust befreit -- jetzt bekommen wir wieder Mütter, -- mit Kindern als Halsband.« Sie hatten den Brückenkopf erreicht und wanderten in die weiße Stadt hinein. Sie sahen die Menschen nicht; sie waren von ihrer eigenen schützenden Aura umgeben, die sie gewissermaßen unsichtbar machte. Die Gebäude und Gegenstände betrachteten sie nicht, sondern behandelten sie als Dekorationen zu ihren Gedankenbildern. Sie tändelten an Maschinen, Mineralien, Waffen, Möbeln und Handelsgegenständen vorbei. Sie stürzten sich in Alt-Stockholm hinein, ließen sich's eine Weile in der vergessenen Vergangenheit wohl sein, spürten aber bald eine Beklommenheit und rissen sich wieder zur Gegenwart empor! Jetzt leben, nicht damals! Nicht einen Tag früher, lieber später, sich selbst und seiner Zeit voraus. Schließlich setzten sie sich in die blaue Grotte. Max sprach unaufhörlich. »Jetzt denke ich blau, jetzt sehe ich blau; ich weiß, wo ich bin, aber ich habe es vergessen, und ich bin nicht hier. Ich weiß, wie du heißt, aber ich will deinen Namen nicht nennen, denn du bist nicht die, die du bist. Weißt du, was die Gevatterschaft war? Das war eine geistige Verwandtschaft, die zwischen den Paten des gleichen Kindes vorhanden sein sollte. Ich glaube an so etwas, an die selbständige Existenz der Seelen außerhalb der Körper; und an geistige Blutschande. Wir müssen auf irgendeine unbekannte Art Geschwister sein, deshalb bekommen wir kein Kind; deshalb tragen wir an einer Schuld und an einem Schamgefühl, das wir nicht erklären können. Du bist nicht die, die du bist, denn wenn du abwesend bist und ich dich mir vorzustellen versuche, wirst du eine andere.« »Wer bin ich dann?« »Bisweilen meine Mutter, bisweilen meine Schwester, bisweilen ... Weißt du, ich glaube, die Seelen leben so unabhängig von den Körpern, daß sie in fremde Rinde einen Schößling senken und saprophytisch darauf leben können. Die Flechte, die auf Bäumen und Steinen wächst, ist eine Vereinigung von Alge und Pilz, eine Gemeinschaft, die man Symbiose nennt. Das ist die Ehe, die geistige meine ich, und die Ähnlichkeit von Ehegatten ist die noch unerklärte Bildkraft der Seele, die Materie umzukneten. Ich hatte deinen Vater gesehen, aber nie deine Mutter, als ich einmal im Theater einige Reihen vor mir den Nacken einer Dame sah, der meine Aufmerksamkeit erregte. Ich wendete mich zu meiner Gesellschaft und sagte unwillkürlich: ›Der Nacken dieser Dame erinnert mich an Gustav Borg!‹ ›Ja, das ist seine Frau,‹ sagte man mir! Wenn es das Gesicht gewesen wäre, hätte man die Wirkung der Anpassung im Verkehr begreifen können, aber ein Nacken! Das klingt ja wie eine Fabel.« »Es werden allerdings Zwillinge geboren,« begann Esther, »aber man kann auch dazu werden. Meine Mutter hatte eine Zwillingsschwester, und als die sich einmal in die Hand schnitt, fühlte meine Mutter, die weit entfernt war, den Schmerz. Du und ich, wir sind Zwillinge geworden, aber wir müssen aufhören, es zu sein.« »Ich glaube, wir sterben im selben Augenblick, da das Band zerschnitten wird. Der Trennungsschmerz ist das größte aller Leiden, aber wir müssen dahin!« »Kannst du dir ein Ende denken?« »Nein! Und das, was man sich nicht denken kann ... das existiert nicht.« Sie gingen wieder weiter, um den Platz zu wechseln, und kamen auf die Schanze. Kläffende Hunde begrüßten sie, und Max schrumpfte vor Schmerz zusammen. »Diese Tiere hier? Gibt es denn keine Menschen in Schweden?« »Du bist kein Tierfreund?« »Nein, ich hasse alles Tierische, wie du weißt, besonders an mir selbst. Und diese Tierfreunde -- ja, du weißt, die Vorsitzende selbst hätte ihre Kinder mit Rosinen und Mandeln beinahe umgebracht (sie war Vegetarianerin), aber sie konnte nicht hören, daß man einen Hammel schlachtete. Alle, die auf der Tierskala so tief stehen, daß sie mit Tieren, aber nicht mit Menschenkindern Mitgefühl haben, sollte man ohne weiteres zum Tierarzt schicken und Zyankali riechen lassen. Die Abgründe, die eine solche menschenähnliche Seele birgt, sollte sie lieber zu verbergen suchen. Ich habe gehört, daß Kavalleristen und Hirten ... Nein, jetzt wollen wir hier weggehen! Hier ist es böse, und es ist überall böse, wo man Tiere eingesperrt hält! Wir wollen nach dem Swedenborgpavillon gehen.« »Hast du Swedenborg gelesen?« »Man liest Swedenborg nicht, man empfängt ihn oder man empfängt ihn nicht. Man kann ihn nur verstehen, wenn man dasselbe erlebt hat wie er. Deshalb ist es nicht gefährlich, ihn zu lesen, denn für die Uneingeweihten ist er ein verschlossenes Buch.« Sie gingen und gingen. * * * * * Vor dem Zentralrestaurant saß Konsul Levi mit Doktor Borg. »Nun, du Nörgler, was sagst du zu all diesem?« »Ich möchte am liebsten schweigen und meinen schönen Eindruck vom Fest behalten.« »Nein, du sollst bewundern, schwedische Industrie und Erfindungen bewundern.« »Was für Erfindungen?« »Aha!« »Kleine Anwendungen älterer Ideen, die Themen anderer, eigene Variationen!« »Nun, aber der Separator? Schwedens Ehre und Reichtum.« »Ja, der! Erz, Zucker und Melasse abzusondern, ist immer die Aufgabe der Zentrifuge gewesen; jetzt sondert sie Sahne ab, das ist alles!« »Du redest! Gerade die Anwendung bei Milch ist neu.« »Nein, die Milchzentrifuge ist 1864 von Prandtl in Bayern erfunden, ist aber in Schweden vervollkommnet.« »Potztausend! Aber die Dampfturbine? Ist die was wert?« »Ja, doch sie ist alt! Dampf einzulassen statt Wasser, siehst du, das ist das ganze! Die Axe ist neu! Nein, wer in die Dampfmaschine eine andere Flüssigkeit als Wasser hineinbringt, eine Flüssigkeit mit einem niedrigeren Siedepunkt, zum Beispiel Äther mit fünfundvierzig Grad Siedepunkt, der hat Kraft gespart; der ist ein Erfinder. Wenn man eine Lokomotive mit einer Spirituslampe heizen kann, dann will ich dabei sein und Preise austeilen. Oder wenn man einen Ballon steigen läßt, mit Stickstoffgas gefüllt, das von einem Petroleumofen erwärmt wird.« »Stickstoffgas?« »Ja, Stickstoff, der das gleiche spezifische Gewicht wie Leuchtgas hat, nämlich 0,9, muß natürlich einen Ballon heben können. Da Stickstoff sich weder entzündet noch explodiert, kann er erwärmt werden, entweder durch Benzinlampe, Petroleumofen oder Acetylen. Dann sitze ich in der Wärme und bediene eine Schraube, steige oder falle nach Bedarf und kann aussteigen, ohne meinen Ballon zu leeren, kann höher und tiefer gehen und neue, passende Winde aufsuchen.« »Aber die Feuersgefahr?« »Stickstoff ist nicht feuergefährlich und imprägnierte Leinwand fängt nicht Feuer. Das kannst du bei einem Ingenieur bestellen, ebenso wie den Regulator zu meiner Äther- oder Benzin-Dampfmaschine!« »Hast du noch mehr Erfindungen?« »Ja, wir müssen Wasser verbrennen. Du weißt, daß Koks mit Wasser besser brennt als ohne! Mache dir also ein poröses Koksstück aus feuerfestem Lehm oder Gußeisen und feuchte es unaufhörlich mit überhitztem Dampf an, nachdem du mit gewöhnlichem Koks ein Initialfeuer gemacht hast, das den Dampf liefert.« »Das klingt gut; hast du auf deiner Ausstellung noch mehr auszustellen?« »Doch, wir haben ein Teleskop. Diese alten großen Ungeheuer sind ganz unnötig. Ich sah neulich durch das Fernrohr eines magnetischen Theodolits, bei dem das Rohr nicht länger war als einen halben Fuß und das Glas nicht größer als ein Zweipfennigstück. Das war ein Fernrohr, das was taugte. Nun ist das Köstliche, daß man für die Planeten nicht zu starke Vergrößerungen nehmen darf. Mars verträgt nur eine fünfzigfache Vergrößerung. An den Sternen ist nichts zu sehen, denn sie werden kleiner, je stärker die Vergrößerung ist, also kuriose Lichtquellen. Bleiben Sonne und Mond, und die sieht man ebensogut mit einem Opernglas. Dann müßten wir ... Da kommt Kurt!« Kurt Borg trat heran. Er sah feierlich aus, aber auch zerstreut: »Wo kommst du her?« grüßte der Doktor. »Ich komme von etwas Großem und Schönem; ich war im Ritterhaus auf dem Religionskongreß und habe gehört, wie ein Bischof einem Rabbiner Schmeicheleien sagte.« Isak Levi schien weniger begeistert, als der Architekt erwartet hatte, denn Isak zählte die religiösen Dinge zu dem, worüber man nicht spricht. Der Doktor dagegen nahm das Thema auf: »Ja, auch das ist Nachklang! Das Religionsparlament in Chikago 1893 war viel größer. Da waren alle Völker und Religionen der Erde vertreten, und die Versammlung nahm jeden Morgen den Segen des jeweiligen Präsidenten entgegen, mochte er nun Mohammedaner, Buddhist, Katholik oder Protestant sein, und der Papst selbst sandte seinen Glückwunsch ... In unserm Kongreß fehlt etwas Wesentliches, und zwar ein Katholik.« »So, bist du auch Katholik geworden?« erwiderte Kurt. Der Doktor antwortete auf die dumme Frage nicht. »Es liegt etwas so exklusiv, lutherisch Alleinseligmachendes in dieser Versammlung; deshalb ist sie borniert wie alles Lutherische. Im übrigen erinnert ihr euch wohl nicht, daß Pius IX. 1868 ebenfalls Griechen, Protestanten und andere Nichtkatholiken zu dem vatikanischen Konzil zusammenberief, um zunächst einmal einen Kompromiß zwischen den Christen zustandezubringen. Die eingeladenen Ketzer kamen nicht, und so wurde es, wie es wurde!« »Ja, das kann sein,« entgegnete Kurt, »aber hier ist Großes im Werden, und im neuen Jahrhundert werden wir etwas Neues sehen.« »Die französische Aufklärung bei der Revolution war viel weiter vorgeschritten als wir jetzt sind; sie rissen alles nieder, und was der Kongreß jetzt langsam abträgt, ist nur das, was ihr eigener Widerstand aufgebaut hat.« Es hatte sich bewölkt und der Himmel war mit sepiafarbenen Wollkämmen gestreift, die auf dem Kopf standen. Es dunkelte oben, aber die weiße Stadt stand nur noch weißer da und lächelte den schwarzen Himmel an. »Das sieht nach einem Zyklon aus,« sagte der Doktor. »Apropos Zyklon, erinnert ihr euch des Zyklons in Paris?« fiel Kurt ein. »Es war am 10. September im vorigen Jahr, ich war da und habe ihn miterlebt. Es war schauerlich anzusehen, so daß viele vor Schreck den Verstand verloren haben. Er verheerte den Platz Saint Sulpice vor dem Jesuitenseminar ... ging nach der Seine und zerschmetterte ein Kohlenschiff, das La Revanche hieß ...« »Das war ein symbolistischer Zyklon,« fiel Isak ein. »Dann fuhr er nach der Sainte Chapelle Ludwigs des Heiligen und riß die Gerüste herunter, darauf brauste er in den Justizpalast hinein. Da saß ein Richter und führte eine Verhandlung, als plötzlich die Fenster aufsprangen und ein großer Baum mit Wurzeln und allem in den Gerichtssaal geschleudert wurde; ein Posten draußen wurde mit dem Schilderhaus hochgehoben und durch einen langen Korridor geschleift. Der Justizpalast schien am schlimmsten heimgesucht zu sein. Dann aber fuhr der Wirbel nach dem Saint-Louis Hospital und riß fünfzig Meter des eisernen Stakets nieder, das einen Mitarbeiter des Courrier de Paris um ein Haar erschlagen hätte.« »Denkst du dir das aus? Freund Max würde eine Wahrzeichengeschichte daraus machen, aber glücklicherweise ist es seit einem Jahr in Paris ruhig; und Wahrzeichen pflegen doch nicht erst nach Jahr und Tag zu versagen?« »Ausdenken? Du kannst einen Ausschnitt aus der Vossischen Zeitung lesen, den ich bei mir habe!« »Nein, danke schön! ich erinnere mich noch; Jesuitenseminar, Saint Louis zweimal, La Revanche und der Justizpalast ...« »Behalte das also im Gedächtnis,« sagte Kurt mit einem scharfen, fast fanatischen Ton; »und wenn in Paris etwas passiert, in diesem Jahr oder im nächsten, so ...« »Bist du auch Okkultist geworden?« parierte der Doktor. »Okkultist oder nicht, aber es liegt etwas in der Luft! Ich habe in Paris einen Traum gehabt ...« »Den mußt du mit dem Traumbuch deuten!« »Scherze nur, doch nimm diesen Zeitungsausschnitt und hebe ihn auf, versuchsweise, auf jeden Fall. Du bist ja für Experimente. Es ist die Vossische Zeitung vom 15. September 1896. Jetzt haben wir 1897!« »Gut,« sagte der Doktor. »Wollen wir wetten, daß diese Legende nichts zu bedeuten hat?« »Wir halten die Wette! Hundert Kronen!« sagte Kurt. »Isak ist Zeuge!« Isak hatte mit großer Aufmerksamkeit die Geschichte angehört, und als er die Wette bezeugt hatte, holte er sein Notizbuch heraus, suchte ein Zeitungsblatt hervor und legte es auf den Tisch. »Hier ist wirklich eine französische Schilderung des Zyklons, und sie stimmt mit der Kurts überein. Ob er etwas zu bedeuten hat? Ja, wir müssen abwarten!« »Was zum Teufel soll er bedeuten? Man kann doch nicht Zyklone machen, nicht einmal wenn man Jesuit oder Okkultist ist, und an übernatürliche Zyklone glaubt kein Mensch.« »Wir werden ja sehen! Wir werden ja sehen!« * * * * * Esther und Max gingen vor der Kunsthalle auf und ab. Max redete: »Mir kommt es vor, als wenn die Menschen hier einander nicht lieben, sondern mehr zusammengescheucht werden, von der Furcht vor einer unbekannten Zukunft; es ist wie das Bedürfnis des Kranken, sich mit dem Feind zu versöhnen; wird er aber gesund, so ist die Feindschaft wieder da.« Sie blieben stehen und betrachteten zuerst die Zyklonwolke am Himmel, dann warfen sie ihre Blicke auf die Loggia der Kunsthalle, als wollten sie dort Schutz suchen. »Siehst du,« begann der Graf wieder, »siehst du die Büste da drinnen?« »Das ist Arvid Falk! Lebt er noch?« »Ja, er lebt!« »Komm, wir wollen ihn uns ansehen!« Sie gingen in die Veranda hinein, und Graf Max begann wieder: »Das hatte ich nicht erwartet, ihn hier zu sehen, aber er wird ja als tot und ungefährlich betrachtet.« »Wer hat die Büste gemacht?« »Eine Frau, das ist aber seltsam.« »Nein, wieso? er hat doch immer Beziehungen zu Frauen und Kindern gehabt,« antwortete Esther. -- »Aber was ist das auf dem Sockel?« »Das sieht aus wie Feuersflammen. Soll das den Schwefel vorstellen, den er analysiert haben will, oder das Inferno, das er jetzt durchmacht?« »Er sieht nicht bange aus, eher strahlt er von dem göttlichen Übermut, den die Götter hassen.« »Meinst du, daß einer diesen Mann verstanden hat? Er behauptet, keiner habe das getan, weil er sich selbst nicht verstand; aber er scheint bisweilen sein Lebensrätsel zu ahnen und faßt sich als eine Aufgabe auf. Er ist für mich so etwas wie Balzacs Louis Lambert, einer, der hier nicht zu Hause ist. Sein Mißvergnügen mit allem hienieden will er seinen latenten Erinnerungen an ein Besseres zuschreiben; er sieht in allem schlechte Kopien des Originals, auf das er sich dunkel besinnt. Und sein Schwanken zwischen asketischer Frömmigkeit und sinnlicher Gottlosigkeit deutet an, daß er das irdische Leben als eine Strafe betrachtet und inzwischen einmal ein Schlammbad als Pönitenz nehmen muß.« »Hast du ihn gekannt?« »Nein, ich glaube, kein Mensch hat ihn gekannt. Er hat die Fähigkeit, sich im Verkehr zu kaschieren, indem er sich dem Sprechenden anpaßt, so daß sein Zuhörer nur den Eindruck gewinnt, sich gespiegelt oder mit sich selbst gesprochen zu haben. Deshalb gibt es so viele sonderbare Charakteristiken von ihm, bei denen man das Gefühl hat, daß die Porträtisten ihr eigenes Bild, nicht seins, wiedergegeben haben! Kürzlich hat eine Frau in einem Essay ihn zu erläutern versucht, gibt aber zu, gescheitert und nahe daran gewesen zu sein, den Verstand zu verlieren.« »Warum wird er denn so gehaßt?« »Wenn Ihr nicht von dieser Welt seid, haßt die Welt Euch!« Im selben Augenblick fühlte Graf Max etwas wie eine warme Stelle auf seinem Rücken; und als er sich umdrehte, sah er einen Mann unbestimmten Alters vor der Büste stehen und sie mit einem ironischen, fast verächtlichen Lächeln betrachten. Der Graf hätte fast einen Ruf ausgestoßen, wendete sich aber statt dessen zu Esther und sagte ihr etwas mit den Augen. Der Unbekannte ging in die Halle hinein. »War er das?« »Ich glaube.« »Hast du sein Gesicht gesehen? Er blickte auf sich selbst herab und sagte mit den Mienen: Damit sind wir fertig!« »Was sollte das bedeuten?« »Er hat ja immer über sich selbst gestanden, und mit dem stärksten Selbstgefühl vereinigte er die aufrichtigste Selbstverachtung. Vielleicht ist er auf neuen Bahnen und blickt jetzt auf seine alte Reinkarnation herab!« »Glaubst du, daß er es war? Er ist doch in Paris!« »An Doppelgänger im Sinne des Pöbels glaube ich nicht; aber es könnte ja unsere Projektion der Büste gewesen sein. Wir, du und ich, ›sehen‹ uns doch bisweilen, und das sind doch nur Projektionen plus etwas, was ich noch nicht kenne. Die Theosophen haben das Faktum beobachtet, können es jedoch nicht erklären; sie nennen es ›gelegentliche Materialisierungen der Halbmaterie des Gedankens‹.« »Aber seine Schritte waren so schwer?« »Ja, er soll so schwer auftreten, als hielte er sich am Boden fest, um nicht hochgehoben zu werden. -- Weißt du, was Levitation ist?« »Ja! Aber willst du nicht die Kunstwerke ansehen?« »Ich bin blind auf den Augen, ich kann äußere Dinge nicht sehen; ich will nur an deiner Seite gehen, denn dann ist es hell in mir, -- kannst du das erklären? Obwohl ich oft, wenn ich über dich nachdenke, meine, daß du aus dem Dunkel bist. Dann hasse ich dich wie das Böse; aber sofort wird es dunkel. Was ist das? -- Nun, jetzt, da die Zeit der Versöhnung da ist, glaubst du, daß auch Mann und Weib sich versöhnen werden und daß der Kampf der Geschlechter sich beilegt?« »Nein,« antwortete Esther, »das glaube ich nicht, denn würden sie nicht durch Differenzen aufrechterhalten, würde die ganze Welt pervers. Du weißt ja, daß alle Frauenfreunde sonderbar sind. Sie haben Damenseelen, deshalb ehren sie sich selbst in der Frau. Jünglinge, die noch sexuell unbestimmt sind, beten doch die Frau an. Aber hast du bemerkt, daß unsere Herren aufgehört haben, von ihren Verhältnissen zu sprechen ...« »Ich hörte nicht, was du sagtest.« »Nein, du hast ein Talent, dich gegen fremde Einflüsse immun zu machen.« »Wenn sie herabziehen! -- Jetzt wirst du wieder dunkel!« Sie gingen weiter, hielten sich aber ein Stück voneinander entfernt, und Max sah aus, als wolle er in die nächste Tür hineinlaufen und sich verstecken. »Wir wollen uns für eine Weile trennen,« sagte Esther, »dann treffen wir uns in einer Stunde am Ausgang wieder.« »Danke, daß du so intelligent bist!« antwortete Max; »aber wir trennen uns als Freunde, sonst laufen wir sofort hintereinander her.« »Als Freunde!« Die weiße Stadt der Ausstellung lag unter dem drohenden Zyklonhimmel, der sich gar nicht auftun wollte. Es war eine improvisierte Architektur, die nicht an Schweden, eher an den Orient erinnerte. Wo nahmen die Baumeister diese Inspiration her? Von den Ländern des Sonnenaufgangs, wohin jetzt die Blicke der Welt sich mit Erwartung und Zittern wenden, nachdem Japan einen Stoß gegeben hat, der die Bewegung nach Westen weiterpflanzt und vielleicht eine neue Epoche in der Weltgeschichte einleiten wird, so neu, daß die Geschichtsschreiber sie die neuere Zeit nennen werden und alles Vorangegangene, unsere Zeit einbegriffen, die ältere. Man hat in das große Wespennest dahinten im Osten hineingestochen, und nun sind die Gelben und Schwarzen ausgeschwärmt. Aber der ferne Westen im Sonnenuntergang hatte sich auch gerührt. Alle Völker der Erde waren dahinten zusammengemaischt und hatten eine neue Brut erzeugt, die schließlich ihre Weltbürgerschaft empfand, die die Markscheide des Atlantischen Ozeans nicht anerkannte, sondern bei der Teilung der Welt dabei sein, zu den europäischen Großmächten gerechnet sein wollte. Das alte Spanien, der Hidalgo, der erste Eroberer Amerikas, war hinausgeworfen worden, und Columbus hatte aus seinem ersten Grabe auf Haiti die erlittene Unbill gerächt. In dieser gespenstischen Umarmung von Osten und Westen fühlte Europa sein Dasein bedroht, und verschüchtert wie Vögelchen scharten die Völker sich in erzwungener Freundschaft zusammen, die ihren ersten Ausdruck in dem Erlaß des Zaren fand, diesem Erlaß, der später der Anlaß zu dem Friedenskongreß im Haag wurde, der wohl zunächst bedeutete: Zusammenschluß der europäischen Mächte zu gemeinsamer Verteidigung gegen gemeinsame Feinde, also nicht Weltfrieden. Die gepanzerte Faust hatte die Tore der chinesischen Mauer eingeschlagen, und die Revanchemänner von Sedan gaben die Revanche auf, um mit den Preußen zusammen zu fechten. Die Europäer hatten aufgehört, Provinzpatrioten zu sein, und ihre Nationen waren Erinnerungen geworden, ähnlich den Landsmannschaften der Studenten, die bei festlichen Gelegenheiten eigene Fahnen trugen, für gewöhnlich aber Mitglieder der Studentenschaft waren. Im Vorgefühl seines Untergangs als Korporation hatte Schweden sich auch aufgerafft, hatte sich zurückgewandt, um seine Erinnerungen zu sehen, hatte die Büroschränke aufgeräumt und das sortiert, was aufbewahrt, und das, was verbrannt werden sollte. Kirchen, Schlösser und Hütten waren durchsucht worden und alle Erinnerungen auf dem heiligen Berge, der Schanze, gesammelt. Über der weißen Kosmopolis der Ausstellung erhob sich der Schanzenberg mit seinem schwarzen Kiefernwald und seinen ländlichen, altmodischen Glockentürmen. Sie läuteten eine Vergangenheit zu Grabe, die nach dem Glauben vieler jetzt eine Zeit der Auferstehung werden würde. Und die Dichter riefen die Schatten auf, beschworen Karl XII. und seinesgleichen. Wege und Pfade auf dem heiligen Berge trugen alle große Namen, um das Selbstgefühl der Nation zu wecken und den Zusammenhang zwischen den gespaltenen Parteien zu stärken, die sich jetzt in dem Vergangenen einen sollten. Im Pressepavillon saßen Doktor Borg und Redakteur Holger in einem Privatzimmer und tobten fürchterlich. Der Doktor war rasend. »Dies ist ja eine Maskerade, und du darfst der Eitelkeit deiner Landsleute nicht schmeicheln, so daß sie die Besinnung verlieren und alle Karl XII. zu sein glauben. Wir können uns in der Jetztzeit nur aufrichtig für die Zukunft sammeln. Die Dynastie stammt ja erst von 1809 und kann ihre Ahnen nicht von Lützen und Narwa her rechnen; der halbe Adel ist exotisch, und ganz Schonen ist ja erst nach der Schlacht bei Lund schwedisch geworden; du kannst von den Bewohnern Schonens nicht verlangen, daß sie für Breitenfeld, wo sie nicht dabei waren, hurra schreien; der Kommissar der Ausstellung, unser Freund Isak, ist ein Fremdling aus dem Orient und kann wohl weder Luther, noch Karl XI. feiern; ihr seid taktlos, und ihr verletzt, ohne es zu wissen! Der Schanzenmann selbst ist ein Exot, darauf schwöre ich, und ich als Negerknabe kann ebensowenig wie Syrach und Isak den Enthusiasmus Grönlunds für schwedische Bauernmädchen und Volkstänze teilen. Dies hier ist nicht aufrichtig, und du müßtest vor allem kommandieren: Vorwärts sehen! -- Du hast die berechtigten Angriffe des Rabbiners auf unsere Anbetung der schäbigen Vergangenheit nicht beachtet, als er gestern auf dem Kongreß gegen unsere auf Hellas und Rom fußende Bildung loszog. Er machte einen dicken Kreidestrich durch Platos Idealstaat, den er -- mitten im Ritterhause -- einen Päderastenstaat nannte! Wäre ich dagewesen, hätte ich ihn auf die Schultern gehoben. -- Was Satan haben wir mit Griechenland und Rom und Karl XII. zu tun? Ihr lebt unten in den Gräbern mit Leichen, während Gegenwart und Zukunft an euch vorbeirauschen. Aber das ist diese schauerliche Erziehung, die wir in den Schulen und auf der Universität bekommen, und das ist das Abiturientenexamen, das jetzt einem Magisterexamen der dreißiger Jahre entspricht.« »Was soll man denn aber tun?« »Fachschulen und Ausbildung für den Beruf! Laßt die Juristen mit vierzehn Jahren als Schreiber und Laufjungen bei den Advokaten anfangen; schickt die Mediziner im selben Alter als Wärter in das Krankenhaus; laßt die Ingenieure als Feiler in der Werkstatt, die Pfarrer, wenn es welche geben muß, als Küster beginnen, laßt sie die Gesangbuchnummern aufstellen und bei einem Standesbeamten Büroarbeiten lernen. Schließt die vier Fakultäten und konfirmiert die Kinder von der Volksschule aus mit Lesen, Schreiben und den vier Spezies: dann hinaus mit ihnen, damit sie sich in ihrem Fach ausbilden. Heutzutage muß man sein Handwerk verstehen, sonst geht man in der Konkurrenz unter; und wir können nichts, nur konversieren in Salons, Wirtshäusern und Versammlungen. Wir sollen versiert sein und mit den Damen über alles sprechen können, aber wir sind auf allen Gebieten nur Dilettanten. Wo sollen wir Staatsmänner herbekommen, wenn keine Staatswissenschaft gelehrt wird? Unsere Regierung ist doch auch ein Theater. Im Sommer sieht man einen Marineminister Kirche und Schule verwalten, ein Gardeoffizier leitet die Landwirtschaft, und ein früherer Assessor dirigiert Heer und Flotte. Ist das Staatskunst? Und der Minister kommt nicht dazu, von seinem Ressortchef die Elemente zu lernen, bevor er pensioniert wird. Deshalb ist das ganze Land von diesen Staatsräten überlaufen, und wenn man einen Schuljungen fragt, was er werden will, so antwortet er: Ich will Staatsrat außer Diensten werden! Um Landrichter zu werden, muß man die Gesetze kennen, aber um Departementschef und Minister zu werden, braucht man überhaupt nichts zu können. Ich will nicht von den votierenden Reichstagsabgeordneten sprechen, die haben so viel Schamgefühl, daß sie sich meistens die Verfassung kaufen, aber die Ausschußmitglieder, die tatsächlich die Gesetze geben, müßten alle Gesetze des Landes kennen und ausgebildete Staatsmänner sein. Bestände der Ausschuß aus Staatsmännern, so würden sie in Permanenz tagen und mit den Ministerien zusammenarbeiten, nicht wie jetzt einige Monate lang störend auftreten, auf gut Glück und stets als Feinde der Regierung eingreifen. Warum müssen Regierung und Reichstag stets als Feinde auftreten, stets einander zu ducken suchen? Einen Antrag durchbringen heißt doch einen Rekord schlagen, und wenn ein Minister die Majorität hat, so hat er einen Preis gewonnen -- den Preis, nicht weggejagt zu werden, im Amt bleiben zu dürfen. -- Und worüber wird im Reichstag gesprochen? Über Sch...; über Varietés und Opernkeller, über Pensionen und Brückenbauten; sogar über polizeiliche Angelegenheiten, über Soldatenexzesse, Pferdefütterung, Dünnbierbehandlung und Besichtigungsabenteuer, über die Toiletten der Damen und das Rauchen der Schuljungen. Ist das Staatskunst? -- Der Reichstag hat ja seine Inkompetenz bewiesen, da er alle wichtigen Angelegenheiten an Kommissionen von Sachverständigen verweist; der Reichstag selbst aber sollte doch aus Sachverständigen bestehen! -- Ist das Regierung, sind das Gesetzgeber?« »Was kann man da tun?« »Nichts! Doch, schleifen, schleifen! Unterm Schnee kann nichts wachsen; man kann nichts bauen, ohne das alte Haus niedergerissen zu haben. Geht nur negativ zu Werk; kommt nie mit einem positiven Vorschlag, der ist nur lächerlich; hebt alte Gesetze auf, gebt Freiheit und laßt die Kräfte wirken! Du sollst ein Wecker sein, nicht ein Einschläferer! Und jetzt adieu, die Uhr hat sieben geschlagen!« * * * * * Am Fuße des Schanzenberges, ganz als gehöre es dahin, erhob sich ein schwarzes Haus, das in der Hauptsache aus einem drückenden Dach bestand; altes morsches Holz, das besonders präpariert war, damit es morsch aussehen sollte; eine Reihe kleiner Fenster dicht über dem Erdboden deutete Abneigung gegen Licht an. Es sah wie eine Scheune aus, konnte aber eine Kirche sein. Doktor Borg und Isak Levi standen davor und betrachteten es, und der Doktor sprach selbst wie gewöhnlich: »Da hast du Norwegen, schwarz und morsch wirft es seinen Schatten über unsere helle Stadt. Das hohe Dach ist nur Prahlerei, es ist nichts darunter; keine Kammern und kein Boden, es hat gar keinen Zweck, bloß Bauernprotzerei!« »Bist du jetzt Norwegerhasser?« »Ja, ganz verd...! -- Warum sollte ich meinen Feind nicht hassen? Warum sollte ich die Norweger nicht hassen, wenn sie mit ihrem Schwedenhaß prahlen? Ich kann mir wohl meine Antipathien und Sympathien selbst aussuchen wie andere Sterbliche auch. Hast du etwas dagegen einzuwenden?« »Aber du arbeitest für ein freies Norwegen!« »Jawohl, ich erkenne seine berechtigte Forderung an, aber ich will auch frei werden von diesem schwarzen Unfug, der über uns gekommen ist wie eine Geisteskrankheit. Sollen wir den Dovrealten und seine alberne Nora anbeten? Weißt du, wie Zola ihn nennt? ›Die letzte Frucht aus den verdorrten Lenden unserer guten George Sand.‹ Sardou nennt ihn ›einen Narren‹ und Tolstoi, sagt ›er sei gestört‹. Der wird in Schweden angebetet! Nun, er ist noch der Pfarrer! Aber der Küster ist noch schlimmer! Wie alte Gorillas wirken die beiden, und findest du nicht, Isak, daß der Pfarrer aussieht wie einer von unsere Leut?« »Ja, da kannst du recht haben,« antwortete Isak. »Er ist wohl nicht nur Germane. In den Fliegenden wurde er Froschmaul genannt.« »Und die ganze norwegische Befreiungspolitik ist unter Karolines grober Hand zu einem Kampf um die norwegische Gesandtschaft ausgeartet, von wo Norwegen die schwedische Gesellschaft zu beherrschen glaubt. Ich gehe nie mehr in die Gesandtschaft; ich habe es satt, auf die Dovrealten und die Boheme von Kristiania anzustoßen, und ich will nichts von ihrem Gehechel über Andrés Ballonfahrt hören. Weißt du, was für ein Unterschied zwischen Schweden und Norwegen ist? Derselbe Unterschied wie zwischen Nordenskjöld und Nansen. Nordenskjöld fand die versprochene nordöstliche Durchfahrt, wurde aber nicht Nationalheld; Nansen fand den verheißenen Nordpol nicht, wurde aber Nationalheld. Schweden ist ein Stiefmutterland, deshalb macht es gewöhnlich seine Größen aus Nichts, es stöbert Nullen auf und erhöht sie zu Potenzen ...« »Ja, aber du hast an der Heiligsprechung des Dovrealten mitgewirkt!« »Du weißt ja, wie das zugeht: man wird nicht in Ruhe gelassen, bis man dem Haufen einen Knochen hinwirft. Auf die Weise bin ich auch Wagnerianer geworden, obwohl ich finde, daß er nur unmusikalische und häßliche Musik geschrieben hat; ›geschrieben‹ ist das richtige Wort, denn sie ist weder gehört noch komponiert; sie ist geschrieben. Aber wir leben in einer perversen Zeit, und in einer demokratischen. Ich frage mich auch bisweilen, ob diese Demokratie, für die wir uns abmühen, nicht etwas Falsches ist: wo der Unwissende Kenntnisse mitteilen, der Ratlose raten, der Schwache herrschen, der Unterdrückte unterdrücken und die Masse es machen soll. In einem Staat aber wie dem unsern, wo die eine Hälfte der Nation aufschreibt, was die andere tut, wo der Staatskalender so groß ist wie die Kirchenbibel, wo die Beamtengehälter ein Nationalvermögen ausmachen, die Ämter feudal und die Beamten Vasallen geworden sind, da ist vielleicht eine ständige Demagogie als Gegengewicht erforderlich. Aber das Kuriose ist nun, daß der Demos royalistisch, akademisch, aristokratisch, sportsnobistisch, Karl der Zwölftisch, schanzpatriotisch, der Hof hingegen demokratisch, demagogisch, demütig ist. Der Demos hat es übernommen, an die prätorianische Garde zwölf Jahre lang eine halbe Milliarde zu zahlen; wenn sie sich jedoch außerstande sehen, zu bezahlen, reißen sie aus nach Amerika. Aber die Schuldenlast des Reiches besteht nicht nur aus Hypotheken und den Zehnten der Gemeinden, sie besteht auch aus Wechseln der Banken. Aller Handel vollzieht sich auf Kredit und Wechsel; das ist Vorschuß; und Vorschuß ist ungeleistete Arbeit. Die ganze Nation lebt von sechsmonatigem Vorschuß; man stellt für die Miete einen Wechsel aus, einen Wechsel für die Steuer, einen Wechsel für den Haushalt. Aber man löst den Wechsel nach sechs Monaten nicht ein, sondern erneuert ihn und bezahlt die Zinsen mit einem neuen Wechsel. Man lebt also -- von ungeleisteter Arbeit. Und die ganze Berechnung des Nationalvermögens ist falsch. Ausgesogener Boden ist nichts wert; verfallene Schlösser kosten nur Unterhalt; rostige Eisenbahnschienen und benutzte Lokomotiven können nur als altes Eisen verkauft werden, stehen aber trotzdem noch im Hauptbuch des Reiches als Vermögen; Wasserfälle haben keinen Wert, bevor nicht die Fabrik daneben steht, die Fabrik hat keinen Wert, bevor nicht die Arbeiter da sind, und der Arbeiter ist nichts wert, wenn er nicht tüchtig ist; aber das Fabrikat ist auch nichts wert, bevor es nicht Absatz gefunden hat. Das Eisen in Norrland sollte uns retten, aber Rückschrittler haben das verhindert. Wohin treiben wir? Die Entwickelung geht sprungweise vorwärts und mit Überraschungen. Es ist ja möglich, daß die norrländischen Goldgerüchte sich eines schönen Tages bestätigen! Stelle dir dann ein Schweden als Sammelplatz aller Nationen der Welt vor. Die Volksmenge vermehrt sich, Norrland wird dicht mit Städten besiedelt, der Acker wird im Stich gelassen, und die Ureinwohner saufen sich zu Tode wie die Rothäute. Nach einem Menschenalter ist eine neue kosmopolitische Rasse Besitzer des alten Schwedens und der Reichstag ist mit Farbigen bevölkert ...« »Glaubst du daran?« »Nein, das tue ich freilich nicht, aber möglich ist alles. Es kann ja auch anders kommen, -- auf diese Art geht es jedenfalls nicht länger! Und es ist deine Pflicht, das tagaus, tagein zu sagen, zu schreiben, herauszuschreien! Auch vor tauben Ohren.« Er verließ den Pavillon und ging in das Menschengewimmel hinaus, in dem die Gesichter der Fremden ihn erfreuten, wie weitgereiste Gäste den Einsiedler in der Wildnis erfreuen, und wo der Klang der ausländischen lebenden Sprachen ihn daran erinnerte, daß seine eigene zu den toten Sprachen gehörte, da sie außerhalb seiner Landesgrenzen niemand verstand. Achtzehntes Kapitel Die Neujahrsnacht Jahre waren vergangen; das Jahrhundert war wirklich zu Ende; nur noch wenige Stunden waren übrig. Die Familie Borg wollte sich in den Gotischen Zimmern versammeln und gegen Mitternacht nach der Schanze hinausziehen. Das Leben läuft schnell, und dies Lokal war nicht mehr in Mode, sondern das literarische Hotel Rydberg hatte die Oberhand; und wenn einer vom Roten Zimmer sprechen wollte, so klang es wie Vergangenheit, und wurde mit der »Grünen Raute« und ähnlichem verwechselt. Die Gesellschaft hatte sich eingefunden, und der alte Redakteur Borg, der jetzt über sechzig war, war auch da. Eine improvisierte Versöhnung war, zu Ehren des Tages, zustande gekommen. Esther, die im Begriff stand, ihr Examen zu beenden, war die einzige Dame; alle andern waren ins Versteck gekrochen und wieder ins Haus verwiesen, nachdem das kameradschaftliche Leben in den Kneipen sich als unhaltbar erwiesen hatte. -- »Sie liefen mit ihren gegenseitigen Frauen herum, so daß man nicht wußte, mit wem sie verheiratet waren.« Die Sachlage war so, daß sie sich scheiden ließen und sich unmittelbar wiederverheirateten, unmittelbar, so daß man schließlich dahin kam, daß die Damen ihren Mädchennamen behielten. Die Biographen erwähnten nicht mehr, mit wem die berühmten Leute verheiratet waren, und der Adelsalmanach erfand als Euphemismus für Geschiedene, die sich wieder verheiratet hatten, die Bezeichnung: »Zum zweitenmal verheiratet.« Schließlich wurde in einem Nachbarlande vorgeschlagen, daß auch die Mädchen Frauen genannt werden sollten, da sie meistens nicht mehr Mädchen seien, sondern auf den Promenaden mit ihren Kindern spazieren gingen. Auf einem Tisch in den Gotischen Zimmern lag eine Liste zum Unterzeichnen. Alle hatten ihre Namen unterschrieben, außer Doktor Borg, der doch selbst diese Adresse an Zola aufgesetzt hatte, in der die Bewunderung für seinen Mut im Dreyfusprozeß ausgedrückt wurde und die Hoffnung, daß das neue Jahrhundert die völlige Rehabilitierung seines Schützlings erleben werde. »Gerechtigkeit, aber nicht Gnade!« »Nun, Doktor,« sagte Isak Levi, »willst du nicht unterschreiben? Vielleicht glaubst du, daß er schuldig ist?« Das Thema war noch so explosiv, daß man Dreyfus' Namen nicht gern nannte, diesen Namen, der in den letzten Jahren die Menschheit in zwei Hälften gespalten hatte. Der Doktor nahm die Feder und unterschrieb seine eigene Adresse mit einigen raschen Strichen. »Wenn ich mich nur nicht um Ehre und Gewissen geschrieben habe,« sagte er. »Aha!« rief es im Chor. »Ja, Kinder,« sagte der Doktor, »ich habe viermal während des Prozesses meine Ansicht ändern müssen, und ich weiß noch heute nicht, ob ich nicht Dreyfusard geworden bin, wie ich Wagnerianer wurde.« Alle schlugen die Augen nieder, einige um zu verbergen, andere um zu demonstrieren, und in der Stille, die entstand, hörte der Doktor eine Anklage, die er beantworten mußte. »Seht einmal, in einem Spionageprozeß die Wahrheit an den Tag zu bringen, ist erstens fast unmöglich, weil alle Parteien Spione gewesen und also mit Lügen, Betrug und falschen Papieren immer umgegangen sind. Zweitens ist es ganz abnorm, nach drei Jahren einen Prozeß zu revidieren, da das menschliche Gedächtnis so gebrechlich ist, da die Jahre die Standpunkte verändern, neue Interessen neue Leidenschaften geweckt haben; nachdem die Zeugen verschwunden, Papiere gestohlen oder abhanden gekommen sind ...« »Ja, aber es war ein geheimes Gericht,« wendete der alte Gustav Borg ein. »Jaa, warum nicht? Unsere freisinnige Jury ist doch auch geheim ...« »Ich glaube, du stehst auf Seite der Generale?« brauste Gustav auf. »Da haben wir es!« antwortete der Doktor. »Es ist doch des Teufels, daß die Menschen den Verstand verlieren müssen, sobald man nur von diesem verdammten Prozeß spricht.« Isak tat es leid um den Doktor, der sich unschuldigerweise in einer falschen Lage befand, und mit einem menschlichen Zug der Teilnahme suchte er ihm zu helfen, falls es dies Motiv war: »Der Fall ist nicht klar, das gebe ich zu,« nahm er das Wort. »Für mich sind drei dunkle Punkte da, die mir absolut unerklärlich sind. -- Der erste ist: Warum verlangte Dreyfus Zyankali, als er von der Revision erfuhr? Warum freute er sich nicht? Der zweite: Er glaubte damals sofort, die Generale hätten seine Partei genommen, und bat seine Frau, zu Boisdeffre zu gehen und um Hilfe zu bitten. Wie konnte er von Boisdeffre, den er kannte, so gut denken? Das ist doch eine infernalische Situation. Drittens: Als ich die Anklage der Generale in Rennes las, ja, meine Herren, da war ich überzeugt von Dreyfus' Schuld; was gebt ihr mir dafür? Besonders als die Generale erklärten, der Bordereau sei nicht entscheidend, da war ich durch all ihre Indizien, vor allem aber durch ihre klaren Worte und ihren noblen Ton in solchem Maß überzeugt, daß ich zu mir selbst sagte: Erschieße dich, Labori! Als dann Labori angeschossen wurde und sich weigerte, seinen eigenen Pariser Arzt zu Hilfe zu rufen, als keine Nachforschungen nach dem Mörder angestellt wurden, als man die Kugel aus der Wunde nicht untersuchte, da dachte ich: hier ist etwas faul! Die Sache ist unklar.« Jetzt geschah das, was so oft geschieht, wenn ein Mensch andern Edelmut zeigt: die andern beginnen vor Edelmut überzufließen. Holger schnappte sofort zu, und das Rad des Edelmuts begann sich zu drehen. »Was Isak sagt, habe ich auch gedacht; Meister Demanges Verteidigung, die eintrocknete, beruhte auf dem Entsetzen, das ihn überfiel, als er seinen Klienten in Rennes sah. Labori und Picquart sollen ihn jetzt im Stich gelassen haben ...« Die Auktion hatte begonnen, und die Eitelkeit, neue Gesichtspunkte zu einer alten Sache zu zeigen, griff um sich: »Ja,« unterbrach Kurt, »ich habe auch einige dunkle Punkte gefunden. Besonders finde ich die Logik, die man anwendet, höchst betrüblich. Der Kanzler des Deutschen Reiches hat im Reichstage erklärt, er wisse von Dreyfus' Spionage nichts. Ja, Teufel auch, wie sollte er, wenn er in Berlin sitzt, wissen, was in Paris geschieht? Daß aber Bülows einfältige Äußerung, die völlig nichtssagend ist, als ein Beweis genommen wird, das ist sublim! Ferner, wenn Sergeant Depert im Gefängnis Dreyfus erklären hörte: ›Ich bin schuldig, aber ich nicht allein,‹ so wird diese Aussage verworfen, weil der Gefängnisdirektor sie nicht gehört hat. Ist nur das wahr, was ein Gefängnisdirektor hört? Wer eine solche Verwerfung anerkennt, muß im Kopf nicht ganz richtig sein. Denkt euch: weil der Direktor es nicht gehört hat, darum ist es falsch. Ferner sagt man und beansprucht bindende Kraft für diese Äußerung: ›Dreyfus war nicht erfreut über die Revision! Aus Stolz nicht!‹ -- Könnt ihr diesen Stolz begreifen? -- Wenn er sich geweigert hätte, um Gnade zu bitten, dann wäre er stolz gewesen! Aber sich zu weigern, Gerechtigkeit zu empfangen?« Die Feuerung wurde verstärkt und die Hitze steigerte sich. Sellén wollte auch ein Scheit hineinwerfen: »Jawohl, Logik, jawohl! Weil Henry als Berufsspion ein Dokument gefälscht hat, schließt man, daß auch die nachweislich echten gefälscht sind. Ist das Logik? Im übrigen muß ich gestehen, daß ...« »Na, hört einmal, wenn wir so fortfahren,« unterbrach der Doktor, »so erklären wir Dreyfus für schuldig, und das war doch nicht die Absicht. Oder was meint Max?« »Ich kann nicht leugnen,« antwortete der Graf nachdenklich, »daß die Sache dunkel ist. Es wurde doch ein Dreyfusministerium mit Waldeck-Rousseau eingesetzt zu dem Zweck, Dreyfus zu befreien; dieses Ministerium ernennt einen Regierungskommissar namens Carrière, der nicht General war und der Dreyfus befreien wollte, weil er fest an seine Unschuld glaubte. Nachdem er die Generale und Zeugen in Rennes gehört hat, trotz Esterhazys Bordereau und Henrys Fälschung, bekehrt er sich im Laufe des Prozesses. Das ist sonderbar! Weiter hat man auf den Bordereau hingewiesen, ganz wie der Zauberkünstler nach der Decke deutet, während er etwas unter dem Tischtuch hervorholt. Der Bordereau ist als Beweis wertlos, ebenso wie Esterhazys Zeugenaussage; obwohl Sachverständige jetzt geschworen haben, der Bordereau weise keine Spur von Dreyfus' Handschrift auf, hat Dreyfus selbst die Ähnlichkeit zugegeben, indem er ausrief: ›Sie haben mir meine Handschrift gestohlen!‹ Wir sehen so viele Widersprüche, daß wir kaum das Recht haben, uns eine Ansicht zu bilden. Daß Dreyfus, der zu einem Engel gemacht wurde, keiner war, da er ein Mensch ist, das hat nichts zu sagen, aber Zola und Björnson hätten nicht auf seine Ehre schwören sollen. Dreyfus hat zehn Unwahrheiten ausgesprochen, auf denen er ertappt ist. Er leugnete zunächst, die Organisation der Ostbahn zu kennen! Er kannte sie! Er leugnete, den Konzentrationsplan zu kennen! Er kannte ihn! Er leugnete, auf General Ransons Konferenz anwesend gewesen zu sein! Er war anwesend! Er behauptete, Picquart nie gekannt zu haben! Er kannte ihn! Er sagte früher, er sei nie in Mülhausen gewesen! Jetzt gibt er zu, daß er jeden Sommer dort gewesen ist! Er behauptet, das Schießhandbuch nie gesehen zu haben! Er hat es gesehen! Er beteuerte, das Artilleriegewehr 120 nicht gekannt zu haben! Er hat es gekannt. Er bestritt, bei Bodsons ausländische Militärattachés getroffen zu haben. Er hatte sie getroffen! Björnson, dieser, dieser ... schwor auf Dreyfus' Sittlichkeit. Dreyfus gibt zu, als verheirateter Mann Geliebte gehabt zu haben, das gehe aber niemanden etwas an, da er die Mittel dazu besitze. Das mag sein, und das kümmert niemanden! Aber Björnsons Aussage! ~La vérité!~ Zola beschuldigte die Generale der Schurkerei! Dreyfus aber läßt den Generalen, da er besser von ihnen denkt, seinen Dank aussprechen! ~La vérité~, Zola! Aber es kommen noch andere unheimliche Details im Prozeß vor. Dreyfus ruft Major Curé zu Hilfe. Dieser kommt und sagt gegen ihn aus. Dreyfus vertraut auf Oberst Cordiers Dazwischentreten! Dieser hat nichts zu sagen. Doch weiter: Oberst Munier, der wichtige Telegramme zu überbringen hatte, starb im Zuge. Chaulain-Sauviniere starb im Zuge, Major d'Attel starb im Zuge. Und diese geheimnisvollen Todesfälle: Lemercier-Picard, Guenée, Reßmann und andere! Und jetzt ist Schneider in Wien gestorben, Scheurer-Kestner ist gestorben, der Chef des Generalstabs ist gestorben! Das geht nicht mit rechten Dingen zu, und dieser Lügnerkrieg weckt in einem fast die Sehnsucht nach Pulver und Blei. Aber in all dem scheint mir die göttliche Gerechtigkeit gesprochen und das Urteil gefällt zu haben. Dreyfus wurde in Rennes zu zehn Jahren verurteilt, weil er nicht verschwiegen gewesen war und dadurch sein neues Vaterland verraten hatte; aber er wurde mit Recht begnadigt auf Grund mildernder Umstände: seine berechtigten Gefühle für sein altes Vaterland, das Land seiner Kindheit. Henry mußte Hand an sich legen als Fälscher der Gerechtigkeit, Esterhazy wurde ehrlos und geächtet als Lügner; Felix Faure bekam eine Verwarnung, eine Sache zu drehen und zu wenden, die Generale eine Ermahnung, sich nicht aus Ungeduld und Kleinmütigkeit auf Fürsten und ihresgleichen zu verlassen. Und die Nation erfuhr, daß sie bereits so viele fremde Elemente in sich habe, daß sie nicht an Revanche denken dürfe, die ein Bruderkrieg werden könne; und als die Armee ihr Prestige verlor, hat sie mit einer neueren Aufgabe ein neues bekommen. Sie dient in diesem Augenblick im fernen Osten Schulter an Schulter mit den Deutschen, was sie nicht getan haben würde, wenn der ›Prozeß‹ nicht gewesen wäre! Frankreich ist geöffnet! ebenso wie China! Doch mit dem ›Prozeß‹ wurde auch die religiöse Frage aktuell, obwohl ich nicht begreife, was sie damit zu tun hat; aber sie tauchte auf, weil Dreyfus Jude war. Und jetzt sind Protestanten und Juden dabei, die Klöster zu öffnen und ein paar hunderttausend lebenslänglich Gefangene herauszuholen. Das ist ja ganz wie bei Krönungen oder bei dem Regierungsantritt eines neuen Königs; aber es ist auch ein Gegenstück zur Bartholomäusnacht, wenn auch ein sehr gesittetes; es sind ja nur Wohltaten als Lohn für Untaten; es ist reine christliche Liebe, obwohl der Wille wohl nicht gut ist; doch wir sehen ja oft, wie das Böse zum Guten dienen muß; und Dreyfus war kein untadeliger Mann, aber er hat gedient, wie wir alle!« »Ja,« nahm Doktor Borg wieder das Wort, »nach all unsern Zugeständnissen, die wohl zunächst der Oppositionslust entsprangen oder der Neugier, die Kehrseite der Sache zu sehen, finde ich es leichtsinnig, dies Schreiben an Zola abzuschicken, der allein glaubt, die Wahrheit gefunden zu haben. Einige Körner hat er gefunden, aber noch mehr Spreu, und etwas beschmutzt hat er sich den Rücken dabei. Wenn wir statt dessen ihm gratulierten als dem wiedergeborenen Gläubigen, dem an die Zukunft glaubenden Verfasser von ›Arbeit‹ und ›Paris‹; dem Sozialisten Emile Zola? Wollen wir das tun?« Alle außer dem alten Borg sagten ja; und dabei blieb es. Esther, die im Irrenhause Dienst hatte, entfernte sich, von Max begleitet. Sie gingen lange schweigend durch die Straßen, schließlich sagte Max: »Ist dir aufgefallen, daß er der antiken Statue ›Der Schleifer‹ ähnlich ist?« »Ja, da hast du recht; vor allem das Kinn, das bei den Ohren anfängt.« »Erinnerst du dich jetzt des Zyklons in Paris im Jahre 1896, der bei Saint Sulpice einsetzte, La Revanche ertränkte, den Justizpalast verwüstete und am Hospital Saint Louis endete, nachdem er zuvor die Sainte Chapelle Saint Louis erschüttert hatte? Glaubst du jetzt an symbolistische Zyklone?« »Was in Gottes Namen soll man glauben? Ich bekomme Angst!« »Aber ein anderer okkulter, das heißt noch unerklärlicher Umstand ist dieser: Bei der großen Revolution, am Tage vor der Erstürmung der Bastille, wurde der Tuileriengarten vom Royal Allemand gereinigt. Unter den Offizieren befanden sich ein Reinach und ein Esterhazy. Glaubst du an Zufälle?« »Nein! Aber der Zusammenhang?« »Weiß ich nicht! Der Zusammenhang wäre ja die Erklärung, und die finden wir nicht. Deshalb wird jede Erklärung lächerlich. Weiter aber: Baedeker, der doch kein okkultes Buch ist, berichtet ganz unschuldig: Als man 1869 die Königsgräber in Speyer plünderte, wurde das Manöver von einem angeführt, der Hinz hieß. Als die Königsgräber in Saint Denis 1789 geplündert wurden, hieß der Anführer auch Hinz.« »Was könnte das bedeuten?« »Weiß nicht!« »Sag einmal, hast du Dreyfus gekannt?« Da blieb Graf Max stehen und betrachtete Esther, als wolle er sehen, ob sie scherze: »Nein, ich habe ihn nicht gekannt ... aber wenn wir uns in vielen Jahren einmal unter vier Augen treffen und du dann noch ebenso interessiert bist wie jetzt, dann will ich dir eine Geschichte erzählen ... Ja, er war ein Mann der Vorsehung, aber ein leidender Christus war er nicht.« »Bist du Christ?« »Ja, ich bin ein christlicher Freidenker ... Und seltsam ist: als wir das Christentum geschleift haben, da ist soviel Weisheit und soviel Humanität mit verlorengegangen. Wir sind roher und dümmer geworden ... Will man jetzt einen feinen Menschen finden, muß man ihn unter den Pietisten suchen, wenn sie nur nicht von Jesus reden und nach deiner Seele fragen. Willst du einen Menschen sehen, der sich beherrscht, der Sprache und Gedanken pflegt, der human im Urteil, resigniert im Leid ist, stets die Blicke emporrichtet, alles vergeistigt, was er anrührt, der es vermeidet, anzustoßen und zu verletzen, der seinen Körper diszipliniert, dann sieh dir einen Pietisten an! Er strebt zum Übermenschen, allerdings mißlingt ihm das oft. Doch das Streben ist es, siehst du ... Wenn er nur nicht darüber reden möchte. Religion für den eigenen Gebrauch, innerlich, doch nicht ...« »Aber die Freude am Leben?« »Was ist das für eine Freude?« »Siehst du, da trennen sich unsere Wege.« »Wieso? Ich habe meine stille Freude auf meine Art, aber ... Du erinnerst mich an Chopins zweites Nocturno und unsere erste Begegnung bei den Mädchen, die in Freude lebten ... das war ihr Surrogat für ...« »Was ist deine größte Freude?« »Einen neuen Gedanken zu gebären! Dann bin ich Vater und Mutter zugleich und brauche die Ehre nicht mit einer Frau zu teilen, die mit meinem Kinde ihrer Wege geht und sagt, es sei ihrs ...« »Max, ist es dir ein Genuß, daß ich leide?« »Nein, ich leide unter dem Leid, das ich zufüge, aber ich höre an deiner Frage, daß es bei dir umgekehrt ist ...« »Wenn ich dich leiden sehe, liebe ich dich; es steht dir. Aber wenn du froh bist, hasse ich dich; du wirst banal, übermütig, laut. Im übrigen ist mir immer bange vor einem frohen Menschen; wer lacht, zeigt die Zähne und ist nicht weit vom Beißen ...« Sie verstummten beide, Esther, weil sie merkte, daß sie sich ins eigene Fleisch geschnitten hatte, Max, weil er sie nicht durch eine Enthüllung ihres Fehlhiebs verletzen wollte. * * * * * In den Gotischen Zimmern war man in lebhaftere Stimmung gekommen. Gustav Borg hatte einen Brief von seinem Sohn Anders aus Amerika, aus dem er Stücke vorlas: »Das Charakteristischste in dem neuen Leben hier in Amerika ist die allgemeine Beweglichkeit, Unstetigkeit. Man hat keine Ruhe; alles verändert sich so schnell; Wohlstand und Armut wechseln, so daß keine Klassen und Geschlechter sich bilden können; der Reiche ist arm gewesen und kann es wieder werden, das weiß er; der Arme ist reich gewesen und kann es auch wieder werden. Deshalb verstehen sie sich; sind vorsichtig und handeln mit Vorbedacht. -- -- Der Tag ist zu kurz, und man eilt zur Ruhe der Nacht als dem einzigen großen Genuß, der nichts kostet; und man erwacht zum Ernst der heiligen Arbeit, von deren gewissenhafter Ausführung die Existenz abhängt. Hier ist es eine Gnade, Arbeit zu bekommen, und man wird stündlich daran erinnert, daß man kein Recht an das Leben hat, sondern daß alles Gnade ist. -- -- Diese harte Schule zieht eine Generation groß, die furchtbar sein mag, wenn sie dereinst Schwärme aussenden wird. Ich blicke bereits auf Europa wie auf ein verblühtes Hellas: viel Schönes, aber geschwächt und wahrscheinlich erschöpft; philosophiert über das Leben, lebt es aber nicht ...« »Ja, der Junge hat recht,« unterbrach der Doktor, der seiner Gewohnheit getreu das Wort führen wollte. »Ihr wißt, daß die letzte Statistik seit 1890 250000 Auswanderer aus Schweden anführt; und die meisten zwischen 15 und 35 Jahren. Das Land wird schließlich von Kindern und alten Leuten bevölkert sein ...« »Ist es da ein Wunder, daß die Frauen heran mußten und arbeiten?« fiel Gustav Borg ein, der gern die Gelegenheit abpaßte. »Da hast du ein wahres Wort gesagt. Ja, in einem Staat von Kindern und Pensionierten müssen sie heran und arbeiten, da keine Männer da sind, von denen sie leben könnten ... Das ist ein neuer Gesichtspunkt! Wenn sie aber auch herrschen sollen, dann möge doch Asien über uns hereinbrechen und wir lieber von barbarischen Männern als von Damen der Gesellschaft, von Aspasien und Emanzipierten beherrscht werden.« -- -- »Jetzt brechen wir nach der Schanze auf,« kommandierte Gustav Borg. »Ja, gehen wir aufs Kapitol und danken wir den Göttern für das vergangene Jahrhundert, das mit Dreyfus endete und mit Napoleon begann, dessen Brüder zum mindesten zu den Kindern Israel zu gehören scheinen.« * * * * * Esther und Max waren zum Zoll hinausgekommen, wo im Halbdunkel das einsame Schloß, hinter dessen hohen Fenstern Licht brannte, sich weiß erhob. Max sprach wie für sich selbst: »Es gibt ein Wort, das unter Gebildeten außer Gebrauch gekommen ist, und man schämt sich, es auszusprechen; das ist das Wort Sünde. Man hat den Begriff Schuld wegphilosophiert, aber das Schuldgefühl ist noch vorhanden. Ich bin mit einem bösen Gewissen geboren und hatte als Kind Angst davor, entdeckt zu werden. Das kann man nur damit erklären, daß etwas Unbekanntes vorangegangen ist.« »Das sind krankhafte Empfindungen, und wir haben viele solche Fälle hier in der Anstalt,« erklärte Esther. »Wir haben zum Beispiel einen, der glaubt, den Bordereau geschrieben zu haben.« »Ja, was weißt du davon?« »Nein, höre, jetzt kann ich dir nicht länger folgen.« »Das weiß ich, und ich verlange es auch nicht. Du bist immer im Ton mit mir, aber mindestens eine Oktave tiefer. -- Aus nichts wird nichts, und alles hat einen hinreichenden Grund; wenn er also glaubt, der Schuldige zu sein, ist ein logischer Grund dafür da. Die Einbildungen haben eine höhere Wirklichkeit, deren Zusammenhang mit dem Wirklichen ich nicht verstehe, aber nicht zu leugnen wage. Die Wirklichkeit kann ja nicht in mein Inneres eindringen und wieder zum Ausdruck kommen, ohne es als Vorstellung oder Einbildung passiert zu haben. Die Wirklichkeit kennen wir also nur durch unsere Vorstellungen von ihr; deshalb variieren unsere Vorstellungen von einer aufgefaßten Wirklichkeit so unendlich. Übrigens kann eine Seele ohne das Zusammenwirken mit andern Seelen nicht existieren. Nun habe ich Anlaß zu glauben, daß alle Seelen miteinander in Beziehung stehen; und es gibt Menschen mit so empfindlichen Empfangsapparaten, daß sie mit der ganzen Menschheit fühlen und folglich mit ihr leiden. Aber es gibt auch Menschen, die aus der Ferne Einfluß auf andere ausüben, sogar auf Unbekannte; das weißt du.« »Ja, das stelle ich nicht in Abrede!« »Nun gut, woher weißt du, daß nicht ...« Graf Max hatte die Gewohnheit angenommen, Meinungen nicht ganz auszusprechen, weil er wußte, daß Esther sie vollendete oder seine Gedanken hörte, und er brach immer ab, wenn der unausgesprochene Gedanke etwas Unausgereiftes besser ausdrückte, als das banalisierende Wort es tun würde. »Ich wagte das Wort Sünde auszusprechen; ich glaube, alle Krankheiten sind die Folgen von Sünden. Die körperlichen Krankheiten werden ja auch analog den geistigen geheilt. Zunächst ist man zu den demütigenden Bekenntnissen vor dem Arzt genötigt (die Beichte). Dann wird man von ihm zur Buße verurteilt; bittere Kräuter, Fasten, strenge Disziplin, Entsagung; und oft wird einem vorgeschrieben, Gewohnheiten, Laster abzulegen, Gemütserregungen zu vermeiden, an freundliche Dinge zu denken. Wenn man dann geheilt ist, muß man zum Priester (zum Arzt) gehen, um zu danken und zu opfern. Und dann bekommt man den Rat: ›Hüten Sie sich jetzt vor Rückfällen; das heißt in der Übersetzung: Geh, aber sündige hinfort nicht mehr!‹ -- Ist das nicht dasselbe? -- Aber wie behandelt ihr die Gemütskranken hier drinnen, die Seelenkranken, denen Seelsorge not tut? Ja, ihr gebt ihren Körpern kaltes Wasser und Morphium! -- Erinnerst du dich, wie Hanne Joel in ihrem merkwürdigen Buche ›Jenseits‹ ihre Genesung schildert? Nachdem sie lange auf die Ärzte und ihre Umgebung geschimpft hatte, kam schließlich an einem Weihnachtsabend die Krisis: Sie brach in Tränen aus und rief: Ich bin dumm und hochmütig gewesen! Und damit war sie geheilt. Frau Schram war härter, aber sie beugte sich schließlich und wurde durch die Freundlichkeit einer Pflegerin gesund. So wenig kann bisweilen helfen -- ein gutes Wort! das man so selten hört! -- Dies Schloß ist kein Krankenhaus, es ist wohl ein Inferno oder eine Strafanstalt, und das schlimmste an der Strafe ist vielleicht, daß der Arzt den Kranken ›nicht versteht‹; unverstanden oder mißverstanden zu sein, das ist ja die Hölle.« »Wir haben doch auch Priester oder Seelsorger.« »Kann man nicht sagen, daß die meisten hier einen Widerwillen gegen Priester und Religion hegen? Sie sollen ja lästern und schmähen.« »Das ist verschieden, denn einige kommen gerade infolge religiöser Grübeleien hierher.« »Ja, sie wollen den Vorhang durchdringen, und dann sehen sie das Theater mit den umgekehrten Kulissen ... das ist die Strafe. Ihr habt doch den Dichter X. hier?« »Ja, der ist hier!« »Nun, der forderte den Herrn heraus und zitierte ihn auf den Walplatz in Hinnoms Tal! Wer hat gesiegt?« »Meinst du, das war es?« »Ja, was sollte es anders sein? Tabak- und Alkoholvergiftung ist doch leicht geheilt. Deliranten gehen selbst ins Krankenhaus und kommen in acht Tagen wieder heraus. Daß du einen Kausalzusammenhang, der so schlagend ist, nicht sehen kannst!« »Zwangsvorstellungen ...« »Ein neues Wort im Wörterbuch; aber die Sache und die Ursache? Wer ist der Zwingende? Wer zwingt den Mörder, an sein Verbrechen zu denken? Das Gewissen! Und hinter dem Gewissen? -- Der Dichter endete in einer religiösen Krisis ...« »Da siehst du, was Religion ist!« »Hüte dich! Hüte dich! Aber ich glaube nicht, daß man ein Recht hat, hier über die ärztliche Behandlung zu klagen. Der Kranke soll wohl durch die Verständnislosigkeit der Umgebenden vollständig isoliert werden; er soll allein mit seinem Gewissen seine Angelegenheiten abmachen; keine Möglichkeit haben, sich zu beklagen und ein falscher Märtyrer zu werden. Hast du nie Angst, wenn du hier bist?« »Nein, ich nicht, denn ich beobachte mich. Aber es gibt Kandidaten, die sich durch liederliches Leben in einen Schwächezustand versetzen, und die graulen sich, obwohl sie an nichts glauben als an die Physiologie. Man hat ja hier Professoren gesehen, die befallen wurden; und Wärter hatten wir mehrere ...« Sie betraten das Schloß. Abstrakt, streng, trübselig wie das Selbstmordzimmer im Hotel, das Zimmer, das man stets dem Gast gibt, der am unglücklichsten aussieht, das Zimmer mit drei Türen und einem Fenster; in dem das Bett vor der einen verschlossenen Tür steht, deren Schlüsselloch sich neben dem Kopfkissen befindet, und das Sofa, das extra so gemacht ist, daß man weder darauf sitzen noch liegen kann, vor der andern Tür; dies Zimmer mit Aussicht auf den Hof und unaufgeräumte Zimmer gerade gegenüber, dieses Zimmer, das für den Selbstmörder reserviert zu sein scheint. Graf Max fühlte sich beklommen; Esther aber, die zu spät kam, mußte sofort ihre Ronde machen, und der Freund ging mit ihr. Ein langer Korridor und eine Treppe hinunter; Feuerlöschapparate mit Schläuchen, die sich wie lange schwarze Schlangen an den weißen Wänden entlang schlängelten, Gasflammen gleich Schmetterlingen aus Feuer; schließlich ein vergittertes Fenster, vor dem sie stehenblieben. Mitten in einem Raume, der wie ein Stall aussah, stand ein alter Mann, völlig nackt auf dem Steinfußboden, und streckte die Arme empor wie ein antiker Adorant oder ein Säulenheiliger. »Warum ist er nackt?« fragte Max. »Weil er sich die Kleider auszieht und vierzig Grad Fieber hat; das hat er drei Jahre lang gehabt, und so steht er seit drei Jahren. Er glaubt in einer Schlangengrube zu sein.« »Dann ahne ich, wer es ist. Es ist der Mann, der Witwen und Waisen betrügerisch um ihren Besitz gebracht, sie ausgezogen hat, aber mit gesetzlichen Mitteln! Siehst du, daß es andere Gesetze gibt als die des Gerichts? Aber, Esther, warum glaubt er in der Schlangengrube zu sein? Er hat doch nicht den vierundzwanzigsten Gesang von Dantes Inferno gelesen, wo Diebe von Schlangen geplagt werden.« »Was du sagst! Dante hat er sicher nicht gelesen!« »Nun, wie meinst du, ist Dante darauf gekommen? Hat er es erfunden oder hat er einen Grund dafür gehabt? Gibt es in diesen Strafformen, die ihr Krankheiten nennt, etwas Objektives, Festes, das als Anhalt dienen kann? Ich sage ja, und mit gutem Grund ... Ich glaube auch, daß sich in den Religionen Andeutungen darüber finden ... Hättest du Swedenborg gelesen, so würdest du erkennen, daß seine Beschreibung der Höllen, die Gemütszustände, keine Orte sind, mit den Einbildungen zusammenfallen, mit denen du es hier zu tun hast. Es gibt also eine Konstante: suche sie, und du wirst die Lösung vieler Rätsel haben ... wenn du willst oder kannst!« Sie gingen weiter. Esther flatterte voran mit ihrem großen Pelerinenmantel und ihrem wirbelnden Haar, das in dem durchfallenden Licht der Gasflammen wie Gold leuchtete. Der Graf, schlank, dunkel, blaß, folgte. Wieder blieben sie vor einem Gitter stehen. Da drinnen saß ein junges Mädchen auf einem Stuhl und tat nichts. »Sprich mit ihr!« sagte der Graf. »Was machen Sie denn, Fräulein?« fragte Esther, nur um Max den Willen zu tun. »Ich leide,« antwortete das Mädchen, das von einer Schönheit war, bei der die Seele bis in die äußerste Haut drang. »Warum leiden Sie denn?« »Ich leide für die Missetaten meines Vaters; er hat keine Zeit, seine Strafe zu leiden, denn er muß für die Familie arbeiten. Und ich habe zu Gott gebetet, mich für ihn leiden zu lassen. Da ich unschuldig bin, sind meine Qualen größer, als die seinen wären, deshalb ist die Zeit verkürzt. Aber wehe ihm, wenn er undankbar ist oder sich nicht bessert, dann kommt es über ihn selbst! Das weiß er, und deshalb nimmt er sich in acht. Er weiß auch, daß ich ihm überall folge und ihn überwache. -- O es ist schwer, aber es nimmt ein Ende. -- In drei Jahren werde ich zu Weihnachten nach Hause kommen!« Sie gingen weiter. »Meinst du,« fragte Max, »daß dieser Engel nicht weiß, was er tut? Glaubst du, sie ist nicht bei Verstand? Mache dir die Mühe, in aller Heimlichkeit ihren Vater auszuforschen und zu erkunden, ob sie die Wahrheit spricht!« »Dazu haben wir keine Zeit!« »Du hast recht! -- Aber ist dir aufgefallen, wem sie ähnlich sieht?« »Ja, jetzt weiß ich, wen du meinst ...« »Nun? Wenn es seine Schwester ist, dann kennst du den Vater! -- Aber wohin führt diese Treppe?« »Zu den Allerschlimmsten! Da wohnen ...« »Ich weiß; das ist Swedenborgs Dreckhölle für die Wollüstigen ...« »Sagt Swedenborg das ...?« »Ja, stimmt es?« »Es stimmt! Jetzt fange ich an, mich zu fürchten!« »Höre zu! In Dantes Inferno ist von Dieben gesagt, daß sie in Ermangelung anderer Dinge einander das Aussehen stehlen. Erinnerst du dich des nie entschiedenen Prozesses des norrländischen Diebes, des kombinierten Mordes und des Traums der Frau von etwas in einem Eisenbahnkupee ... daran denke! Denke auch an die beiden geheimnisvollen Prozesse in Norrland und Östergotland, wo kein Verbrechen begangen zu sein schien, kein materielles wenigstens ... und doch soviel gelitten werden mußte ... außergerichtlich; ›schuldig und nicht schuldig‹ scheint das einzige Urteil zu sein ... Ja, wenn wir alle unsere Gedanken aussprechen sollten ... Rousseau war so unklug, das zu tun ... wie wir innen aussehen! Und unser inneres Leben tritt bisweilen ans Licht, verwirrt die Begriffe, macht klare Aussagen unglaubhaft, dann wird der Ankläger der Schuldige. Deshalb sollten wir erst das Trinkgefäß inwendig rein machen ... Was für eine schauerliche Maskerade ist das Leben! Ich kann nie in Gesellschaft gehen, denn ich höre Gedanken, lese Gesichter und bin so streng gegen mich selbst, daß ich meine heimlichen Gedanken strafe, die bisweilen ganz furchtbar sind, so daß ich mich nicht zu ihnen bekennen will ... In schlechter Gesellschaft kann ich bisweilen immun sein, gewissermaßen geschützt, bisweilen aber kommt ihre Bosheit über mich, und sie sprechen durch meinen Mund ... Dann haben sie den Eindruck, ich sei ein roher Mensch ...« Sie wanderten weiter und kamen schließlich an den großen Sitzungssaal, wo ein kleines Fest veranstaltet war. Max wollte nicht hineingehen, sondern blieb an der Tür stehen. »Dies erinnert mich an das Grauenvollste, was ich je gesehen habe. Es war ein sogenannter Wiener Ball für perverse Männer und Weiber in Berlin. Ich war mit dem Polizeikommissar und einem Arzt zusammen da. Stelle dir nur vor: ein junger Mann ist verliebt in einen Kerl von vierzig Jahren, mit rotem, grobem, häßlichem Gesicht, Schnurrbart und Kneifer, und macht ihm den Hof. Der sollte die Geliebte vorstellen. Wer hatte sein Gesicht geblendet? Was liegt dahinter? Es muß einen Grund geben! -- Nein, ich will nicht hineingehen! Ich habe Angst vor Irren; sie wirken wie Dämonen, denn sie sprechen sofort all meine Geheimnisse aus, sogar all meine ungeborenen Gedanken. Und da hast du die Gleichung des Irren: er lebt in einem stummen Unterbewußtsein, nimmt einen auf Vorschuß, ist so scharfsichtig, daß er boshaft erscheint. Er hört an unglaublichen Orten alles, was noch nicht lautbar geworden ist; er sieht Gedanken und Gefühle; seine seelischen Kräfte stehen in gewisser Weise über unsern gewöhnlichen, deshalb paßt er nicht in die Maskerade des Lebens hinein ... Ach, da ist ja der Dichter!« »Ja, er predigt jetzt Sittlichkeit gegen sich selbst!« »Und weiß nicht, daß die Schöne Helena mit seinen banalen Liedern die Runde macht?« »Nein, das weiß er nicht!« »Wenn er es erfährt, was wird dann geschehen? Seine Person scheint freilich bereits gespalten zu sein, aber wenn er mit seinem früheren Ich in Disharmonie kommen sollte, wird er die Dissonanz durch Kompromiß oder Kampf gegen sich selbst lösen? ... Weißt du ... diese Sittlichkeit, richtig aufgefaßt, hat mehr für als gegen sich. Mit der gewaltigen Schöpferkraft zu spielen ist ein Greuel, und er wird am schlimmsten und häufigsten in der Ehe betrieben, wo er ein Zeitvertreib geworden ist. Deshalb will ich aus sittlichen Gründen die Auflösung der Ehe. Im zweischläfrigen Bett verliert man seine Persönlichkeit, seine Selbstachtung, seinen Menschenwert. Da verkauft man seine Seele, lernt das Verschweigen, sich versöhnen nennt man das. Es ist das Grab, in das das Ebenbild Gottes gelegt wird, und aus dem das Tier aufersteht! Da wird die grenzenlose Verachtung seiner selbst, der Liebe, der Gattin und des Heims geboren! Ich hörte kürzlich, wie ein Mann, in dessen Küche sich die Bräutigams ablösten, nach dreijähriger Ehe endlich aufwachte und ausrief: ›Ich halte es nicht mehr aus, Bordellwirt zu sein.‹ Nein, jetzt gehen wir auf die Schanze. In einer Stunde ist Mitternacht!« * * * * * Die Gäste aus den Gotischen Zimmern gingen in kleinen Trupps durch die Nacht und plauderten; Alte und Junge, Väter und Söhne, Onkel und Neffen als gleichaltrige Kameraden; das war die Losung der Zeit: »Der Tod ist keine Entschuldigung, und das Alter hat keinen Rang. Die Vaterschaft läßt sich nicht beweisen, deshalb sind wir alle Brüder.« Der alte Gustav ging mit Isak an der Spitze: »Kannst du dir vorstellen, Anders schrieb auch einen Sermon über amerikanische Familienverhältnisse, aber das wollte ich den Jungen nicht vorlesen. Er sagt, das Heim löse sich auf und die Familien wohnten im Boardinghouse. Ich gebe zu, es ist eine Verschwendung mit unseren Familienhaushalten, und der Altar des Hauses ist eigentlich der Küchenherd. Essenkochen und Aufwaschen ist ja vom Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang im Gange. -- Und dann sagt er, Scheidungen seien ebenso üblich wie Hochzeiten, und es habe den Anschein, als sei das Leben durch diese Erneuerung der Persönlichkeit reicher geworden.« Isak, der solche Fragen nicht gern behandelte, lenkte ab und nahm ein anderes Thema auf: »Nobel ist ja jetzt gestorben und hat einiges hinterlassen; dreißig Millionen oder so.« »Dann bekommt ja die Akademie etwas Geld zur Verfügung; wenn es nur nicht ein Reptilfond wird, mit dem politische Gegner gekauft werden.« »Etwas Amtliches wird es sicher ...« Kurt und der Doktor im zweiten Gliede hatten eine Weibergeschichte vor. Kurt führte das Wort. »Da ist sie mit dem Kind ihrer Wege gegangen, um mir den Todesstreich zu versetzen; aber ich lief ihr nicht nach, sondern ließ sie sitzen, und das hatte sie nicht in Rechnung gezogen. Da sagte sie, ich sei kein Gentleman; und dann lief sie zum Rechtsanwalt und beantragte die Scheidung, weil ich ›sie nicht glücklich gemacht hätte‹. Weißt du, was das heißt, eine Frau glücklich machen?« »Ja, gewiß weiß ich das: wenn sie dich ruinieren, dich entehren, dich erniedrigen darf, dann hast du sie glücklich gemacht; und gelingt ihr das, ohne daß du klagst, dann bist du ein Gentleman!« Holger und Sellén im dritten Glied sprachen über die Zeitung: Sellén war mit den Rezensionen und den Persönlichkeiten nicht einverstanden. »Aber das Leben ist öffentlich geworden, ganz wie im alten Athen: Ephoren und Zensoren durchforschen das Privatleben des einzelnen; darein muß man sich finden, muß es zu seiner Erziehung nutzen; im übrigen, wenn alle das Persönlichkeitsprinzip predigen, sind die Persönlichkeiten einer Kritik ausgesetzt, die persönlich werden muß. Aber als Korrektiv hat sich das Interview eingestellt. Früher konnte man auf eine unwahre Anschuldigung nicht antworten; das Urteil der Zeitung war drakonisch. Jetzt darf der Geringste antworten und sich erklären. Das ist ein großer Fortschritt.« »Ja, aber wenn sie ungerecht sind ...« »Es gibt nichts Dümmeres, als ungerecht zu sein. Der Betroffene wird zum Märtyrer und erringt oft unverdiente Sympathien ... Hier im Lande ist es schwer für ein Talent, hochzukommen, denn man nimmt lieber eine Unfähigkeit, die Bein vom eigenen Bein ist, und kreiert sie; aber es geschieht oft, daß man durch den Neid anderer auf einen Konkurrenten vorwärts kommt, und das ist der gewöhnliche Weg ... Wollen sie einen Beneideten stürzen, müssen sie einen andern emporheben ... Doch Reklame ist das Schlimmste, worauf man bauen kann, und ich begreife nicht, warum die Leute annoncieren! Wenn ich eine große Annonce sehe, bekomme ich Angst und denke, es ist Schwindel! Nein, die mündliche Propaganda durch einen Käufer, der eine gute Ware bekommen hat, das ist der einzige Weg! -- Unser Freund Lundell, der Maler, hat sein ganzes Leben hindurch Reklame gemacht, ist aber nie etwas geworden, ist namenlos gestorben und jetzt nach einem Jahr vergessen!« Isak war in edelmütiger Stimmung und spielte aus Trümpfe und Stiche nacheinander. »Man mag sagen, was man will, aber ohne die Heilsarmee und die Guttempler wäre Schweden in Trunksucht verfallen. Angenehm sind sie ja nicht, indessen ...« »Als Vorschule für Amerika haben sie allerdings ihre Rolle gespielt, und für das Publikum ... Jedenfalls sind die größten Reformen in unserm sozialen Leben auf privatem Wege durchgeführt worden, ohne den Reichstag; die Regierung hat ja nie etwas anderes getan als gehemmt. Das Ritterhaus stürzen war keine Kunst, und der Adelsalmanach ist noch vorhanden, aber die Fräuleinreform des Abendblattes, die hat dem Adel den Todesstoß gegeben. Das war eine Guillotine. Auf dieselbe Weise haben die Guttempler die Nüchternheit geschaffen und die Pietisten die Staatskirche vernichtet, hat die Literatur die Sitten umgebildet, haben die Privatbanken das ökonomische Leben reformiert.« »Apropos Ökonomie! Weißt du, daß das beste Geschäft in Schweden die Lebensversicherung ist? Nicht weil die Leute an den Tod denken, sondern weil die Versicherungspolicen als Hypotheken für Darlehen benutzt werden, und da alle pumpen ... Aber der größte Gewinn resultiert aus den verfallenen Versicherungen; wie schwedisch das ist! Um zu zweihundert Kronen zu kommen, bezahlen sie sechshundert an Prämien, und dann lassen sie die Versicherung verfallen!« Der Doktor im zweiten Gliede war bei seinem Thema: »Eines Nachts kam sie aus dem Theater und wollte ein Butterbrot mit Kalbsbraten und Gurken haben. Der Braten fand sich, nachdem sie mich schimpfend geweckt hatte, aber als die Gurken fehlten, wurde sie böse und drehte die ganze elektrische Beleuchtung an, die bis zum Morgen mit voller Kraft brannte. Als ich ihr dann die Leviten las, sagte sie, ich sei kein Gentleman, und als ich ihr schließlich wenigstens bewies, daß ich ein Mann bin, lief sie zum Advokaten und sagte, ich machte sie nicht glücklich, ganz wie deine. Kann man als gesunder Mann mit einem wahnwitzigen Kinde zusammenleben? Kann man seinen Namen und seine Ehre seinem schlimmsten Feinde geben? Den Mann, den sie liebt, haßt sie! -- Brunst und Haß, das ist die Liebe der Frau! -- Der Mann liebt und sie haßt! -- Alles Schöne, das wir in ihr sehen, sind nur Projektionen auf ihr weißes Tuch, auf dem sich nichts befindet. -- Die Welt wird in Haß vergehen! Die Kinder werden in Haß geboren, in Haß erzogen! Es ist widerlich, in einer perversen Zeit zu leben, in der alles auf den Kopf gestellt ist. Sehen sie einen Mann mit einem männlichen Willen, so sagen sie, er ist ein Weib; sehen sie einen Alphons, der im Namen der Frau spricht und seinen Willen einer Frau unterstellt, so heißt es: Seht, das ist ein Mann! So muß ein Mann sein! Der Dichter Grönlund, der sich gegen Bezahlung prostituiert und ein Entretenu ist, das ist der Dichter der Frauen! Er schreibt gegen sein eigenes Geschlecht und verleumdet es ... Gynolatrie!« Sie hatten die Insel passiert und waren an die Floßbrücke gekommen. Jetzt tauchte plötzlich der Schanzenberg im Licht der Feuerzeichen auf, und der Feuerkranz von Bredablick hing in der Dunkelheit ... Sie blieben einen Augenblick schweigend stehen, dann wurde der Marsch fortgesetzt, und die sechsstimmige Fuge kam wieder in Gang. »Sellén und das Rote Zimmer haben 1870 die Schanze erfunden; das ist ja köstlich; bevor der Aussichtsturm da war; damals diente der Hügel als Motiv für Maler, auch als eine Art Luginsland ...« »Ich vergesse nie den Franzosen vom Geschwader, der mich zwei Tage lang mit seinem ›Es lebe die Akropolis‹ verfolgte, sogar bis in den Opernkeller.« * * * * * »Die Ursachen der Auswanderung? Sieh dir den Staatskalender und die Landsturmrolle an.« * * * * * »Jetzt ist alles in so raschem Fluß, und man kann eine Erklärung, die zehn Jahre alt ist, nicht benutzen, weil sie nicht mehr stimmt. Wo ist Panslawismus? Pangermanismus? Borussianismus? -- Nirgends! Wo ist der amerikanische Weizen geblieben, der Europa in Angst versetzte? Und die Reblaus? Tot, und Frankreich weiß nicht, wo es seinen Überfluß an neuem Wein absetzen soll.« »Alles scheint sich schließlich zurechtzuziehen, aber man kann das Eingreifen einer gewissen Vorsehung nicht leugnen. Damit Dreyfus frei werden konnte, mußte Bismarck sterben. Als er gestorben war, kam der Erlaß des Zaren, und damit war der Revanchegedanke erledigt, damit konnte China geöffnet und Dreyfus begnadigt werden, wodurch die Kampflust der französischen Armee beschnitten wurde ...« * * * * * »Man mag sagen, was man will, aber der deutsche Kaiser (der in Berlin) ist ein Mann; er ist der einzige Monarch, der seine gesetzlichen Rechte und seinen persönlichen Einfluß zu benutzen wagt. Sein Telegramm an die Transvaaler erforderte Mut!« »Konstitutionelle Monarchen, das ist doch nichts. Konnte nicht der Reichsmarschall den Reichstag eröffnen und die Bahnen einweihen? Die Orden könnte man ja streichen, dann brauchten sie nicht ausgeteilt zu werden.« * * * * * »Wenn man Mark Twains Gleichung geben wollte, wäre es die: Die Umwertung aller alten verfallenen Werte durch den Menschen der Gegenwart! Das Verflossene in elektrischer Beleuchtung gesehen; alte Kultur auf der Auktion, wo kein Respekt, keine Liebhaberwerte mehr mitsprechen, außer dem Zwangswert, den sie jetzt hat; sie muß zu jedem Preise realisiert werden ... zum ersten-, zum zweiten- und zum drittenmal! Bibliotheken müßten dann und wann verbrannt werden, sonst wird das Gepäck, das man mitzuschleppen hat, zu groß. Chinesen und Araber haben das durchgeführt, und Japan hat eine ganze Kultur auf einmal beiseite geworfen ... Japan, ja!« * * * * * »Man sagt, Holger habe im Gefängnis Dinge erlebt, über die er nicht sprechen will ... daß er aber seinen alten Glauben an den Affen und an den Mechanismus ohne Mechanikus verloren hat, ist sicher. So weit wie Max ist er noch nicht gekommen ...« »Ja, Max und Esther! Da darf man sich nicht einmischen; das muß geheim bleiben und respektiert werden. In das Seelenleben zweier Menschen darf und kann niemand mit rauhen Händen eingreifen ...« * * * * * »Warum wächst Stockholm nicht aufs Meer hinaus, sondern nach den Tümpeln zu? Wie kann man mit Bauplätzen auf dem Leibgedinge spekulieren, die nur auf Lebenszeit, die unbestimmt ist, Dispositionsrecht gewähren? Nein, ein Strandweg, eine lange Linie wie in Kopenhagen von der allgemeinen Gasse bis zum Blockhauszoll; die Industrie auf der Insel Sickla, die Flotte auf Vaxholm und für die Stadt Stockholm die Insel Liding ... hinaus ins Meer!« * * * * * »Pastor Alroth liegt im Krankenhaus, um aufgeschnitten zu werden. -- Es ist ein schauerlicher Tempel, in dem die Menschen von einer unbekannten Göttin geschlachtet werden, die den Blinddarm sehen will. Sie werden dahingebracht, um getötet zu werden, wie die Hunde zum Tierarzt!« »Apropos Hunde! Es ist doch schändlich, daß sechstausend Hunde in Stockholm den Kindern Brot und Milch wegnehmen ... Und die Hauswirte, die ihre feinen Wohnungen an Tiere und ähnliches vermieten ... ist das gesetzlich? Es steht doch im Kontrakt, man soll ein stilles und ruhiges Leben führen ... Die Tiere haben jetzt größere Rechte als der Mensch, dann ist der Mensch reif! -- Streikten die Dienstboten und weigerten sie sich, frierend auf der Straße zu stehen, wenn die Hunde sich und andere soulagieren, dann würden wir bald eine zivilisierte Gesellschaft haben. -- Wenn man sich vorstellt: man läßt einen Dienstboten vor der Haustür stehen und sich schämen! Pfui, was für Menschen ... Barmherzigkeit gegen das Tier! Aber zunächst gegen den Menschen!« * * * * * Die Fuge fugierte sich den Schanzenberg hinauf. »Akropolis, der Heilige Berg, das Kapitol!« »Weltbürger bedeutet nicht, daß der Norweger von Blasieholm aus Schweden regieren soll; nein, nationale und kommunale Selbstverwaltung bei allen Föderativstaaten!« »Selbst Talmud verflucht den Mann, der seinen Willen seiner Frau unterwirft.« »So, da fangen die Hunde an zu kläffen, weil sie den Gesang vom Turm hören; nichts kann ohne Hunde vor sich gehen. Da lobe ich mir die Türken ... und die Japaner! Bei ihnen ist das unreine Tier unrein ... aber bei uns ... jeder Hundebesitzer ist ein ~cynêde~ ... schlagt das Wort bei Lombroso nach ...« »Seht, da in dem Hause steht Grönlund, der Anführer der Teufelsanbeter ... jawohl alle, die Karl XII. anbeten, sind Teufelsanbeter, und alle, die Gustav Adolf anbeten, müßten auch Swedenborgs ~Diarium Spirituale~ lesen ...« * * * * * »Die Mitternacht kommt von Osten her,« sagte Max; »in diesem Augenblick steht sie über der Ostsee und hat das neue Jahrhundert in ihrem Arm.« Sie standen vor dem Swedenborgpavillon, und Esther glaubte etwas über den großen Schweden sagen zu müssen, der jetzt aus hundertjähriger Vergessenheit und unverdienter Geringschätzung emporgestiegen war. »Du glaubst doch nicht, daß Swedenborg mit andern Welten in Verbindung stand; man kann nicht in Verbindung mit andern Welten stehen, die es nicht gibt.« »Gibt es sie nicht? Blicke zum Himmel auf und zu den Sternen! Siehst du jetzt nicht andere Welten?« »Doch, aber ...« »Siehst du da nicht Capella, den großen, weißen Stern?« »Nun?« »Da du ihn siehst, so ist dein Auge durch das von ihm ausstrahlende Licht getroffen, und du stehst in einer Art Verbindung mit ihm, da du etwas von ihm bekommen hast.« »Ja, einen Lichtstrahl ...« »Jawohl, einen Lichtstrahl, den du aufnimmst. Nun weißt du doch, daß man auf einem Lichtstrahl eine Tonwelle senden kann?« »Nein, das weiß ich nicht.« »Kennst du Bells Photophon nicht, durch das man mittels eines Lichtstrahls fernsprechen kann? Nun, das gibt es, wenn du es auch nicht kennst. Jedenfalls kannst du auf dem Lichtstrahl der Capella eine Tonwelle aussenden. Nun weißt du, daß eine Tonwelle einen Gedanken fortzupflanzen vermag; du schickst mir ja jeden Tag einen Gedanken durchs Telephon. Stimmt meine Beweisführung?« »Ja ...« »Also der Schlußsatz: Andere Welten existieren, weil du sie siehst, und du könntest auf einer Lichtwelle durch eine Tonwelle einen Gedanken aussenden und umgekehrt auf dem gleichen Wege von dem gleichen Ort einen Gedanken empfangen.« »Die Beweisführung ist richtig ...« »Dann sind wir einig, und Swedenborg kann mit andern Welten in Verbindung gestanden haben.« »Das fasse ich nicht ...« »Soll ich die Beweise noch einmal wiederholen? Nein, das willst du nicht! -- Jedenfalls hat Holger im Gefängnis eine Menge Erlebnisse gehabt, die er nicht erklären konnte, die ihn aber beunruhigt haben. Solange wir etwas nicht erklären können, nennen wir es Mystik. Nun hatte er Swedenborg nie gelesen; als er aber wieder herauskam, geschah ihm das Folgende, das du kontrollieren kannst, wenn du willst. Nach seiner Befreiung lebte er in Grübeleien und glaubte natürlich auf dem Wege zum Wahnsinn zu sein. Da kommt eines Tages auf die Redaktion ein armer Jugendfreund und will Swedenborgs Arcana Coelestia, die schwedische Ausgabe verkaufen, besaß aber nur Teil 6, 7 und 8. Um ihm zu helfen, kaufte Holger sie, ohne die Absicht, sie zu lesen. Als er jedoch, nachdem er allein geblieben war, darin blätterte, fand er in dem Buche -- seine Erlebnisse im Gefängnis, und die Erklärungen dafür stimmten. Da wurde er nachdenklich, versuchte Geister zu beschwören mit den Formeln Hypnotismus, Suggestion, Zwangsvorstellungen und andern. Jedenfalls war auf seine Vergangenheit und seine Gegenwart ein neues Licht gefallen. Vierzehn Tage später war er in Upsala und ging zum Antiquar, um das Gesetzbuch von 1734 zu kaufen. Er muß selbst in den Regalen suchen und findet nun Teil 1, 2 und 3 der Arcana; aber natürlich nicht die gleiche Ausgabe wie die seine. Als er nach Stockholm zurückkam, wollte er sofort das ganze Werk kaufen, doch es war nirgends zu haben. Er wollte eben von dem letzten Antiquar fortgehen, da fällt ihm ein, zu fragen: Aber Sie haben vielleicht einzelne Bände? -- Ja, die hatte er; und gerade Teil 4 und 5, die fehlten; und wieder eine andere Ausgabe als die seine. Wenn du das als Zufall hinstellen willst, so kannst du auch Lotterie spielen und voraussagen, ob du gewinnen wirst oder nicht. Dennoch ist er nicht Spiritist und hat keine Visionen -- aber er nimmt wahr, er bekommt Eindrücke, Warnungen, ganz wie der nüchterne Sokrates von seinem Daimon. Seine Person scheint mir unter der höchsten Temperatur des Leidens in einer Retorte sublimiert zu sein; er hat sich gespalten in einen Alltagsmenschen, der unten in der Materie lebt, und einen Feiertagsmenschen, den er nach gut verrichteter Pflicht ausschlüpfen läßt.« »Hast du Swedenborg gelesen?« fragte Esther, die sich bei diesem Gespräch nicht wohl fühlte. »Ja, ich habe ihn gelesen, und ich glaube, kein Mensch hat so viele Geheimnisse ergründet wie er ... Es ist kein Zufall, daß sein Haus hier auf dem Berge steht, gerade jetzt, wo er gebraucht wird ... Höre an dem Namen Sweden borg, was er für unser Schweden bedeutet. Ich möchte ihn da in der Türöffnung sitzen sehen wie Abraham, als er im Haine Mamre Besuch von dem Herrn bekam ... Er kehrt wieder, aber um zu erlösen und Gericht zu halten; um zu befreien, nämlich den Geist; um zu binden, nämlich das Tier! Ich habe nicht recht begriffen, warum all diese Tiere mit ihrer Unreinlichkeit hier auf dem Berge eingesperrt gehalten werden, aber das hat vielleicht den Grund, daß wir den Unterschied zwischen ihnen und uns sehen, daß wir durch Vergleich den Menschen entdecken sollen! Jetzt ist die Mitternacht da, und ich höre das Jahrhundert kommen, von Osten her; jetzt steht es über Värtan, es läutet in Vaxholm ... Birgt es Frieden unter seinen Schwingen, Frieden durch Kampf? Die Menschen wollen keinen Frieden! Heute werden im Haag von sechsundzwanzig Staaten die Verhandlungen des Friedenskongresses unterzeichnet! Aber niemand glaubt an den Frieden; alle rüsten! ... Wenn du gut von den Menschen sprichst, lachen sie dich aus; sie kennen sich, wir kennen uns; sprichst du aber schlecht von ihnen, von uns, dann werden sie böse. Etwas schlechter als ihr Ruf und etwas besser sind die Menschenkinder!« * * * * * Jetzt läutete es von den beiden Glockentürmen, und von der Stadt erhob es sich wie eine Wolkensäule von hallendem Geläut, so daß der Berg bebte. Es ging ein Erschauern durch die Volksmassen, die verstummten und den Kopf entblößten, ohne daran zu denken, wem sie huldigten. Die Tiere in Käfigen und Grotten krochen hinein und versteckten sich, erschrocken wie Heiden beim Klang der geweihten Glocken; es ging ein Rauschen durch die Kiefern, das das Rauschen des Nachtwindes sein konnte, aber auch das Rauschen des durch die Bronze erschütterten Luftmeeres. Das große Te Deum von der Stadt stieg und stieg, und man sah die spitzen Kirchtürme sich wie Blitzableiter erheben, um die Blitze des Zorns abzuleiten. Der Sternenhimmel aber lächelte sanft, freundlich, nachsichtig. Und dann verstummten die Glocken der Türme auf dem Berge, auch die der Stadt, eine nach der andern. »Glaubst du, daß man dies droben gehört hat?« fragte Esther. »Ja, so wahr meine Seele lebt, das hat man gehört!« antwortete Max. Nach kurzem Schweigen nahm er wieder das Wort: »Nun, was hältst du von dem neuen Jahrhundert, das angefangen hat?« »Es ist dem alten gleich!« »Ziemlich gleich! Aber doch ein anderes!« »Wandern wir? Zusammen?« »Eine Strecke!« »Aufwärts?« »Vorwärts!« »Aber nicht mehr abwärts!« _Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig._ Weitere Anmerkungen zur Transkription Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Darstellung der Ellipsen wurde vereinheitlicht. End of Project Gutenberg's Die Gotischen Zimmer, by August Strindberg *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 61753 ***