The Project Gutenberg EBook of In Stahlgewittern, by Ernst Jünger This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org/license Title: In Stahlgewittern Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers Author: Ernst Jünger Release Date: October 19, 2010 [EBook #34099] [Last updated. February 5, 2014] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK IN STAHLGEWITTERN *** Produced by Jens Sadowski
Von
Ernst Jünger
Kriegsfreiwilliger, dann Leutnant und Kompagnieführer
im Füs. Regt. Prinz Albrecht v. Preußen (Hann. Nr. 73)
Leutnant im Reichswehr-Regiment Nr. 16 (Hannover)
Dritte Auflage
6.—8. Tausend
Mit dem Bilde des Verfassers
Berlin 1922 / Verlag von E. S. Mittler & Sohn
Zur Erinnerung an meine gefallenen
Kameraden.
Herrn Hermann Stegemann
in Verehrung gewidmet
Alle Rechte aus dem Gesetze vom 19. Juni 1901
sowie das Übersetzungsrecht sind vorbehalten
Noch wuchtet der Schatten des Ungeheuren über uns. Der gewaltigste der Kriege ist uns noch zu nahe, als daß wir ihn ganz überblicken, geschweige denn seinen Geist sichtbar auskristallisieren können. Eins hebt sich indes immer klarer aus der Flut der Erscheinungen: Die überragende Bedeutung der Materie. Der Krieg gipfelte in der Materialschlacht; Maschinen, Eisen und Sprengstoff waren seine Faktoren. Selbst der Mensch wurde als Material gewertet. Die Verbände wurden wieder und wieder an den Brennpunkten der Front zur Schlacke zerglüht, zurückgezogen und einem schematischen Gesundungsprozeß unterworfen. „Die Division ist reif für den Großkampf.“
Das Bild des Krieges war nüchtern, grau und rot seine Farben; das Schlachtfeld eine Wüste den Irrsinns, in der sich das Leben kümmerlich unter Tage fristete. Nachts wälzten sich müde Kolonnen auf zermahlenen Straßen dem brandigen Horizont entgegen. „Licht aus!“ Ruinen und Kreuze säumten den Weg. Kein Lied erscholl, nur leise Kommandoworte und Flüche unterbrachen das Knirschen der Riemen, das Klappern von Gewehr und Schanzzeug. Verschwommene Schatten tauchten aus den Rändern zerstampfter Dörfer in endlose Laufgräben.
Nicht wie früher umrauschte Regimentsmusik ins Gefecht ziehende Kompagnien. Das wäre Hohn gewesen. Keine Fahnen schwammen wie einst im Pulverdampf über zerhackten Karrees, das Morgenrot leuchtete keinem fröhlichen Reitertage, nicht ritterlichem Fechten und Sterben. Selten umwand der Lorbeer die Stirn des Würdigen.
Und doch hat auch dieser Krieg seine Männer und seine Romantik gehabt! Helden, wenn das Wort nicht wohlfeil geworden wäre. Draufgänger, unbekannte, eherne Gesellen, denen es nicht vergönnt war, vor aller Augen sich an der eigenen Kühnheit zu berauschen. Einsam standen sie im Gewitter der Schlacht, wenn der Tod als roter Ritter mit Flammenhufen durch wallende Nebel galoppierte. Ihr Horizont war der Rand eines Trichters, ihre Stütze das Gefühl der Pflicht, der Ehre und des inneren Wertes. Sie waren Überwinder der Furcht; selten ward ihnen die Erlösung, dem Feinde in die Augen blicken zu können, nachdem alles Schreckliche sich zum letzten Gipfel getürmt und ihnen die Welt in blutrote Schleier gehüllt hatte. Dann ragten sie empor zu brutaler Größe, geschmeidige Tiger der Gräben, Meister des Sprengstoffs. Dann wüteten ihre Urtriebe mit kompliziertesten Mitteln der Vernichtung.
Doch auch wenn die Mühle des Krieges ruhiger lief, waren sie bewundernswert. Ihre Tage verbrachten sie in den Eingeweiden der Erde, vom Schimmel umwest, gefoltert vom ewigen Uhrwerk fallender Tropfen. Wenn die Sonne hinter gezackten Schattenrissen von Ruinen versankt, entklirrten sie dem Pesthauch schwarzer Höhlen, nahmen ihre Wühlarbeit wieder auf oder standen, eiserne Pfeiler, nächtelang hinter den Wällen der Gräben und starrten in das kalte Silber zischender Leuchtkugeln. Oder sie schlichen als Jäger über klickenden Draht in die Öde des Niemandslandes. Oft zerrissen jähe Blitze das Dunkel, Schüsse knallten und ein Schrei verwehte ins Unbekannte. So arbeiteten und kämpften sie, schlecht verpflegt und bekleidet, als geduldige, eisenbeladene Tagelöhner des Todes.
Manchmal kamen sie zurück, standen verträumt auf den Asphaltmeeren der Städte und schauten ungläubig auf das Leben, das strudelnd in seinen gewohnten Bahnen floß. Dann stürzten sie sich hinein, um keine Minute der kurzen Tage ungenützt verfließen zu lassen, tranken und küßten. Mit der ihnen Lebensform gewordenen Rücksichtslosigkeit schwangen sie in tollen Nächten den Becher, bis ihnen die Welt versank. Da ließ man die gefallenen Freunde leben und schierte sich den Teufel um den nächsten Tag. Und dann ging es wieder auf den gewohnten Straßen der Brandung zu.
Das war der deutsche Infanterist im Kriege. Gleichviel wofür er kämpfte, sein Kampf war übermenschlich. Die Söhne waren über ihr Volk hinausgewachsen. Mit bitterem Lächeln lasen sie das triviale Zeitungsgewäsch, die ausgelaugten Worte von Helden und Heldentod. Sie wollten nicht diesen Dank, sie wollten Verständnis. Kein Dank kann groß genug sein. Ein Bild: der höchste Alpengipfel, ausgehauen zu einem Gesicht unter wuchtendem Stahlhelm, das still und ernst über die Lande schaut, den deutschen Rhein hinunter aufs freie Meer. — Einst wird kommen der Tag . . .
* *
*
Der Zweck dieses Buches ist, dem Leser sachlich zu schildern, was ein Infanterist als Schütze und Führer während des großen Krieges inmitten eines berühmten Regimentes[1] erlebt, und was er sich dabei gedacht hat. Es ist entstanden aus dem in Form gebrachten Inhalt meiner Kriegstagebücher. Ich habe mich bemüht, meine Impressionen möglichst unmittelbar zu Papier zu bringen, weil ich merkte, wie rasch sich die Eindrücke verwischen und wie sie schon nach wenigen Tagen eine andere Färbung annehmen. Es erforderte Energie, diesen Stapel von Notizbüchern zu füllen, in den kurzen Pausen des Geschehens, nach dem Tagewerk der Front, beim trüben Licht einer Kerze, auf den Treppen schmaler Stollenhälse, in zeltverhangenem Trichter oder feuchten Kellern von Ruinen; indes es hat sich gelohnt. Ich habe mir die Frische der Erlebnisse gewahrt. Der Mensch neigt zur Idealisierung des Geleisteten, zur Vertuschung des Häßlichen, Kleinlichen und Alltäglichen. Unmerklich stempelt er sich zum „Helden“.
Ich bin kein Kriegsberichterstatter, ich lege keine Helden-Kollektion vor. Ich will nicht beschreiben, wie es hätte sein können, sondern wie es war.
Iliacos muros peccatur intra et extra. Der Grad der Sachlichkeit eines solchen Buches ist der Maßstab seines inneren Wertes. Der Krieg setzt sich wie alle menschlichen Handlungen aus Gut und Böse zusammen. Nur treten hier, wo sich die Kraft von Völkern aufs Höchste steigert, die Gegensätze noch greller hervor als sonst. Neben gipfelnden Werten gähnen dunkelste Abgründe. Da, wo ein Mensch die beinah göttliche Stufe der Vollkommenheit erreicht, die selbstlose Hingabe an ein Ideal bis zum Opfertode, findet sich ein anderer, der dem kaum Erkalteten gierig die Taschen durchwühlt. Von großen Worten Berauschte brechen im Moment der Gefahr elend zusammen. Männer, deren Gesinnung wie ein Fels schien, stellen sich in entscheidender Stunde „auf den Boden der Tatsachen“, ohne den Degen zu ziehen, der sonst so schallend gerasselt. Andere durchschwelgen die Nächte, in denen fernes Rot am Himmel glutet und leises Dröhnen mahnend an die Fenster schlägt.
Das muß gesagt werden. Um so glänzender hebt sich aus diesem dunkeln Hintergrunde der wahre Mann, der unscheinbare, echte, vom Geist getriebene Krieger, der seine Pflicht tat, am letzten Tage wie am ersten. Was war dagegen der Rausch von 1914? Eine Massensuggestion! Und doch, wie viele habe ich kennengelernt, die unter dem grauen Tuch ein Herz von Gold und einen Willen von Stahl bargen, eine Auslese der Tüchtigsten, die sich dem Tode in die Arme warf — mit stets gleichbleibender Freudigkeit. Ob ihr gefallen seid auf freiem Felde, das arme, von Blut und Schmutz entstellte Gesicht dem Feinde zu, überrascht in dunklen Höhlen oder versunken im Schlamm endloser Ebenen, einsame, kreuzlose Schläfer; das ist mir Evangelium: Ihr seid nicht umsonst gefallen. Wenn auch vielleicht das Ziel ein anderes, größeres ist, als ihr erträumtet. Der Krieg ist der Vater aller Dinge. Kameraden, euer Wert ist unvergänglich, Euer Denkmal tief in den Herzen eurer Brüder, die mit Euch standen, vom flammenden Ringe umschlossen. Legten wir nicht weiße Bänder auf eure Wunden und sahen in eure brechenden Augen, als euch der Vorhang der Ewigkeit hochrauschte?
Möge dies Buch dazu beitragen, eine Ahnung zu geben von dem, was ihr geleistet. Wir haben viel, vielleicht alles, auch die Ehre verloren. Eins bleibt uns: die ehrenvolle Erinnerung an euch, an die herrlichste Armee, die je die Waffen trug und an den gewaltigsten Kampf, der je gefochten wurde. Sie hochzuhalten inmitten dieser Zeit weichlichen Gewinsels, der moralischen Verkümmerung und des Renegatentums ist stolzeste Pflicht eines jeden, der nicht nur mit Gewehr und Handgranate, sondern auch mit lebendigem Herzen für Deutschlands Größe kämpfte.
[1] Das Stammregiment des Füsilier-Regiments Nr. 73, das vormals Königlich Hannoversche Garderegiment, verteidigte von 1779 bis 1783 fast vier Jahre lang unter General Elliot Gibraltar siegreich gegen die Spanier und Franzosen. Zur Erinnerung an diese ruhmvolle Waffentat trägt unser Regiment am Ärmel des Waffenrocks ein blaues Band mit der Aufschrift „Gibraltar“. Dasselbe Zeichen wird jetzt von der 5. Kompagnie des Reichswehr-Regiments Nr. 16 (Hannover) weitergetragen.
Schneller als gedacht, wurde eine zweite Auflage Bedürfnis. Aus Zuschriften und Gesprächen ersah ich, daß der Zweck des Buches erreicht, der Geist der Leute am Feind getroffen war. Wer sollte ihn auch besser treffen als einer, der vier Jahre lang in allen Löchern und Höhlen der Westfront in ihrem Kreise hockte?
Dies Interesse für das Geschehen einer Zeit, die uns zu Boden hagelte, ist von Bedeutung. Das Volk im ganzen hat nicht den Willen, das zu verleugnen, wofür Unzählige fielen. Der Krieg ist eine Sache, an der alle beteiligt sind. Sind zur Stunde noch die Nerven erschüttert vom Grauenhaften seiner äußeren Gestaltung, so wird er späteren Generationen vielleicht erscheinen wie manche Kreuzigungsbilder alter Meister: Als großer Gedanke, der Nacht und Blut überstrahlt. Dann wird man wohl auch mit Rührung an uns zurückdenken, an uns und die Hoffnungen und Gefühle, die unsere Brust durchzuckten, als wir im Dunkel durch brüllende Wüsten irrten.
Oder sollten Strömungen unserer Zeit dann schon so reißend geworden sein, daß niemand mehr versteht, wie wir das Leben geringer achten konnten als unsere Idee?
Ich kann es nicht glauben.
Berlin, im Juli 1921.
Von Bazancourt bis Hattonchâtel
Der Auftakt zur Somme-Offensive
Der Zug hielt in Bazancourt, einem Städtchen der Champagne. Wir stiegen aus. Mit ungläubiger Ehrfurcht lauschten wir dem langsamen Takte des Walzwerkes der Front, einer Melodie, die uns in langen Jahren Gewohnheit werden sollte. Ganz weit zerfloß der weiße Ball eines Schrapnells im grauen Dezemberhimmel. Der Atem des Kampfes wehte herüber und ließ uns seltsam erschauern. Ahnten wir, daß fast alle von uns verschlungen werden sollten an Tagen, in denen das dunkle Murren dahinten aufbrandete zu unaufhörlich rollendem Donner? Der eine früher, der andere später?
Wir hatten Hörsäle, Schulbänke und Werktische verlassen und waren in den kurzen Ausbildungswochen zusammengeschmolzen zu einem großen, begeisterten Körper, Träger des deutschen Idealismus der nachsiebziger Jahre. Aufgewachsen im Geiste einer materialistischen Zeit, wob in uns allen die Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach dem großen Erleben. Da hatte uns der Krieg gepackt wie ein Rausch. In einem Regen von Blumen waren wir hinausgezogen in trunkener Morituri-Stimmung. Der Krieg mußte es uns ja bringen, das Große, Starke, Feierliche. Er schien uns männliche Tat, ein fröhliches Schützengefecht auf blumigen, blutbetauten Wiesen. Kein schönrer Tod ist auf der Welt . . . . Ach, nur nicht zu Haus bleiben, nur mitmachen dürfen!
„In Gruppenkolonne antreten!“ Die erhitzte Phantasie beruhigte sich beim Marsche durch den schweren Lehmboden der Champagne. Tornister, Patronen und Gewehr drückten wie Blei. „Kurztreten. Aufbleiben dahinten!“
Ach, zu des Geistes Flügeln wird so bald
Kein körperlicher Flügel sich gesellen!
Endlich erreichten wir das Dorf Orainville, den Ruheort des Füsilier-Regiments 73, eins der typischen Nester jener Gegend, gebildet durch 50 Häuschen aus Ziegel- oder Kreidesteinen um einen parkumschlossenen Herrensitz.
Das Treiben auf der Dorfstraße bot den kulturgewohnten Augen einen fremden Anblick. Man sah nur wenige scheue und zerlumpte Zivilisten; überall Soldaten in abgetragenen, zerschlissenen Röcken mit wettergegerbten, meist von großen Bärten umrahmten Gesichtern, die langsamen Schrittes dahinschlenderten oder in kleinen Gruppen vor den Türen der Häuser standen und uns Neulinge mit Scherzrufen empfingen. Irgendwo stand eine nach Erbsensuppe duftende Feldküche, von kochgeschirrklappernden Essenholern umringt. Die wallensteinsche Romantik wurde durch den beginnenden Verfall des Dorfes noch gesteigert.
Nachdem wir die erste Nacht in einer gewaltigen Scheune verbracht hatten, wurden wir im Hofe des Schlosses vom Regimentsadjutanten, dem damaligen Oberleutnant v. Brixen, eingeteilt und ich der 9. Kompagnie überwiesen.
Unser erster Kriegstag sollte nicht vorübergehen, ohne uns einen entscheidenden Eindruck zu hinterlassen: Wir saßen in der uns als Quartier angewiesenen Schule und frühstückten. Plötzlich dröhnte eine Reihe dumpfer Erschütterungen in der Nähe, während aus allen Häusern Soldaten dem Dorfeingang zustürzten. Wir befolgten dies Beispiel, ohne recht zu wissen warum. Wieder ertönte ein eigenartiges, nie gehörtes Flattern und Rauschen über uns und ertrank in polterndem Krachen. Ich wunderte mich, daß die Leute um mich sich zusammenduckten wie unter furchtbarer Drohung.
Gleich darauf erschienen schwarze Gruppen auf der menschenleeren Dorfstraße, in Zeltbahnen oder auf den verschränkten Händen schwarze Bündel schleppend. Mit einem merkwürdig beklommenen Gefühl der Unwirklichkeit starrte ich auf eine blutüberströmte Gestalt mit lose am Körper herabhängendem Bein, die unaufhörlich ein heiseres „Zu Hilfe!“ hervorstieß und in ein Haus getragen wurde, von dessen Eingang die Rote-Kreuz-Flagge herabwehte. — Was war das nur? Der Krieg hatte seine Krallen gezeigt und die gemütliche Maske abgeworfen. Das war so rätselhaft, so unpersönlich. Kaum, daß man dabei an den Feind dachte, dieses geheimnisvolle, tückische Wesen irgendwo dahinten. Das völlig außerhalb der Erfahrung liegende Ereignis machte einen so starken Eindruck, daß es Mühe kostete, die Zusammenhänge zu begreifen. Es war wie eine gespenstische Erscheinung am hellen Mittag.
Eine Granate war oben am Portal des Schlosses krepiert und hatte eine Wolke von Steinen und Sprengstücken in den Eingang geschleudert, gerade, als die durch die ersten Schüsse aufgeschreckten Insassen aus dem Torweg strömten. Sie erschlug 13 Opfer, darunter den Musikmeister Gebhard, eine mir von den hannoverschen Promenaden-Konzerten her wohlbekannte Erscheinung. Ein angebundenes Pferd witterte die Gefahr eher als die Menschen, riß sich wenige Sekunden vorher los und galoppierte, ohne verletzt zu werden, in den Schloßhof.
Im Gespräch mit meinen Kameraden merkte ich, daß dieser Zwischenfall manchem die Kriegsbegeisterung sehr gedämpft hatte. Daß er auch auf mich stark gewirkt hatte, ersah ich aus zahlreichen Gehörstäuschungen, die mir das Rollen jedes vorüberfahrenden Wagens in das fatale Geräusch der Unglücks-Granate verwandelten.
Am Abend desselben Tages kam der lang ersehnte Augenblick, in dem wir, schwer bepackt, zur Kampfstellung aufbrachen. Durch die aus phantastischem Halbdunkel ragenden Ruinen des Dorfes Betricourt führte unser Weg nach einem einsamen, in Tannenwaldungen versteckten Forsthause, der sogenannten „Fasanerie“, wo die Regiments-Reserve lag, der bis zu dieser Nacht auch die dort liegende 9. Kompagnie angehörte. Ihr Führer war der Leutnant d. R. Brahms.
Wir wurden in Empfang genommen, auf die Gruppen verteilt und befanden uns bald im Kreise bärtiger, lehmbekrusteter Gesellen, die uns mit einem gewissen ironischen Wohlwollen begrüßten. Wir wurden gefragt, wie es in Hannover aussähe, und ob der Krieg denn noch nicht bald zu Ende gehen sollte. Dann drehte sich das Gespräch in eintöniger Kürze um Schanzen, Feldküche, Grabenstücke und andere Angelegenheiten den Stellungskrieges.
Nach einiger Zeit erscholl vor der Tür unseres hüttenartigen Aufenthaltes der Ruf: „Heraustreten!“ Wir traten bei unseren Gruppen an und stießen auf das Kommando: „Laden und Sichern!“ mit geheimer Wollust einen Rahmen scharfer Patronen ins Magazin.
Dann ging es schweigend Mann hinter Mann querbeet durch die nächtliche, von dunklen Waldstücken besäte Landschaft. Ab und zu verhallte ein einsamer Schuß, oder eine Leuchtkugel strahlte zischend auf, um nach kurzer, geisterhafter Beleuchtung eine noch tiefere Dunkelheit zu hinterlassen. Monotones Klappern von Gewehr und Schanzzeug durch den Warnungsruf: „Achtung, Draht!“ unterbrochen. Wie oft bin ich nach diesem erstenmal in halb melancholischer, halb erregter Stimmung durch ausgestorbene Landschaften zur vorderen Linie geschritten!
Endlich verschwanden wir in einem der Laufgräben, die sich wie weiße Schlangen durch die Nacht zur Stellung wanden. Dort fand ich mich einsam und fröstelnd zwischen zwei Schulterwehren wieder, angestrengt in eine vorm Graben liegende Tannenreihe starrend, in der meine Phantasie mir allerhand Schattengestalten vorgaukelte, während ab und zu eine verirrte Kugel durchs Geäst klatschte. Die einzige Abwechslung in dieser schier endlosen Zeit war, daß ich von einem älteren Kameraden abgeholt wurde und mit ihm durch einen langen, schmalen Gang zu einem vorgeschobenen Postenloch trottete, in dem wir wiederum damit beschäftigt waren, das Vorgelände zu betrachten. Zwei Stunden durfte ich in einem kahlen Kreideloche versuchen, den Schlaf der Erschöpfung zu finden. Als der Morgen graute, war ich bleich und lehmbeschmiert wie die anderen, und es war mir, als ob ich dieses Maulwurfsleben schon monatelang geführt hätte.
Die Stellung des Regiments wand sich durch den Kreidebogen der Champagne gegenüber dem Dorfe Le Gauda. Sie lehnte sich rechts an ein zerhacktes Waldstück, den Granat-Wald, lief dann durch riesige Zuckerrübenfelder, aus denen die roten Hosen gefallener Stürmer leuchteten, und endete in einem Bachgrund, über den die Verbindung mit dem Regiment 74 durch nächtliche Patrouillen aufrechterhalten wurde. Der Bach rauschte über das Wehr einer zerstörten, von finsteren Bäumen umringten Mühle. Ein unheimlicher Aufenthalt, wenn nachts der Mond durch zerrissene Wolken wechselnde Schatten warf, und seltsame Laute in das Murmeln des Wassers und das Rascheln des Schilfes sich zu mischen schienen.
Der Dienst war der denkbar anstrengendste. Das Leben begann mit dem Einbruch der Dämmerung, während der die ganze Besatzung im Graben stehen mußte. Von 10 Uhr abends bis 6 Uhr morgens durften dann je zwei Mann jeder Gruppe schlafen, so daß man einen Nachtschlaf von zwei Stunden genoß, der indes durch früheres Wecken, Strohholen und andere Beschäftigungen illusorisch gemacht wurde.
Entweder hatte man Wache im Graben, oder man zog in eins der zahlreichen Postenlöcher, die mit der Stellung durch lange, ausgehobene Verbindungswege zusammenhingen; eine Art der Sicherung, die wegen der Exponiertheit der Posten im Laufe des Stellungskrieges bald aufgegeben wurde.
Diese endlosen, furchtbar ermüdenden Nachtwachen waren bei klarem Wetter und selbst bei Frost noch erträglich, sie wurden jedoch qualvoll, wenn es, wie meist im Januar, regnete. Wenn die Feuchtigkeit erst die über den Kopf gezogene Zeltbahn, dann Mantel und Uniform durchdrang und stundenlang am Körper herunterrieselte, geriet man in eine Stimmung, die selbst durch das Rauschen der heranwatenden Ablösung nicht erhellt werden konnte. Die Morgendämmerung beleuchtete erschöpfte, kreidebeschmierte Gestalten, die sich zähneklappernd mit bleichen Gesichtern auf das faule Stroh der tropfenden Unterstände warfen. Diese Unterstände! Es waren nach dem Graben zu offene, in die Kreide gehauene Löcher mit einer Lage von Brettern und einigen Schaufeln Erde bedeckt. Hatte es geregnet, so tropften sie noch tagelang nachher; ein gewisser Galgenhumor hatte sie deshalb mit entsprechenden Namen, wie „Tropfsteinhöhle“, „Zum Männerbad“ usw., bezeichnet. Wollten mehrere darin der Ruhe pflegen, so waren sie gezwungen, ihre Beine als unfehlbare Fußangeln für jeden Vorübergehenden in den Graben zu legen. Unter diesen Umständen war natürlich auch tagsüber von Schlaf wenig die Rede. Außerdem mußte man noch zwei Stunden Tagesposten stehen, den Graben reinigen, Essen, Kaffee, Wasser holen und anderes mehr.
Man wird begreifen, daß dieses ungewohnte Leben uns sehr hart vorkam, besonders da wir dazu von den meisten der alten Leute in jeder Weise schikaniert wurden. Diese aus der Kaserne in den Krieg mitgenommene Gewohnheit trug viel dazu bei, uns die schweren Tage noch mehr zu verbittern, verschwand aber nach der ersten zusammen bestandenen Schlacht. Dem gemeinen Mann war auch die Tatsache, daß wir uns freiwillig gemeldet hatten, schwer verständlich. Er sah das als einen gewissen Übermut an, eine Auffassung, der ich im Kriege oft begegnet bin.
Die Zeit, während der die Kompagnie in Reserve lag, war nicht viel besser. Wir hausten dann in tannenzweiggedeckten Erdhütten bei der Fasanerie oder im Hiller-Wäldchen, deren mistbepackter Boden wenigstens eine angenehme Gärungswärme ausstrahlte. Manchmal erwachte man in einer zolltiefen Wasserpfütze. Trotzdem ich Rheumatismus bislang nur dem Namen nach gekannt hatte, spürte ich schon nach wenigen Tagen infolge der dauernden Durchnässung Schmerzen in allen Gelenken. Die Nächte dienten auch hier nicht dem Schlaf, sondern wurden benutzt, die zahlreichen Annäherungsgräben zu vertiefen.
Ein Lichtblick in diesem öden Einerlei war die allabendliche Ankunft der Feldküche an der Ecke des Hiller-Wäldchens, wo sich bei der Öffnung des Kessels ein köstlicher Duft nach Erbsen mit Speck oder anderen herrlichen Sachen verbreitete. Aber auch hier gab es einen dunklen Punkt: das Dörrgemüse, das von enttäuschten Gourmets als „Drahtverhau“ oder „Flurschaden“ geschmäht wurde.
Am angenehmsten waren die Ruhetage in Orainville, die mit Ausschlafen, Reinigen der Sachen und Exerzieren verbracht wurden. Die Kompagnie hauste in einer gewaltigen Scheune, die nur zwei hühnerleiterartige Treppen als Ein- und Ausgang hatte. Obwohl das Gebäude noch mit Stroh gefüllt war, standen Öfen darin. Eines Nachts rollte ich gegen den einen und erwachte erst infolge der Bemühungen einiger Kameraden, die mich kräftigen Löschversuchen unterzogen. Zu meinem Schrecken gewahrte ich, daß meine Uniform an der Rückseite arg verkohlt war, so daß ich längere Zeit in einem frackartigen Anzuge umherlaufen mußte.
Nach kurzem Aufenthalt beim Regiment hatten wir fast alle Illusionen verloren, mit denen wir ausgezogen waren. Statt der erhofften Gefahren hatten wir Schmutz, Arbeit und schlaflose Nächte vorgefunden, zu deren Bezwingung ein uns wenig liegendes Heldentum gehörte. Diese dauernde Überanstrengung war Schuld der Führung, die den Geist des neuartigen Stellungskrieges noch nicht erfaßt hatte. In einem kurzen, draufgängerischen Kriege kann und muß der Offizier die Mannschaft rücksichtslos erschöpfen, in einem sich lang hinschleppenden führt dies zu physischem und moralischem Zusammenbruch. Die ungeheure Postenzahl und die ununterbrochene Schanzarbeit war zum größten Teil unnötig und sogar schädlich. Nicht auf gewaltige Verschanzungen kommt es an, sondern auf den Mut und die Frische der Leute, die dahinterstehen. „Eiserne Herzen auf hölzernen Schiffen gewinnen die Schlachten.“
Wohl hörten wir im Graben Geschosse pfeifen, bekamen auch ab und zu einige Granaten von den Reimser Forts, aber diese kleinen kriegerischen Ereignisse blieben weit hinter unseren Erwartungen zurück. Trotzdem wurden wir manchmal an den blutigen Ernst gemahnt, der hinter diesem scheinbar absichtslosen Geschehen lauerte. So schlug am 8. Januar eine Granate in die Fasanerie und tötete den Leutnant Schmidt, unseren Bataillons-Adjutanten.
Am 27. Januar ließen wir unserem Kaiser zur Ehre drei kräftige Hurras erschallen und stimmten auf der langen Front, von feindlichen Gewehren begleitet, ein „Heil dir im Siegerkranz“ an.
In diesen Tagen hatte ich ein sehr unangenehmen Erlebnis, das meine militärische Laufbahn fast zu einem vorzeitigen und unrühmlichen Abschluß gebracht hätte. Die Kompagnie lag am linken Flügel, und ich mußte mich gegen Morgen nach völlig durchwachter Nacht mit einem Kameraden in den Bachgrund auf Doppelposten begeben. Ich hatte der Kälte wegen verbotenerweise meine Decke um den Kopf geschlagen und lehnte an einem Baum, nachdem ich mein Gewehr neben mich in einen Busch gestellt hatte. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, griff danach — die Waffe war verschwunden! Der revidierende Portepee-Träger, ein Offizier-Stellvertreter, hatte sich an mich herangeschlichen und sie unbemerkt an sich genommen. Um mich zu bestrafen, schickte er mich eigenmächtig, nur mit einer Beilpicke bewaffnet, in der Richtung auf die französischen Postierungen, ungefähr 100 Meter weit, vor, eine Indianeridee, die mich beinahe ums Leben gebracht hätte. Während meiner merkwürdigen Strafwache schlich nämlich eine Patrouille von drei Kriegsfreiwilligen durch das Schilf vor, wurde von den Franzosen bemerkt und beschossen. Einer von ihnen, namens Lang, wurde getroffen und nie wieder gesehen. Da ich ganz in der Nähe stand, bekam ich auch mein Teil von den damals so beliebten Gruppensalven ab, so daß mir die Zweige des Weidenbaumes, an dem ich stand, um die Ohren pfiffen. Ich biß die Zähne zusammen und blieb aus Trotz stehen. Ich habe dem Offizier-Stellvertreter diese Gemeinheit nie vergessen können.
Wir waren alle herzlich stolz, als uns mitgeteilt wurde, daß wir diese Stellung endgültig verlassen sollten, und feierten unseren Abschied von Orainville durch einen kräftigen Bierabend in der großen Scheune. Am 4. Februar 1915 marschierten wir, von einem sächsischen Regiment abgelöst, nach Bazancourt.
Dieser Monat war für mich, obwohl der härteste des ganzen Krieges, doch eine gute Schule. Ich hatte den Wacht- und Arbeitsdienst in seiner schwersten Form gründlich kennengelernt. Das bewahrte mich später, als ich selbst führte, davor, von meinen Leuten Unmögliches zu verlangen.
In Bazancourt, einem öden Champagne-Städtchen, wurde die Kompagnie in der Schule einquartiert, die infolge des geradezu erstaunlichen Ordnungssinnes unserer Leute in kurzer Zeit das Aussehen einer Friedenskaserne annahm. Da gab es einen Unteroffizier vom Dienst, der Morgens pünktlich weckte, Stubendienst und allabendliche Appells durch die Korporalschaftsführer. Jeden Morgen rückten die Kompagnien aus, um auf den umliegenden Ödfeldern einige Stunden stramm zu exerzieren. Diesem Dienstbetrieb wurde ich nach einigen Tagen durch Abkommandierung zum Offizier-Aspiranten-Kursus in Recouvrence entzogen.
Recouvrence war ein entlegenes, in lieblichen Kreidehügeln verstecktes Dörfchen, in das von der Division eine Anzahl junger Leute geschickt wurde, um durch den von jedem Regiment gestellten Offizier und einige Unteroffiziere eine gründliche militärische Ausbildung zu erhalten. Wir 73er haben in dieser Beziehung dem äußerst fähigen, leider kurz darauf gefallenen Leutnant Hoppe viel zu verdanken.
Das Leben in diesem weltabgeschiedenen Neste setzte sich aus einer merkwürdigen Mischung von Kasernendrill und akademischer Freiheit zusammen. Tagsüber wurden die Zöglinge nach allen Regeln der Kunst zum militärischen Menschen geschliffen, abends versammelten sie sich mit ihren Lehrern um riesige Fässer, wo in ebenso gründlicher Weise gezecht wurde. Wenn in den Morgenstunden die verschiedenen Abteilungen aus ihren Kneiplokalen strömten, hatten die kleinen Kreidesteinhäuser den ungewohnten Anblick eines studentischen Walpurgistreibens. Unser Kursusleiter, ein Hauptmann, hatte übrigens die erzieherische Gewohnheit, den Dienst an den darauffolgenden Tagen mit doppelter Energie zu handhaben.
Unser Verkehr untereinander war, wie bei Leuten derselben Bildungsstufe unter diesen Verhältnissen selbstverständlich, sehr kameradschaftlich. Wir wohnten zu dritt oder viert zusammen und führten gemeinsame Wirtschaft. Besonders ist mir noch unser regelmäßiges Abendessen von Rührei und Bratkartoffeln in guter Erinnerung. Sonntags leisteten wir uns das landessübliche Kaninchen oder einen Hahn. Da ich den Einkauf für den Abendtisch besorgte, legte mir unsere Wirtin einmal eine Anzahl von Bons vor, die sie von requirierenden Soldaten erhalten hatte; meist des Inhalts, daß der Füsilier N. N. der Tochter des Hauses Liebenswürdigkeiten erwiesen und dafür 12 Eier requiriert habe. Zur Anführung ist diese ergötzliche Blütenlese des Volkshumors leider durchweg zu saftig.
Mitte Februar wurden wir 73er durch die Nachricht der großen Verluste unseres Regiments bei Perthes überrascht und waren sehr traurig, diese Tage fern von unseren Kameraden verbracht zu haben. Am 21. März kamen wir nach einem kleinen Examen zum Regiment zurück, das wieder in Bazancourt lag. Es schied in diesen Tagen nach einer großen Parade und einer Abschiedsansprache des Generals von Emmich aus dem Verbande des X. Korps. Wir wurden am 24. März verladen und fuhren bis in die Gegend von Brüssel, wo wir mit den Regimentern 76 und 164 zur 111. Infanterie-Division zusammengestellt wurden.
Unser Bataillon wurde in dem Städtchen Hérinnes (flämisch: Herne) untergebracht, inmitten einer Landschaft von flämischer Behaglichkeit. Ich erlebte hier recht glücklich meinen 20. Geburtstag.
Obwohl die Belgier in ihren Häusern genügend Platz hatten, wurde unsere Kompagnie aus falscher Rücksichtnahme in eine große zugige Scheune gesteckt, durch die während der kalten Märznächte der rauhe Seewind jener Gegend pfiff. Sonst war uns der Aufenthalt in Herne eine gute Erholung; es wurde zwar viel exerziert, doch gab es auch gute Verpflegung und Lebensmittel für geringes Geld.
Die halb aus Flamen, halb aus Wallonen bestehende Bevölkerung war sehr freundlich zu uns. Ich unterhielt mich oft mit dem Besitzer eines Estaminets, einem eifrigen Sozialisten und Freigeist, der mich am Ostersonntag zum Festmahl einlud und sogar für seine Getränke kein Geld nehmen wollte. Man kann sich kaum vorstellen, wie wohltuend eine solche Begegnung inmitten der rauhen Schule der Feldkameradschaft wirkt.
Gegen Ende unseres Aufenthaltes wurde das Wetter schön und lud zu Spaziergängen in der lieblichen, wasserreichen Umgebung ein. Die Landschaft war malerisch verziert durch die vielen entkleideten Kriegsleute, die, ihre Wäsche auf dem Schoß, längs der pappelumsäumten Bachufer eifrig der Läusejagd oblagen. Von dieser Plage bislang ziemlich verschont geblieben, war ich indes meinem Kriegskameraden Priepke, einem Hamburger Exportkaufmann, behilflich, in seine wollene Weste, die bevölkert war wie weiland das Habit Simplicii Simplicissimi, zu Desinfektionszwecken einen schweren Stein zu wickeln und sie in einen Bach zu versenken. Da unser Aufbruch von Herne sehr plötzlich erfolgte, wird sie sich dort wohl noch heute eines ungestörten Aufenthalts erfreuen.
Am 12. April 1915 wurden wir in Hal verladen und fuhren, um Spione zu täuschen, über den Nordflügel der Front in die Gegend des Schlachtfeldes von Mars-la-Tour. Die Kompagnie bezog ihr gewohntes Scheunen-Quartier im Dorfe Tronville, einem der üblichen langweiligen, aus flachdächrigen, fensterlosen Steinkästen zusammengewürfelten lothringischen Drecknester. Der Fliegergefahr wegen mußten wir uns meist in dem überfüllten Orte aufhalten, in dessen Nähe die berühmten Stätten von Mars-la-Tour und Gravelotte liegen. Wenige hundert Meter vom Dorfe wurde die Straße nach Gravelotte von der Grenze geschnitten, an der der französische Grenzpfahl zerschmettert am Boden lag. Abends machten wir uns oft das wehmütige Vergnügen eines Spazierganges nach Deutschland.
Unsere Scheune war so baufällig, daß man balancieren mußte, um nicht durch die morschen Bretter auf die Tenne zu stürzen. An einem Abend, als unsere Gruppe gerade unter Vorsitz ihres biederen Korporals Kerkhoff beschäftigt war, auf einer Krippe die Portionen zu teilen, löste sich ein ungeheurer Eichklotz aus dem Gebälk und stürzte krachend herunter. Zum Glück klemmte er sich dicht über unseren Köpfen zwischen zwei Lehmwänden. Wir kamen mit dem Schrecken davon, aber unsere schöne Fleischportion war durch den aufgewirbelten Schutt ungenießbar geworden. Kaum hatten wir uns an diesem ominösen Abend niedergelegt, als kräftig an das Tor gedonnert wurde und die alarmierende Stimme des Feldwebels uns vom Lager trieb. Zuerst, wie immer in solchen Augenblicken, ein Moment der Stille, dann wirres Durcheinander und Gepolter: „Mein Helm! Wo ist mein Brotbeutel? Ich kriege meine Stiefel nicht an! Du hast meine Patronen geklaut! Hol’t Mul, du August!“
Zuletzt war doch alles fertig, und wir marschierten zum Bahnhof von Chamblay, von wo wir in einigen Minuten mit der Bahn bis Pagny-sur-Moselle fuhren. In den Morgenstunden erklommen wir die Moselhöhen und, blieben in Prény, einem romantischen, von einer Burgruine überragten Bergdorf. Diesmal war unsere Scheune ein mit aromatischem Bergheu gefüllter Steinbau, aus dessen Luken wir auf die weinbepflanzten Moselberge und das im Tal gelegene Städtchen Pagny blicken konnten, das oft mit Granaten und Fliegerbomben belegt wurde. Einige Male schlug ein Geschoß in die Mosel, eine turmhohe Wassersäule hochschleudernd.
Das warme Wetter und die prächtige Landschaft wirkten wahrhaft belebend auf uns und reizten in den Freistunden zu langen Spaziergängen. Wir waren so übermütig, daß wir abends noch einige Zeit ulkten, bevor alles zur Ruhe kam. Unter anderem war es ein beliebter Scherz, Schnarchern aus einer Feldflasche Wasser oder Kaffee in den Mund zu gießen.
Am Abend des 22. April marschierten wir von Prény ab, legten über 30 Kilometer bis zum Dorfe Hattonchâtel zurück, ohne trotz dem schweren Gepäck einen Marschkranken zu haben, und schlugen rechts von der berühmten Grande Tranchée mitten im Walde Zelte auf. Es war aus allen Anzeichen zu ersehen, daß wir am nächsten Tage ins Gefecht kommen würden. Wir empfingen Verbandpäckchen, zweite Fleischbüchsen und Signalflaggen für die Artillerie.
Am Abend saß ich noch lange in jener ahnungsvollen Stimmung, von der die Krieger aller Zeiten zu erzählen wissen, auf einem von blauen Anemonen umwucherten Baumstumpf, ehe ich über die Reihen der Kameraden an meinen Zeltplatz kroch, und träumte in der Nacht wirres Zeug zusammen, in dem ein Totenkopf die Hauptrolle spielte. Priepke, dem ich am Morgen davon erzählte, hoffte, daß es ein Franzosenschädel gewesen sei.
Das junge Grün des Waldes schimmerte im Morgen. Wir wanden uns durch versteckte Wege zu einer engen Schlucht hinter der vorderen Linie. Es war bekanntgegeben, daß das Regiment 76 nach 20minutiger Feuervorbereitung stürmen und wir als Reserve bereitstehen sollten. Punkt 12 Uhr eröffnete unsere Artillerie eine heftige Kanonade, die vielfach in den Waldschluchten widerhallte. Zum ersten Male vernahmen wir hier das schwere Wort: Trommelfeuer. Wir saßen auf den Tornistern, untätig und erregt. Eine Ordonnanz stürzte zum Kompagnieführer. Hastige Worte. „Die drei ersten Gräben sind in unserer Hand, sechs Geschütze erbeutet!“ Ein Hurra flammte auf. Draufgängerstimmung erwachte.
Endlich kam der ersehnte Befehl. Wir zogen in langer Reihe nach vorn, von wo verschwommenes Gewehrfeuer prasselte. Es wurde ernst. Zur Seite des Waldpfades dröhnten in einem Tannendickicht dumpfe Stöße, Zweige und Erde rauschten nieder. Ein Ängstlicher warf sich unter erzwungenem Gelächter der Kameraden zu Boden. Dann glitt der Mahnruf des Todes durch die Reihen: „Sanitäter nach vorn!“
Auf der Grande Tranchée hasteten Truppen vor. Um Wasser flehende Verwundete kauerten am Straßenrand, bahrentragende Gefangene keuchten zurück, Protzen rasselten im Galopp durchs Feuer. Rechts und links stampften Granaten den weichen Boden, schweres Geäst brach nieder. Mitten im Wege lag ein totes Pferd mit riesigen Wunden, daneben dampfende Eingeweide. An einem Baume lehnte ein bärtiger Landwehrmann: „Jungens, jetzt feste ran, der Franzmann ist im Laufen!“
Wir gelangten in das kampfzerwühlte Reich der Infanterie. Der Umkreis der Sturmausgangsstellung war von Geschossen kahl geholzt. Im zerrissenen Zwischenfelde lagen die Opfer des Sturmes, den Kopf feindwärts; die grauen Röcke hoben sich kaum vom Boden ab. Eine Riesengestalt, mit rotem, blutbesudeltem Vollbart starrte zum Himmel, die Fäuste in die lockere Erde gekrallt. Ein junger Mensch wälzte sich in einem Trichter, die gelbliche Farbe des Todes auf den Zügen. Unsere Blicke schienen ihm unangenehm, mit einer gleichgültigen Bewegung zog er sich den Mantel über den Kopf und wurde still.
Wir lösten uns aus der Marschkolonne. Fortwährend zischte es in langem, scharfem Bogen heran, Blitze wirbelten den Boden der Lichtung hoch. „Sanitäter!“ Wir hatten den ersten Toten. Dem Füsilier S. zerriß eine Schrapnellkugel die Halsschlagader. Drei Verbandpäckchen waren im Nu vollgesogen. Er verblutete in Sekunden. Neben uns protzten zwei Geschütze ab, noch stärkeres Feuer anziehend. Ein Artillerieleutnant, der im Vorgelände nach Verwundeten suchte, wurde durch eine vor ihm hochfahrende Dampfsäule niedergeschleudert. Er erhob sich langsam und kam mit markierter Ruhe zurück. „Eben ziemlichen Torkel entwickelt!“ Unsere Augen glänzten ihn an.
Es dunkelte, als wir den Befehl zu weiterem Vorrücken erhielten. Unser Weg führte uns durch dichtes, geschoßdurchklatschtes Unterholz in einen endlosen Laufgraben, den fliehende Franzosen mit Gepäck bestreut hatten. In der Nähe des Dorfes Les Eparges mußten wir, ohne Truppen vor uns zu haben, eine Stellung in festes Gestein hauen. Zuletzt sank ich in einen Busch und schlief ein.
„Mensch, aufstehen, wir rücken ab!“ Ich erwachte in taufeuchtem Grase. Durch die sausende Garbe eines Maschinengewehres stürzten wir in unseren Laufgraben zurück und besetzten eine verlassene französische Stellung am Waldsaume. Ein süßlicher Geruch und ein im Drahtverhau hängendes Bündel erweckten meine Aufmerksamkeit. Ich sprang im Morgennebel aus dem Graben und stand vor einer zusammengeschrumpften französischen Leiche. Fischartiges, verwestes Fleisch leuchtete grünlichweiß aus zersetzter Uniform. Mich umwendend prallte ich entsetzt zurück: Neben mir kauerte eine Gestalt an einem Baum. Leere Augenhöhlen und wenige Büschel Haar auf dem schwarzbraunen Schädel verrieten, daß ich es mit keinem Lebenden zu tun hatte. Ringsumher lagen noch Dutzende von Leichen, verwest, verkalkt, zu Mumien gedörrt, in unheimlichem Totentanz erstarrt. Die Franzosen mußten monatelang neben den gefallenen Kameraden ausgehalten haben, ohne sie zu bestatten.
In den Vormittagsstunden durchbrach die Sonne den Nebel und entsandte eine behagliche Wärme. Nachdem ich etwas auf der Grabensohle geschlafen hatte, ging ich durch den vereinsamten, am Vortage erstürmten Graben, dessen Boden mit Bergen von Proviant, Munition, Ausrüstungsstücken, Waffen und Zeitungen bedeckt war. Die Unterstände glichen geplünderten Trödelläden. Dazwischen lagen die Leichen tapferer Verteidiger, deren Gewehre noch in den Schießscharten steckten. Aus zerschossenem Gebälk ragte ein eingeklemmter Rumpf. Kopf und Hals waren abgeschlagen, weiße Knorpel glänzten aus rötlich-schwarzem Fleisch. Es wurde mir schwer, zu verstehen. Daneben ein ganz junger Mensch auf dem Rücken, die glasigen Augen und die Fäuste im Zielen erstarrt. Ein seltsames Gefühl, in solche toten, fragenden Augen zu blicken. Ein Schaudern, das ich im Kriege nie ganz verloren habe. Neben ihm lag seine arme, ausgeplünderte Börse.
Mit zunehmender Klarheit verstärkte sich das Artilleriefeuer und steigerte sich bald zu wüstem Tanze. Ich kehrte zu meiner Gruppe zurück. In immer kürzeren Pausen flammte es um uns auf. Weißes, schwarzes und gelbes Gewölk mischte sich. Manchmal erdröhnten Schläge von unheimlicher Brisanz, dazwischen schwirrten mit eigenartigem Singen die Zünder. Bald war der Wald in Brand geschossen, Flammen kletterten knatternd an den Bäumen empor. Ich saß mit einem Kameraden auf einer in den Lehm der Grabenwand gestochenen Bank, während neben uns ein hagerer Rekrut vor Angst an allen Gliedern schlotterte. Mein Gefährte machte sich den grausamen Scherz, heimlich eine Handvoll aufgeraffter Schrapnellkugeln neben ihn zu schleudern.
Ich beobachtete mit merkwürdiger Ruhe das Vorgelände. „Sie wissen ja gar nicht, wo du bist. — Sie können dich gar nicht sehen, sie schießen ja ganz wo anders hin.“ Es war der Mut der Unerfahrenheit. Plötzlich knallte das Brett der Schießscharte, und ein Infanteriegeschoß schlug zwischen unseren Köpfen in den Lehm. In diesem Augenblick tauchte ein Mann an der Ecke unseres Grabenstückes auf: „Nach links folgen!“ Wir gaben den Befehl weiter und schritten die rauchdurchschwelte Stellung entlang. Gerade waren die Essenholer zurückgekommen und Hunderte von verlassenen Kochgeschirren dampften auf der Brustwehr. Wer mochte jetzt essen? Eine Menge Verwundeter mit blutdurchtränkten Verbänden preßte sich an uns vorüber, die Aufregung des Kampfes auf den bleichen Gesichtern. Die Ahnung einer schweren Stunde türmte sich vor uns auf. „Vorsicht, Kameraden, mein Arm, mein Arm!“ „Los, los, Mensch, halt Anschluß!“
Der Graben endete in einem Waldstück. Unentschlossen standen wir unter gewaltigen Buchen. Aus dichtem Unterholz tauchte unser Zugführer, ein Leutnant, auf und rief dem ältesten Unteroffizier zu: „Lassen Sie ausschwärmen in Richtung auf die untergehende Sonne und Stellung nehmen. Meldungen erreichen mich im Unterstande an der Lichtung.“ Fluchend übernahm jener das Kommando.
Der Eindruck, den dieses Verhalten auf die Leute machte, ist mir während meiner ganzen Führerzeit eine eindringliche Lehre gewesen. Später lernte ich diesen Offizier, der sich noch oft auszeichnete, als Kameraden kennen und erfuhr, daß er dort Wichtiges zu tun gehabt. Gleichviel, der Offizier darf sich unter keinen Umständen in der Gefahr von der Mannschaft trennen. Die Gefahr ist der vornehmste Augenblick seines Berufes, da gilt es, gesteigerte Männlichkeit zu beweisen. Ehre und Ritterlichkeit erheben ihn zum Herrn der Stunde. Was ist erhabener, als hundert Männern voranzuschreiten in den Tod? Gefolgschaft wird solcher Persönlichkeit nie versagt, die mutige Tat fliegt wie Rausch durch die Reihen.
Wir schwärmten aus und legten uns erwartungsvoll in eine Reihe flacher Mulden, von irgendwelchen Vorgängern ausgehoben. Mitten in scherzende Zurufe schnitt markerschütterndes Geheul. Zwanzig Meter hinter uns wirbelten Erdklumpen aus weißer Wolke und klatschten hoch ins Geäst. Vielfach rollte der Schall durch den Wald. Beklommene Augen starrten sich an, Körper schmiegten sich in niederdrückendem Gefühl völliger Ohnmacht an den Boden. Schuß folgte auf Schuß. Stickige Gase schwammen im Unterholz, Qualm verhüllte die Gipfel, Bäume und Zweige stürzten rauschend zu Boden, Schreie wurden laut. Wir sprangen hoch und rannten blindlings, von Blitzen und betäubendem Luftdruck gehetzt, von Baum zu Baum, Deckung suchend und wie gejagtes Wild riesige Stämme umkreisend. Ein Unterstand, in den viele liefen, erhielt einen Treffer, der den dicken Balkenbelag hochriß.
Ich eilte mit dem Unteroffizier keuchend um eine mächtige Buche. Plötzlich blitzte es in dem weit ausgreifenden Wurzelwerk, und ein Schlag gegen den linken Oberschenkel warf mich zu Boden. Ich glaubte, von einem Erdklumpen getroffen zu sein, doch belehrte mich reichlich strömendes Blut bald, daß ich verwundet war. Es zeigte sich später, daß mir ein haarscharfer Splitter eine Fleischwunde geschlagen hatte, nachdem seine Wucht durch meine dicke Leder-Geldtasche abgeschwächt war.
Ich warf meinen Tornister fort und rannte dem Graben zu, aus dem wir gekommen waren. Von allen Seiten strebten Verwundete aus dem beschossenen Gehölz strahlenförmig darauf zu. Der Durchgang war entsetzlich, von Schwerverwundeten und Sterbenden versperrt. Eine bis zum Gürtel entblößte Gestalt mit aufgerissenem Rücken lehnte an der Grabenwand. Ein anderer, dem ein dreieckiger Lappen vom Hinterschädel herabhing, stieß fortwährend schrille, erschütternde Schreie aus. — Und immer neue Einschläge.
Ich will offen gestehen, daß mich meine Nerven restlos im Stiche ließen. Nur fort, weiter, weiter! Rücksichtslos rannte ich alles über den Haufen. Ich bin kein Freund des Euphemismus: Nervenzusammenbruch. Ich hatte ganz einfach Angst, blasse, sinnlose Angst. Ich habe später noch oft kopfschüttelnd an jene Momente zurückgedacht.
In der Nähe lag ein mit Stämmen gedeckter Sanitätsunterstand, in dem ich die Nacht, eng zusammengedrängt mit vielen Verwundeten, verbrachte. Ein abgespannter Arzt stand mitten im Gewühl stöhnender Menschen, verband, machte Einspritzungen und gab mit ruhiger Stimme Ermahnungen. Als ich am nächsten Morgen fortgetragen wurde, durchbohrte ein Splitter das Segeltuch der Tragbahre zwischen meinen Knien.
Ich wurde über die immer noch schwer beschossene Grande Tranchée zum Hauptverbandplatze und dann in die Kirche des Dorfes St. Maurice transportiert. Neben mir im stampfenden Lazarettwagen lag ein Mann mit Bauchschuß, der die Kameraden flehentlich bat, ihn mit der Pistole des Sanitäters zu erschießen. In St. Maurice stand schon ein Lazarettzug unter Dampf, der uns in zwei Tagen nach Heidelberg beförderte. Beim Anblick der von blühenden Kirschbäumen bekränzten Neckarberge empfand ich ein eigentümliches, starkes Heimatgefühl. Wie schön war doch das Land, wohl wert, dafür zu bluten und zu sterben.
Die Schlacht von Les Eparges war meine erste. Sie war ganz anders, als ich gedacht. Ich hatte an einer großen Kampfhandlung teilgenommen, ohne einen Gegner zu Gesicht bekommen zu haben. Erst viel später erlebte ich den Zusammenprall, den Gipfelpunkt des modernen Kampfes im Erscheinen des Infanteristen auf freiem Felde, das für entscheidende, mörderische Augenblicke die chaotische Leere des Schlachtfeldes unterbricht.
Meine Wunde war in vierzehn Tagen geheilt; ich wurde zum Ersatzbataillon nach Hannover entlassen und meldete mich dort als Fahnenjunker. Nachdem ich einen Kursus in Döberitz besucht hatte und zum Fähnrich befördert war, fuhr ich im September 1915 zum Regiment zurück.
Ich verließ mit einer Abteilung Ersatz beim Sitze des Divisionsstabes, dem Dorfe St. Léger, den Zug und marschierte nach Douchy, dem Ruheorte des Regiments. Vorn war die Herbstoffensive im vollen Gange. Die Front hob sich, eine lange wallende Wolke, aus weitem Gelände. Über uns knatterten die Maschinengewehre von Luftgeschwadern. Ein Fesselballon schien uns erspäht zu haben, am Dorfeingang sprang der schwarze Kegel einer Granate vor uns auf. Ich bog ab und führte die Kolonne auf Umwegen in den Ort.
Douchy, das Ruhedorf des Füsilier-Regiments 73, war von mittlerer Größe und hatte durch den Krieg noch wenig gelitten. Dieser im wellenförmigen Gelände des Artois gelegene Platz wurde dem Regiment während seines eineinhalbjährigen Stellungskampfes in jener Gegend zur zweiten Garnison, zu einer Stätte der Erholung und inneren Festigung nach schweren Tagen des Kampfes und der Arbeit in vorderer Linie. Wie oft atmeten wir auf, wenn uns durch dunkle Regennächte ein einsames Licht vom Dorfeingang entgegenschimmerte! Man hatte doch wieder ein Dach über dem Kopf und sein einfaches, ungestörtes Lager. Wie neugeboren war man am ersten Ruhetage, wenn man gebadet und den Anzug vom Schmutz des Grabens gereinigt hatte. Auf den umliegenden Wiesen wurde exerziert und Turnspiele veranstaltet, um die eingerosteten Knochen gelenkig zu machen und das Zusammengehörigkeitsgefühl der in langen Nachtwachen vereinsamten Leute wieder zu erwecken. Das gab Spannkraft für neue, lastenreiche Tage. In der ersten Zeit marschierten die Kompagnien abwechselnd in die vordere Linie zu nächtlicher Schanzarbeit. Diese anstrengende Doppelbeschäftigung unterblieb später auf Anordnung unseres Oberstleutnants von Oppen. Die Sicherheit einer Stellung beruht auf der Frische und dem unerschöpften Mut ihrer Verteidiger, nicht auf dem verschlungenen Bau ihrer Annäherungswege und der Tiefe der Kampfgräben.
In den freien Stunden bot Douchy seinen grauen Bewohnern manche Quelle ungezwungener Erholung. Zahlreiche Kantinen waren reichlich versehen mit Eß- und Trinkbarem; es gab ein Lesezimmer, eine Kaffeestube und später sogar, kunstvoll in eine große Scheune eingebaut, ein Lichtspiel. Die Offiziere hatten ein vorzüglich eingerichtetes Kasino und eine Kegelbahn im Garten des Pfarrhauses. Oft wurden große Kompagniefeste gefeiert, bei denen Offiziere und Mannschaft auf gut altdeutsch im Trinken wetteiferten.
Da die Zivilbevölkerung noch im Dorfe wohnte, mußte der vorhandene Raum in jeder Weise ausgenutzt werden. In den Gärten waren zum Teil Baracken und Wohnunterstände erbaut; ein großer Obstgarten in der Mitte des Dorfes war zum Kirchplatz, ein anderer, der sogenannte Emmich-Platz, zum Lustgarten umgewandelt. Am Emmich-Platz lagen in zwei mit Baumstämmen bedeckten Unterständen die Rasierstube und die Zahnstation. Eine große Wiese neben der Kirche diente als Begräbnisplatz, zu dem fast täglich eine Kompagnie marschierte, um einem oder vielen Kameraden unter den Klängen eines Chorals das letzte Geleit zu geben.
Die französische Bevölkerung war am Ausgange nach Monchy kaserniert. Meist scheue, mitleiderweckende Gestalten, die schwer am Kriege zu tragen hatten. Ahnungslose Kinder spielten vor den Schwellen der baufälligen Häuser, und Greise schlichen gebeugt durch das neue Getriebe, das ihnen mit brutaler Rücksichtslosigkeit die Stätten entfremdete, an denen sie ihr Leben verbracht hatten. Die jungen Leute mußten jeden Morgen antreten und wurden vom Ortskommandanten, dem Oberleutnant Oberländer, der ein strenges Regiment führte, zur Bewirtschaftung der Dorfgemarkung eingeteilt. Wir kamen mit den Einheimischen nur zusammen, wenn wir ihnen unsere Wäsche zum Reinigen brachten oder Butter und Eier einkaufen wollten. Zarte Beziehungen waren äußerst selten; die Erotik fand keinen Raum in dem wüsten, zerrüttenden Getriebe.
Eine merkwürdige Erscheinung war der völlige Anschluß zweier verwaister kleiner Franzosen an die Truppe. Die beiden Jungen, von denen der eine acht, der andere zwölf Jahre alt sein mochte, waren ganz in feldgrau gekleidet, sprachen fließend deutsch und grüßten alle Vorgesetzten auf der Straße vorschriftsmäßig. Von ihren Landsleuten sprachen sie, wie sie es den Soldaten abgesehen hatten, nur verächtlich als „Schangels“. Ihr größter Wunsch war, einmal mit ihrer Kompagnie in Stellung gehen zu dürfen. Sie konnten tadellos exerzieren, traten bei Appells an den linken Flügel und baten, wenn sie den Kantinengehilfen zum Einkauf nach Cambrai begleiten wollten, um Urlaub. Als das zweite Bataillon für einige Wochen zur Ausbildung nach Quéant kam, sollte der eine, namens Louis, auf Befehl des Oberstleutnants von Oppen in Douchy zurückbleiben, um der Zivilbevölkerung keinen Anlaß zu unwahren Gerüchten zu geben; er wurde auch während des Marsches nicht mehr gesehen, sprang aber bei der Ankunft des Bataillons ganz vergnügt aus dem Packwagen, in dem er sich versteckt hatte. Leider nahmen unvernünftige Leute die Kleinen öfters mit in die Kantine und machten sich den schlechten Spaß, ihnen Alkohol zu geben. Der Ältere soll später nach Deutschland auf Unteroffiziersschule geschickt worden sein.
Kaum eine Stunde Weges von Douchy entfernt lag Monchy-au-bois, das Dorf, in dem die beiden Reserve-Kompagnien des Regiments untergebracht waren. Es war im Herbst 1914 das Ziel erbitterter Kämpfe gewesen, zuletzt war es in deutscher Hand geblieben und der Kampf im engen Halbkreis um die Trümmer des ehemals reichen Ortes zum Stehen gekommen.
Nun waren die Häuser ausgebrannt und zusammengeschossen, die verwilderten Gärten von Granaten durchfurcht und die Obstbäume geknickt. Das Steingewirr war durch Gräben, Stacheldraht, Barrikaden und betonierte Stützpunkte zur Verteidigung eingerichtet. Die Straßen konnten von einem im Mittelpunkte liegenden Betonklotz, der „Feste Torgau“, unter Maschinengewehrfeuer genommen werden. Ein anderer Stützpunkt war die „Feste Altenburg“, ein Feldwerk rechts vom Dorfe, das einen Zug der Reservekompagnie beherbergte. Sehr wichtig für die Verteidigung war ein Bergwerk, dem in Friedenszeiten der Kreidestein zum Bau der Häuser entnommen war, und das wir nur durch Zufall entdeckt hatten. Ein Kompagniekoch, dem der Wassereimer in einen Brunnen gefallen war, hatte sich hinuntergelassen und dabei ein sich höhlenartig erweiterndes Loch bemerkt. Man untersuchte die Sache, und nachdem noch ein zweiter Eingang gebrochen war, bot es bombensichere Unterkunft für eine große Zahl von Kämpfern.
Auf der einsamen Höhe am Wege nach Ransart lag eine Ruine, ein ehemaliges Estaminet, wegen des weiten Ausblicks auf die Front Bellevue genannt, ein Ort, der mich trotz seiner gefährlichen Lage besonders anzog. Die Verlassenheit und das tiefe Schweigen, ab und zu vom dumpfen Ton der Geschütze unterbrochen, verstärkten den traurigen Eindruck der Zerstörung. Zerrissene Tornister, abgebrochene Gewehre, Zeugfetzen, dazwischen in grausigem Kontrast ein Kinderspielzeug, Granatzünder, tiefe Trichter der krepierten Geschosse, Flaschen, Erntegeräte, zerfetzte Bücher, zerschlagenes Hausgerät, Löcher, deren geheimnisvolles Dunkel einen Keller verrät, in dem vielleicht die Gerippe der unglücklichen Hansbewohner von den überaus geschäftigen Rattenschwärmen benagt werden, ein Pfirsichbäumchen, das seiner stützenden Mauer beraubt ist und hilfesuchend seine Arme ausstreckt, in den Ställen die noch an der Kette hängenden Skelette der Haustiere, im verwüsteten Garten Gräber, dazwischen grünend, tief im Unkraut versteckt, Zwiebeln, Wermut, Rhabarber und Narzissen, auf den benachbarten Feldern Getreidediemen, auf deren Dächern schon die Körner wuchern; all das durchzogen von einem halbverschütteten Laufgraben, umgeben vom Geruch des Brandes und der Verwesung. Traurige Gedanken beschleichen den Krieger, dessen Fuß auf den Trümmern einer solchen Stätte ruht, wenn er derer gedenkt, die noch vor kurzem hier friedlich lebten.
Die Kampfstellung verlief, wie schon berichtet, in engem Halbkreis um das Dorf, mit dem sie durch eine Reihe von Laufgräben verbunden war. Sie war in zwei Unterabschnitte, Monchy-Süd und Monchy-West, geteilt. Diese gliederten sich wiederum in die sechs Kompagnie-Abschnitte A bis F. Die bogenförmige Führung der Stellung bot dem Engländer eine gute Flankierungsmöglichkeit, die auch gehörig ausgenutzt wurde und uns schwere Verluste brachte.
Ich war der sechsten Kompagnie zugeteilt und rückte einige Tage nach meiner Ankunft als Führer einer Gruppe mit in Stellung, wo mir gleich durch einige englische Kugelminen ein unangenehmer Empfang bereitet wurde. Der Abschnitt C, in dem die Kompagnie lag, war der exponierteste des Regiments. Wir hatten indes in unserem Kompagnieführer, dem Leutnant d. R. Brecht, der zu Beginn des Krieges von Amerika herübergeeilt war, einen Offizier, der zur Verteidigung eines solchen Platzes der geeignete Mann war. Seine Draufgängernatur suchte die Gefahr und brachte ihm zuletzt einen ruhmvollen Tod.
Unser Leben im Graben verlief sehr geregelt; ich schildere im folgenden den Verlauf eines normalen Tages.
Der Schützengrabentag beginnt erst mit hereinbrechender Dämmerung. Um 7 Uhr weckt mich ein Mann meiner Gruppe aus dem Nachmittagsschlafe, den ich in Voraussicht der nächtlichen Wachen getan habe. Ich schnalle um, stecke Leuchtpistole und Handgranaten ins Koppel und verlasse den mehr oder minder gemütlichen Unterstand. Beim ersten Durchschreiten des wohlbekannten Zugabschnitts überzeuge ich mich, ob alle Posten an ihren richtigen Plätzen stehen. Mit leiser Stimme wird die Parole ausgetauscht. Inzwischen ist die Nacht hereingebrochen, und die ersten Leuchtkugeln steigen silbern in die Höhe, während angestrengte Augen ins Vorgelände starren. Eine Ratte raschelt zwischen den über Deckung geworfenen Konservenbüchsen. Eine zweite gesellt sich pfeifend zu ihr, und bald wimmelt es von huschenden Schatten, die den Ruinenkellern des Dorfes oder zerschossenen Stollen entströmen. Die Jagd auf sie bietet eine beliebte Abwechslung in der Öde des Postendienstes. Ein Stückchen Brot wird als Köder ausgelegt und das Gewehr darauf eingerichtet, oder es wird Sprengpulver von Blindgängern in ihre Löcher gestreut und angezündet. Quiekend schießen sie dann mit versengtem Fell hervor. Es sind widerliche, ekelhafte Geschöpfe. Ein greulicher Dunst umwebt ihre schwirrenden Rudel. Ich muß immer an ihre verborgene, leichenschänderische Tätigkeit in den Kellern des Dorfes denken. Auch einige Katzen sind aus den zerstörten Dörfern in die Gräben gezogen; sie lieben die Nähe der Menschen. Ein großer weißer Kater mit zerschossener Vorderpfote geistert häufig im Niemandslande umher und scheint bei beiden Parteien zu verkehren.
Doch ich sprach ja vom Grabendienst. Man liebt solche Abschweifungen, man wird leicht gesprächig, um die dunkle Nacht und die endlose Zeit zu füllen. Deshalb bin ich auch bei einem bekannten Krieger oder einem anderen Unteroffizier stehen geblieben und lausche mit gespanntem Interesse seinen tausend Nichtigkeiten. Als Fähnrich werde ich auch öfters von dem wachthabenden Offizier, der sich ebenso unbehaglich fühlt, in ein wohlwollendes Gespräch verwickelt. Ja, er wird sogar ganz kameradschaftlich, redet leise und eifrig, kramt Geheimnisse und Wünsche aus. Und ich gehe gern darauf ein, denn auch mich drücken die schweren, schwarzen Wälle des Grabens, auch ich bange nach Wärme, nach irgend etwas Menschlichem in dieser unheimlichen Einsamkeit.
Das Gespräch wird matter. Wir sind ermüdet. Apathisch lehnen wir an einer Schulterwehr und starren auf die glühende Zigarette des andern . . . .
Bei Frost trampelt man frierend auf und ab, daß die harte Erde von vielen Tritten erklingt. Sehr oft regnet es, dann steht man traurig mit hochgeschlagenem Mantelkragen unter den Regendächern der Stolleneingänge und lauscht dem gleichförmigen Falle der Tropfen. Hört man die Schritte eines Vorgesetzten auf der nassen Grabensohle, so tritt man rasch hervor, geht weiter, dreht sich plötzlich um, schlägt die Hacken zusammen und meldet: „Unteroffizier vom Grabendienst. Im Abschnitt nichts Neues!“ Denn das Stehen in den Stolleneingängen ist verboten.
Die Gedanken wandern. Man sieht in den Mond und denkt an schöne gemütliche Tage zu Hause oder an die große Stadt weit dahinten, in der jetzt gerade die Menschen aus den Kaffees strömen, und viele Bogenlampen das rege, nächtliche Treiben des Zentrums bestrahlen. Es scheint, als ob man das nur irgendwo geträumt hätte.
Da raschelt irgend etwas vorm Graben, zwei Drähte klirren leise. Im Nu zerflattern die Träume, alle Sinne sind bis zum Schmerz geschärft. Man klettert auf den Postenstand, schießt eine Leuchtkugel hoch: nichts rührt sich. Es wird wohl nur ein Hase oder Rebhuhn gewesen sein.
Oft hört man den Gegner an seinem Drahtverhau arbeiten. Dann schießt man rasch hintereinander dorthin. Nicht nur, weil es befohlen ist, man empfindet auch eine gewisse Befriedigung dabei. „Jetzt sitzen sie drüben aber in Druck. Vielleicht hast du sogar einen getroffen.“ Auch wir ziehen fast jede Nacht Draht und haben häufig Verwundete. Dann fluchen wir auf diese gemeinen Schweine von Engländern.
Mitunter hört man auch ein pfeifendes, flatterndes Geräusch nach dumpfem Abschuß. „Achtung, Mitte!“ Man stürzt zum nächsten Stolleneingang und hält den Atem an. Die Minen krachen ganz anders, viel aufregender als die Granaten. Sie haben überhaupt so etwas Reißendes, Hinterlistiges, etwas von persönlicher Gehässigkeit. Es sind heimtückische Wesen. Die Gewehrgranaten sind nicht viel besser. Leuchtet es an bestimmten Stellen des feindlichen Hinterlandes auf, so springen alle Posten von ihren Ständen und verschwinden. Sie wissen aus langer Erfahrung ganz genau, wo die Geschütze stehen, die auf den Abschnitt C eingerichtet sind.
Endlich zeigt das Leuchtzifferblatt, daß zwei Stunden verflossen sind. Nun rasch die Ablösung geweckt und in den Unterstand. Vielleicht haben die Essenholer Briefe, Pakete oder eine Zeitung mitgebracht. Man empfindet ein ganz merkwürdiges Gefühl, wenn man die Nachrichten von der Heimat und ihren friedlichen Sorgen liest, während die Schatten der flatternden Kerze über das niedrige, rohe Gebälk huschen. Nachdem ich mir mit einem Holzspan den gröbsten Dreck von den Stiefeln gekratzt und an ein Bein des primitiven Tisches gestrichen habe, lege ich mich auf die Pritsche und ziehe meine Decke über den Kopf, um für vier Stunden zu „röcheln“, wie der Fachausdruck lautet. Draußen knallen die Geschosse in eintöniger Wiederholung auf Deckung, eine Maus huscht über Gesicht und Hände, ohne meinen festen Schlaf zu stören. Auch vor dem niederen Getier habe ich Ruhe, wir haben den Unterstand erst vor einigen Tagen gründlich desinfiziert.
Noch zweimal werde ich aus dem Schlafe gerissen, um meines Amtes zu walten. Während der letzten Wache kündet ein heller Strich hinter uns am östlichen Himmel den neuen Tag. Die Umrisse des Grabens werden schärfer; er macht im grauen Frühlicht einen Eindruck unsäglicher Öde. Eine Lerche steigt hoch; ich empfinde ihr Getriller als aufdringlichen Kontrast, es irritiert mich. An eine Schulterwehr gelehnt, starre ich im Gefühl einer großen Ernüchterung auf das tote drahtumschlossene Vorfeld. Daß die letzten zwanzig Minuten auch gar kein Ende nehmen wollen! Endlich klappern die Kochgeschirre der zurückkehrenden Kaffeeholer im Laufgraben: es ist 7 Uhr, die Nachtwache ist beendet.
Ich gehe in den Unterstand und trinke Kaffee. Das macht mich munter; ich habe die Lust verloren, mich hinzulegen. Um 9 Uhr muß ich ja auch schon wieder meine Gruppe zur Arbeit einteilen und anstellen. Wir sind wahre Alleskönner, der Graben stellt täglich seine tausend Anforderungen an uns. Wir wühlen tiefe Stollen, bauen Unterstände und Betonklötze, bereiten Drahthindernisse vor, schaffen Entwässerungsanlagen, verschalen, stützen, nivellieren, erhöhen und schrägen ab, schütten Latrinen zu und so weiter.
Um ein Uhr wird das Mittagessen in großen Gefäßen, ehemaligen Milchkannen und Marmeladeeimern, aus der Küche, die in einen Keller Monchys eingebaut ist, herausgeholt. Nach dem Essen wird etwas geschlafen oder gelesen. Allmählich kommen auch die beiden Stunden heran, die für den Grabendienst des Tages bestimmt sind. Sie verlaufen bedeutend schneller als die der Nacht. Man beobachtet die wohlbekannte feindliche Stellung durch Glas oder Scherenfernrohr und kommt auch öfters zum Schuß aus der Fernrohrbüchse gegen Kopfziele. Aber Vorsicht, auch der Engländer hat scharfe Augen und gute Gläser.
Ein Posten stürzt plötzlich blutüberströmt zusammen. Kopfschuß. Die Kameraden reißen ihm die Verbandpäckchen vom Rock und verbinden ihn. „Hat ja keen Zweck mehr, Willem.“ „Mensch, hei atmet doch noch!“ Dann kommen die Sanitäter, um ihn zum Verbandplatz zu tragen. Die Bahre stößt hart gegen die winkligen Schulterwehren. Kaum ist sie entschwunden, ist alles wieder beim alten. Einer wirft einige Schaufeln Erde über die rote Lache und jeder geht seiner Beschäftigung nach. Man ist ja so stumpf geworden. Nur ein Neuling lehnt noch mit bleichem Gesicht an der Verschalung. Er müht sich noch ab, die Zusammenhänge zu fassen. Das war ja so plötzlich, so furchtbar überraschend, ein unsäglich brutaler Überfall. Das kann ja gar nicht möglich, nicht Wirklichkeit sein. Armer Kerl, im Hintergrunde lauern auf dich noch ganz andere Dinge . . .
Oft ist es auch ganz nett. Manche sind mit sportsmäßigem Interesse bei der Sache. Mit einer gewissen Schadenfreude betrachten sie die Einschläge der eigenen Artillerie im feindlichen Graben. „Junge, der saß.“ „Donnerwetter, sieh mal, wie das spritzt! Armer Tommy!“ Gern schießen sie Gewehrgranaten und leichte Minen hinüber, sehr zum Mißvergnügen ängstlicher Gemüter. „Mensch, laß doch den Blödsinn, wir kriegen gerade Dunst genug!“
Die Stunde des Nachmittagskaffees ist manchmal direkt gemütlich. Oft muß der Fähnrich einem der Kompagnieoffiziere dabei Gesellschaft leisten. Es geht ganz förmlich zu: „Darf ich mir gestatten?“ „Danke gehorsamst!“ Eine schöne Eigenschaft des preußischen Offiziers, diese korrekte Geschlossenheit in jeder Lage. Sie verleiht auch dem ganz jungen etwas Festes, Persönliches.
Es schimmern sogar zwei Porzellantassen von der Tischdecke aus Sandsacktuch. Nachher stellt der Bursche eine Flasche und zwei Gläser auf den wackligen Tisch. Das Gespräch wird vertraulicher. Merkwürdigerweise bildet auch hier der liebe Nächste einen willkommenen Gegenstand der Unterhaltung. Es hat sich sogar ein üppiger Grabenklatsch entwickelt, der bei den Nachmittagsvisiten eifrig gepflegt wird. Bald wie in einer kleinen Garnison. Vorgesetzte, Kameraden und Untergebene werden einer gründlichen Kritik unterzogen. Ein neues, interessantes Gerücht hat im Nu die Zugführer-Unterstände sämtlicher sechs Kampfabschnitte vom rechten bis zum linken Flügel durchlaufen. Die Beobachtungsoffiziere, die mit Fernrohr und Skizzen-Mappe die ganze Regimentsstellung abgehen, sind nicht ganz unschuldig daran.
„Herr Leutnant, darf ich mich verabschieden, ich habe in einer halben Stunde Dienst!“ Draußen glänzen die Lehmwälle der Böschungen in den letzten Strahlen der Sonne, der Graben liegt bereits in tiefem Schatten. Bald steigt die erste Leuchtkugel empor, die Nachtposten ziehen auf, der neue Tag des Schützengrabensoldaten hat begonnen.
So verliefen unsere Tage in anstrengendem Gleichmaß, unterbrochen durch die kurze Ruhezeit in Douchy. Doch auch in Stellung bot sich manche schöne Stunde. Oft saß ich mit einem Gefühl behaglicher Geborgenheit am Tische meines kleinen Unterstandes, dessen rohe, waffenbehangene Bretterwände an Wildwest erinnerten, trank eine Tasse Tee, las und rauchte, während mein Bursche an dem winzigen Ofen beschäftigt war, der den Raum mit dem Geruch gerösteter Brotscheiben erfüllte. Welcher Grabenkämpfer kennt diese Stimmung nicht? Draußen am Postenstande stapften schwere, gleichmäßige Schritte, eintöniger Zuruf erscholl, wenn jemand im Graben entlang ging. Das abgestumpfte Ohr hörte kaum noch das nie erlöschende Gewehrfeuer, den kurzen Hieb auf Deckung schlagender Geschosse oder die Leuchtkugel, die neben der Mündung des Lichtschachtes verzischte. Dann nahm ich mein Notizbuch aus der Kartentasche und schrieb in kurzen Worten die Ereignisse des Tages nieder. So entstand mit der Zeit eine gewissenhafte Chronik des Abschnitts C, dieses kleinen, winkligen Stückes der langen Front, in dem wir zu Hause waren, in dem wir längst jeden verwachsenen Stichgraben, jeden verfallenen Unterstand kannten. Um uns ruhten in aufgetürmten Lehmwällen die Leichen gefallener Kameraden, auf jeder Fußbreite Boden hatte sich ein Drama abgespielt, hinter jeder Schulterwehr lauerte das Verhängnis, Tag und Nacht, sich wahllos ein Opfer zu greifen. Und doch empfanden wir alle ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zu unserem Abschnitt, waren fest mit ihm verwachsen. Wir kannten ihn, wenn er sich als schwarzes Band über die verschneite Landschaft zog, wenn die blumige Wildnis ringsum ihn zur Mittagsstunde mit betäubenden Gerüchen durchströmte, oder wenn die spukhafte Blässe des Vollmondes seine dunklen Winkel umspann, in denen pfeifende Rattenscharen ihr geheimnisvolles Wesen trieben. Wir saßen heiter an langen Sommerabenden auf seinen Lehmbänken, wenn die laue Luft geschäftiges Klopfen und heimatliches Lied zum Feinde trug; wir stürzten über Gebälk und zerhackten Draht, wenn der Tod mit stählerner Keule auf die Gräben loskolbte und träger Qualm aus zerrissenen Lehmwänden kroch. Oft wollte uns der Oberst einen ruhigeren Teil der Regimentsstellung anweisen, jedesmal bat die ganze Kompagnie wie ein Mann, im Abschnitt C bleiben zu dürfen. Ich bringe hier einen kurzen Auszug von den Notizen, die ich damals in den Nächten von Monchy niederschrieb.
7. 10. 1915. Stand in der Morgendämmerung neben dem Posten meiner Gruppe auf dem Schützenauftritt bei unserem Unterstande, als ein Gewehrgeschoß dem Mann die Feldmütze von vorn bis hinten aufriß, ohne ihn zu verletzen. Zur selben Stunde wurden am Draht zwei Pioniere verwundet. Der eine Querschläger durch beide Beine, der andere Schuß durchs Ohr.
Am Vormittag erhielt der linke Flügelposten einen Schuß durch beide Backenknochen. Das Blut sprudelte in dicken Strahlen aus der Wunde. Zu allem Unglück kam heute auch noch der Leutnant von Ewald in unseren Abschnitt, um die nur 50 Meter vom Graben entfernt liegende Sappe N. zu photographieren. Als er sich umdrehte, um wieder vom Postenstand herunterzusteigen, zerschmetterte ihm ein Geschoß den Hinterkopf. Er starb augenblicklich. Ferner bekam ein Mann einen leichten Schulterschuß.
19. 10. Der Abschnitt des mittleren Zuges wurde mit 15-Zentimeter-Granaten beschossen. Ein Mann wurde vom Luftdruck gegen einen Pfahl der Grabenverkleidung geschleudert. Er erlitt schwere innere Verletzungen, außerdem durchschlug ihm ein Splitter die Armschlagader. Im Morgennebel entdeckten wir beim Ausbessern unseres Drahtes vorm rechten Flügel eine französische Leiche, die schon Monate alt sein mußte. — In der Nacht wurden beim Drahtziehen zwei unserer Leute verwundet.
30. 10. In der Nacht stürzten infolge starker Regenschauer sämtliche Schulterwehren ein und verbanden sich mit dem Regenwasser zu zähem Brei, der den Graben in einen schwer passierbaren Sumpf verwandelte. Der einzige Trost war, daß es dem Engländer auch nicht besser ging, denn man sah, wie aus seinen Gräben eifrig Wasser geschöpft wurde. Da wir etwas erhöht liegen, pumpten wir ihm unseren Überfluß noch herunter. — Die herabstürzenden Grabenwände legten eine Reihe von Leichen aus den Kämpfen des vorigen Herbstes bloß.
21. 11. Ich führte eine Abteilung Schanzer von der „Feste Altenburg“ in den Abschnitt C, von denen der Landsturmmann Diener auf einen Vorsprung der Grabenwand stieg, um Erde über Deckung zu schaufeln. Kaum war er oben, als ein aus der Sappe abgefeuertes Geschoß quer durch seinen Schädel schlug und ihn tot auf die Grabensohle warf. Er war verheiratet und Vater von vier Kindern. Seine Kameraden lauerten noch lange Zeit hinter den Schießscharten, um Blutrache zu nehmen. Sie weinten vor Wut. Es ist merkwürdig, wie wenig objektiv sie den Krieg auffassen. Sie schienen in dem Engländer, der das tödliche Geschoß abgefeuert, einen ganz persönlichen Feind zu sehen. Ich kann es ihnen nachfühlen.
24. 11. Ein Mann der M. G. K. bekam in unserem Abschnitt einen schweren Kopfschuß. Einem anderen von unserer Kompagnie wurde eine halbe Stunde später durch Infanteriegeschoß die Backe aufgerissen.
Am 29. 11. rückte unser Bataillon für 14 Tage nach dem in der Etappe der Division gelegenen Städtchen Q., das später eine so blutige Berühmtheit erlangen sollte, um dort zu exerzieren und sich der Segnungen des Hinterlandes zu erfreuen. Während unseres Aufenthaltes dort erfuhr ich meine Beförderung zum Leutnant und wurde in die zweite Kompagnie versetzt, in der ich viele heitere und ernste Tage verleben sollte.
Wir wurden in Q. und den Nachbarorten öfters von dem Ortskommandanten zu schwerem Umtrunk geladen und bekamen einen kleinen Einblick in die fast unumschränkte Gewalt, mit der diese Dorffürsten ihre Untergebenen und die Einwohner beherrschten. Unser Rittmeister nannte sich König von Q. und erschien jeden Abend, durch Erheben der rechten Hände und ein donnerndes: „Es lebe der König“ begrüßt, an der Tischrunde, wo er als launige Majestät à la Shakespeare bis in den grauenden Morgen regierte, jeden Verstoß gegen die Etikette und seinen äußerst komplizierten Komment mit einer Bierrunde bestrafend. Wir Frontleute kamen als Neulinge natürlich sehr schlecht dabei weg. Am nächsten Tage sah man ihn dann nach dem Mittagessen meist leicht verschleiert im Dogcart durch seine Ländereien fahren, um den Nachbarkönigen bei kräftigem Bacchusopfer seine Visite abzustatten und sich so würdig für den Abend vorzubereiten. Einmal geriet er in einen Zwist mit dem Könige von I. und ließ durch einen berittenen Feldgendarmen Fehde ansagen. Nach mehreren Kampfhandlungen, während deren sich sogar zwei Abteilungen von Pferdeknechten aus kleinen, drahtbefestigten Gräben mit Erdklumpen bewarfen, war der König von I. so unvorsichtig, sich in der Kantine von Q. an bayrischem Biere gütlich zu tun und wurde beim Besuche eines einsamen Ortes überrascht und gefangengenommen. Er mußte sich mit einer gewaltigen Tonne Bieres loskaufen. So endete der Orlog der beiden Gewaltigen.
Die Einwohner standen unter strenger Disziplin, Übertretungen und Vergehen wurden vom Ortskommandanten in schneller Justiz mit empfindlichen Geld- und Freiheitsstrafen geahndet. So sehr ich Anhänger der logischen Durchführung des Machtgedankens bin, so zuwider und peinlich waren mir schon damals seine Auswüchse, wie die Grußpflicht jedes Einwohners, auch der Frauen, den Offizieren gegenüber. Derartige Anordnungen sind zwecklos, entwürdigend und schädlich. So wirtschafteten wir aber im ganzen Kriege: schneidig in Kleinigkeiten, unentschlossen gegenüber schweren inneren Schäden.
Am 11. 12. begab ich mich über Deckung in die vordere Linie, um mich beim Leutnant d. R. Wetje, dem Führer der zweiten Kompagnie, die auch den Abschnitt C besetzte, zu melden. Als ich in den Graben springen wollte, erschrak ich über die Veränderung, die die Stellung während unserer vierzehntägigen Abwesenheit erlitten hatte. Sie war zu einer riesigen, mit meterhohem Schlamm gefüllten Mulde zusammengesackt, in der die Besatzung ein traurig plätscherndes Amphibiendasein führte. Mit Wehmut dachte ich, schon bis zur Hüfte versunken, an den runden Tisch des Königs von Q. zurück. Wir armen Frontschweine! Fast alle Unterstände waren eingestürzt und die Stollen versoffen. Wir mußten in den nächsten Wochen unausgesetzt arbeiten, um uns nur etwas festen Boden unter die Füße zu bringen. Vorläufig hauste ich mit den Leutnants Wetje und Boje zusammen in einem Stollen, dessen Decke trotz der darunter gehängten Zeltbahn wie eine Gießkanne tropfte, und aus dem die Burschen alle halbe Stunden das Wasser mit Eimern nach oben schaffen mußten.
Als ich am anderen Morgen völlig durchnäßt den Stollen verließ, glaubte ich meinen Augen nicht trauen zu dürfen. Das Gelände, dem bisher die Einsamkeit des Todes ihren Stempel aufgedrückt, hatte das Aussehen eines Jahrmarktes angenommen. Die Besatzung beider Gräben war von dem furchtbaren Schlamm auf die Brustwehren getrieben, und schon hatte sich vor den Drahtverhauen ein lebhafter Verkehr und Austausch von Schnaps, Zigaretten, Uniformknöpfen usw. entwickelt. Die Menge khakifarbener Gestalten, die den bisher so öden englischen Gräben entquoll, wirkte direkt verblüffend.
Plötzlich fiel drüben ein Schuß, der einen unserer Leute tot im Schlamm versinken ließ, worauf beide Parteien maulwurfartig in den Gräben verschwanden. Ich begab mich zu dem Teil unserer Stellung, der der englischen Sappe gegenüberlag und rief hinüber, daß ich einen Offizier sprechen möchte. Wirklich begaben sich einige Engländer zurück und brachten nach kurzer Zeit einen jungen Mann mit, der sich, wie ich durchs Glas beobachten konnte, von ihnen durch eine zierlichere Mütze unterschied. Wir verhandelten zunächst in englischer, dann etwas fließender in französischer Sprache, während die Leute ringsumher zuhörten. Ich hielt ihm vor, daß einer unserer Leute durch einen hinterlistigen Schuß getötet wäre, worauf er antwortete, daß das nicht seine, sondern die Nachbarkompagnie getan hätte. „Il y a des cochons aussi chez vous!“ meinte er, als einige aus unseren Nebenabschnitt abgefeuerte Geschosse in der Nähe seines Kopfes einschlugen, worauf ich mich vorbereitete, sofort volle Deckung zu nehmen. Wir erzählten uns indes noch viel in einer Weise, die, ich möchte fast sagen, eine sportsmännische Achtung ausdrückte, und hätten am Schluß zum Andenken gern ein Geschenk ausgetauscht.
Es ist im Kriege immer mein Ideal gewesen, den Gegner unter Ausschaltung jedes Haßgefühls nur im Kampfe als solchen zu betrachten und ihn als Mann seinem Mute entsprechend zu werten. Ich habe gerade in diesem Punkte unter den englischen Offizieren viele verwandte Naturen kennengelernt.
Um wieder klare Verhältnisse zu bekommen, erklärten wir uns feierlich den Krieg binnen drei Minuten nach Abbruch der Verhandlungen, und nach einem „Guten Abend“ seinerseits und einem „Au revoir!“ meinerseits gab ich trotz des Bedauerns meiner Leute einen Schuß gegen sein Schutzschild ab, von dem drüben sofort einer folgte, der mir fast das Gewehr aus der Hand geschlagen hätte.
Zum ersten Mal konnte ich bei dieser Gelegenheit das Zwischenfeld vor der Sappe übersehen, da man sonst an dieser gefährlichen Stelle nicht einmal seinen Mützenrand zeigen durfte. Ich machte dabei die Beobachtung, daß dicht vor unserem Draht ein französischen Skelett lag, dessen weiße Knochen aus blauen Uniformfetzen schimmerten.
Kurz nach dieser Unterredung gab unsere Artillerie einige Schüsse auf die feindliche Stellung ab, worauf vor unseren Augen vier Bahren über das freie Feld getragen wurden, ohne daß von unserer Seite ein Schuß darauf abgegeben wurde. An den englischen Mützenschildern stellten wir an diesem Tage fest, daß uns das Regiment Hindostan-Leicestershire gegenüberlag.
Die Witterung wurde gegen Weihnachten immer trostloser; wir mußten Pumpen im Graben aufstellen, um des Wassers einigermaßen Herr zu werden. Den Christabend verbrachten wir in Stellung. Die Leute stimmten, im Schlamm stehend, Weihnachtslieder an, die jedoch von den Engländern mit M. G.’s übertönt wurden. Am Weihnachtstage verloren wir einen Mann des dritten Zuges durch Querschläger in den Kopf. Gleich darauf versuchten die Engländer eine freundschaftliche Annäherung, indem sie einen Christbaum auf ihre Brustwehr stellten, der jedoch von unseren erbitterten Leuten mit einigen Schüssen heruntergefegt wurde, was sie wiederum mit Gewehrgranaten beantworteten. So verlief unser Weihnachtsfest recht ungemütlich.
Am 28. 12. war ich Kommandant der „Feste Altenburg“. Es wurde an diesem Tage einem meiner besten Leute durch Granatsplitter ein Arm abgerissen. Ein anderer wurde von einer der vielen verirrten Kugeln, die unser in einer Senke liegendes Erdwerk umschwirrten, am Oberschenkel schwer verwundet. Auch mein getreuer August Kettler fiel auf dem Wege nach Monchy, von wo er mein Essen holen wollte, als erster meiner vielen Burschen, einem Schrapnellschuß zum Opfer, der ihn mit durchschlagener Luftröhre zu Boden streckte.
Auch der Januar war ein Monat anstrengendster Arbeit. Jede Gruppe entfernte mit Schaufeln, Eimern und Pumpen zunächst den Schlamm in der unmittelbaren Nähe ihres Unterstandes und suchte dann, nachdem sie sich festen Boden unter den Füßen geschaffen hatte, Verbindung mit den Nachbargruppen herzustellen. Im Walde von Adinfer, dem Standorte unserer Artillerie, waren Holzfäller-Kommandos beschäftigt, junge Bäume der Äste zu entkleiden und in lange Scheite zu spalten. Die Grabenwände wurden abgeschrägt und vollkommen mit diesem Material verkleidet. Auch wurden zahlreiche Wasserlöcher, Sickerschächte und Abflüsse gebaut, so daß wir allmählich wieder erträgliche Lebensverhältnisse bekamen.
Am 28. 1. 1916 wurde ein Mann meines Zuges durch Splitter eines an seinem Schutzschild zerschellenden Geschosses in den Leib getroffen. Am 30. bekam ein anderer eine Kugel in den Oberschenkel. Als wir am 1. 2. abgelöst wurden, lag gerade ein lebhaftes Feuer auf den Annäherungswegen. Ein Schrapnell fuhr direkt vor die Füße meines ehemaligen Putzers von der 6. Kompagnie, des Füsiliers Junge, explodierte aber nicht, sondern brannte aus, so daß er mit schweren Verbrennungen fortgetragen werden mußte.
In diesen Tagen wurde auch ein Unteroffizier der 6. Kompagnie, den ich gut kannte, und dessen Bruder vor einigen Tagen gefallen war, durch eine Kugelmine, die er gefunden hatte, tödlich verletzt. Er hatte den Zünder abgeschraubt und steckte, da er bemerkt hatte, daß das Pulver glatt abbrannte, eine glimmende Zigarette in die Öffnung. Die Mine explodierte natürlich und brachte ihm über 50 Wunden bei. Auf diese und ähnliche Weise hatten wir alle Augenblicke Verluste durch den Leichtsinn, den der ständige Umgang mit Sprengstoffen mit sich brachte. Ein unbehaglicher Nachbar in dieser Beziehung war der Leutnant Pook, der einen einsamen Unterstand im verwickelten Grabengewirre hinter dem linken Flügel bewohnte. Er hatte dort eine Anzahl riesiger Blindgänger zusammengeschleppt und beschäftigte sich damit, die Zünder abzuschrauben und zu untersuchen. Ich schlug jedesmal einen großen Kreis um diese unheimliche Behausung, wenn mich mein Weg daran vorüberführte.
In der Nacht vom 3. 2. waren wir nach einer anstrengenden Stellungsperiode wieder in Douchy angekommen. Ich saß am nächsten Morgen so recht in der Stimmung des ersten Ruhetages in meinem Quartier am Emmichs-Platz und trank behaglich Kaffee, als plötzlich ein Ungetüm von Granate, der Auftakt zu einer schweren Ortsbeschießung, dicht vor meiner Tür krepierte und mir die Fenster ins Zimmer warf. In drei Sätzen war ich im Keller, den auch die anderen Hausbewohner schon mit erstaunlicher Geschwindigkeit aufgesucht hatten, um dort das Bild einer kläglichen Gruppe zu bieten. Da der Keller halb über dem Boden gebaut und nur durch eine dünne Mauer vom Garten getrennt war, drängte sich alles in einem kurzen, engen Stollenhals zusammen. Zwischen den zusammengepreßten Körpern zwängte sich winselnd mein Schäferhund mit dem Instinkt des Tieres in die finsterste Ecke. Weit in der Ferne hörte man in regelmäßigen Abständen eine Reihe matter Abschüsse, denen nach einigen Sekunden das pfeifende Heranheulen der schweren Eisenklötze folgte, das rings um unser Häuschen in krachenden Explosionen endete. Jedesmal fuhr ein unangenehmer Luftdruck durch die Kellerfenster, Erdklumpen und Splitter prasselten auf das Ziegeldach, während in den Ställen die aufgeregten Pferde schnaubten und bäumten. Dazu winselte der Hund, und ein dicker Musiker schrie bei jedem Heranpfeifen laut auf, als ob ihm ein Zahn gezogen werden sollte.
Endlich war das Unwetter vorüber, und wir konnten uns wieder in die frische Luft begeben. Die verwüstete Dorfstraße war belebt wie ein beunruhigter Ameisenhaufen. Mein Quartier sah böse aus. Dicht neben der Mauer des Kellers war die Erde an verschiedenen Stellen aufgerissen, Obstbäume waren umgeknickt, und mitten im Torweg lag höhnisch ein langer Blindgänger. Das Dach war arg durchlöchert. Ein großer Splitter hatte den halben Schornstein mitgenommen. In der nebenan liegenden Kompagnie-Schreibstube hatten einige handliche Splitter die Wände und den großen Kleiderschrank durchbohrt und fast sämtliche dort verwahrten Offiziersuniformen zerfetzt, zum großen Ärger der Betroffenen, zu denen ich übrigens nicht gehörte.
Am 8. 2. bekam der Abschnitt C starkes Feuer. Schon am frühen Morgen schoß die eigene Artillerie einen Blindgänger in den Unterstand meiner rechten Flügelgruppe, der zur unangenehmen Überraschung der Insassen die Tür eindrückte und den Ofen umwarf. Ein Witzbold zeichnete später eine Karikatur, auf der sich acht Mann zugleich über den qualmenden Ofen durch die zerschmetterte Tür pressen, während der Blindgänger aus einer Ecke bösartig blinzelt. Ferner wurden uns am Nachmittag noch drei Unterstände zusammengeschossen, glücklicherweise dabei aber nur ein Mann leicht am Knie verwundet, da sich alles bis auf die Posten in die Stollen zurückgezogen hatte. Am folgenden Tage wurde ein Mann meines Zuges durch die Flankierungsbatterie tödlich in die Seite getroffen. Am 25. 2. wurden wir durch einen Todesfall, der uns einen vortrefflichen Menschen und beliebten Kameraden entriß, besonders ergriffen. Kurz vor der Ablösung bekam ich in meinem Unterstand die Meldung, daß soeben der Kriegsfreiwillige K. im Stollen nebenan gefallen wäre. Ich begab mich dorthin und fand, wie schon so oft, eine ernste Gruppe um die regungslose Gestalt stehend, die mit verkrampften Händen auf blutgetränktem Schnee lag, mit gläsernen Augen gen Himmel starrend. Wieder ein Opfer der Flankierungsbatterie! K. war bei den ersten Schüssen im Graben gewesen und sogleich in den Stollen gesprungen. Ein großer Splitter einer auf die dem Eingang gegenüberliegende Grabenwand schlagenden Granate sauste in den Stollenhals und traf ihn am Hinterkopf, als er sich bereits in Sicherheit wähnte. Er starb einen schnellen, unvermuteten Tod.
Die Flankierungsbatterie war in diesen Tagen überhaupt sehr rege. Ungefähr stündlich gab sie eine einzige, überraschende Salve ab, deren Sprengstücke genau den Graben abfegten. In den sechs Tagen vom 3. 2. bis 8. 2. kostete sie uns 3 Tote, 3 Schwer- und 4 Leichtverwundete. Trotzdem sie höchstens 1500 Meter von uns entfernt an einem Bergabhang in unserer linken Flanke stehen mußte, war es unserer Artillerie unmöglich, sie zum Schweigen zu bringen. Unser einziges Mittel, ihre Wirksamkeit zu vermindern, bestand in der Vermehrung und Erhöhung unserer Schulterwehren, um ihre Reichweite auf kleine Grabenstücke zu beschränken.
Anfang März hatten wir den gröbsten Dreck hinter uns. Das Wetter wurde trocken, und der Graben war sauber verschalt, so daß wir häufiger ein paar gemütliche Freistunden hatten. Jeden Abend saß ich im Unterstande vor meinem kleinen Schreibtisch und las oder plauderte, wenn ich Besuch bekommen hatte. Wir waren mit dem Kompagnieführer 4 Offiziere und führten ein sehr kameradschaftliches Zusammensein. Jeden Tag tranken wir im Unterstande des einen oder des anderen Kaffee oder saßen zu Abend, oft bei einer oder mehreren Flaschen, rauchten, spielten Karten und führten eine landsknechtsmäßige Unterhaltung. Diese gemütlichen Unterstandsstunden wiegen in der Erinnerung manchen Tag voll Blut, Schmutz und Arbeit auf. Sie waren auch nur in dieser langen und verhältnismäßig ruhigen Stellungsperiode möglich, wo wir uns fest ineinander eingelebt und beinahe friedensmäßige Gewohnheiten angenommen hatten. Unser Hauptstolz war unsere Bautätigkeit, in die uns von hinten sehr wenig hineinregiert wurde. In rastloser Arbeit wurde ein 30stufiger Stollen neben dem andern in den lehmigen Kreideboden getrieben und durch Quergalerien verbunden, so daß wir bequem sechs Meter unter der Erde vom rechten zum linken Flügel unserer Züge gelangen konnten. Mein Lieblingswerk war ein 60 Meter langer Stollengang von mir zum Kompagnieführer-Unterstand, der rechts und links mit Munitionskammern und Wohnräumen versehen war. Diese Anlage war während der späteren Kämpfe von hohem Wert.
Wenn wir uns nach dem Morgenkaffee (man bekam sogar fast regelmäßig die Zeitung nach oben), frisch gewaschen, mit dem Zollstock in der Hand im Graben begegneten, verglichen wir die Fortschritte unserer Abschnitte, während sich das Gespräch um Stollenrahmen, Musterunterstände, Arbeitszeiten und ähnliche Sachen drehte. Ich empfand abends, wenn ich mich auf meine Pritsche legte, immer ein angenehmes Gefühl in dem Bewußtsein, den Erwartungen der Heimat an meinem Platze entsprochen zu haben, indem ich mit aller Energie für die Verteidigung meiner 200 Meter Schützengraben und für das Wohl meiner 60 Mann gesorgt hatte.
Am 14. 3. schlug der Volltreffer einer 15-Zentimeter-Granate in unseren rechten Nachbarabschnitt, tötete drei Mann und verwundete drei andere schwer. — Am 18. erhielt der Posten vor meinem Unterstande einen Granatsplitter, der ihm die Backe aufriß und einen Ohrzipfel abschlug. — Am 19. wurde ein Mann am linken Flügel durch Kopfschuß schwer verwundet. — Am 23. fiel rechts neben meinem Unterstande der Füsilier L. durch Kopfschuß. Am selben Abend meldete mir ein Posten, daß eine feindliche Patrouille im Drahtverhau steckte. Ich verließ mit einigen Leuten den Graben, konnte jedoch nichts feststellen.
Am 7. 4. Wurde am rechten Flügel ein Mann durch Gewehrgeschoßsplitter am Kopfe verwundet. Diese Art von Verwundungen war bei uns infolge der beim geringsten Aufprall zerschellenden englischen Munition sehr häufig. Am Nachmittag wurde die Umgebung meines Unterstandes stundenlang mit schweren Granaten beworfen. Mein Lichtschachtfenster wurde zum x-ten Male zersplittert, und bei jeder Detonation flog ein Hagel von hartem Lehm durch die Öffnung, ohne uns indes beim Kaffeetrinken stören zu können.
Nachher hatten wir ein förmliches Duell mit einem tollkühnen Engländer, dessen Kopf über den Rand eines höchstens 100 Meter entfernten Grabens schaute, und der eine Reihe haarscharf gezielter Schüsse auf unsere Schießscharten abgab. Ich erwiderte das Feuer mit einigen Leuten, doch schlug sofort eine famos gezielte Kugel auf den Rand unserer Scharte, die uns die Augen voll Sand spritzte und mich durch einen kleinen Splitter unbedeutend am Hals verwundete. Wir ließen jedoch nicht locker, indem wir auftauchten, kurz zielten und wieder verschwanden. Gleich darauf platzte ein Geschoß am Gewehre des Füsiliers Storch, dessen Gesicht durch mindestens zehn Splitter getroffen, an allen Stellen blutete. Der nächste Schuß riß ein Stück aus dem Rand unserer Schießscharte; ein weiterer zerschmetterte den Spiegel, mit dem wir beobachteten, doch hatten wir die Genugtuung, daß unser Gegner nach einigen genau auf der Lehmbank vor seinem Gesicht aufgeschlagenen Geschossen spurlos verschwand. Gleich darauf schoß ich mit drei Schuß K-Munition das Schutzschild, hinter dem dieser rabiate Bursche immer wieder aufgetaucht war, über den Haufen.
Am 9. 4. flogen zwei englische Flieger wiederholt dicht über unsere Stellung. Die ganze Grabenbesatzung stürzte aus den Unterständen und eröffnete ein rasendes Feuer. Ich sagte gerade zu dem neben mir stehenden Leutnant Sievers: „Wenn nur die Flankierungsbatterie nicht aufmerksam wird!“ als uns auch schon die eisernen Fetzen um die Ohren flogen, und wir in den nächsten Stollen sprangen. Sievers stand vorm Eingange, ich riet ihm, weiter hineinzukommen und klatsch! saß ein handbreiter, noch dampfender Splitter vor seinen Füßen. Gleich darauf bekamen wir noch etliche Schrapnellminen, die über unseren Köpfen krepierten. Ein Mann wurde durch einen nadelkopfgroßen Splitter auf die Achsel getroffen, der trotz seiner Kleinheit ziemlich schmerzhaft war. Ich antwortete mit einigen Wurfminen, denn es war stillschweigende Übereinkunft der Infanterie, sich auf das Gewehr zu beschränken. Die Anwendung von Sprengstoffen wurde unter allen Umständen im Verhältnis von mindestens 2 : 1 erwidert. Leider hatte der Gegner meist so reichliche Munition, daß uns zuerst der Atem ausging.
Auf diesen Schrecken tranken wir in Sievers’ Unterstande einige Flaschen Rotwein, die mich unversehens so in Stimmung brachten, daß ich trotz hellen Mondscheins über Deckung zu meinem Domizil zurückspazierte. Bald verlor ich die Richtung, geriet in einen riesigen Minentrichter und hörte im nahen feindlichen Graben die Engländer arbeiten. Nachdem ich durch zwei Handgranaten sehr ruhestörend gewirkt hatte, zog ich mich eiligst in unseren Graben zurück, wobei ich noch in den aufgerichteten Stachel einer unserer schönen, aus vier geschärften Eisenspitzen bestehenden Fußangeln stürzte. Es herrschte in diesen Tagen überhaupt lebhafte Tätigkeit vorm Draht, die zuweilen eines gewissen blutigen Humors nicht entbehrte. So wurde einer unserer Patrouillengänger von eigenen Leuten angeschossen, weil er stotterte und den Paroleruf nicht schnell genug herausbringen konnte. Ein anderes Mal stieg einer, der in Monchy bei der Küche die Mitternacht gefeiert hatte, über das Hindernis und eröffnete ein selbständiges Schützenfeuer gegen den eigenen Graben. Er wurde, nachdem er sich verschossen hatte, hereingezogen und gehörig verprügelt.
Mitte April 1916 wurde ich nach Croisilles, einem Städtchen hinter der Divisionsfront, zu einem Offizier-Ausbildungskursus kommandiert, der unter persönlicher Leitung des Divisions-Kommandeurs, Generalmajor Sontag, stand. Es wurde theoretischer und praktischer Unterricht in einer ganzen Reihe von militärischen Fächern erteilt. Besonders fesselnd waren die taktischen Ausritte unter dem Major von Jarotzky. Häufige Ausflüge und Besichtigungen der meist aus dem Boden gestampften Einrichtungen des Hinterlandes gaben uns, die wir gewohnt waren, alles über die Achsel anzusehen, was sich hinter dem ersten Graben befand, einen Begriff von der unermeßlichen Arbeit, die im Rücken der kämpfenden Truppe geleistet wurde. So besuchten wir die Schlachterei, das Proviantdepot und die Geschützreparaturstelle in Boyelles, die Sägemühle und den Pionierpark im Walde von Bourlon, die Molkerei, die Schweinezüchterei und die Kadaververwertungsstelle in Inchy, den Flugpark und die Bäckerei in Quéant. Sonntags fuhren wir in die naheliegenden Städte Cambrai, Douai und Valenciennes, „um wieder mal Frauen mit Hüten zu sehen“. — Am 16. 6. wurden wir vom General wieder zur Truppe entlassen mit einer kleinen Ansprache, aus der wir entnahmen, daß sich eine große feindliche Offensive an der Westfront vorbereitete, deren linker Flügel ungefähr unserer Stellung gegenüberliegen sollte.
Daß etwas in der Luft liegen mußte, wurde uns auch nach der Rückkehr zum Regiment klar, denn die Kameraden erzählten von der zunehmenden Unruhe des Gegners. Die Engländer hatten zweimal, allerdings ohne Erfolg, eine Gewaltpatrouille gegen den Abschnitt C unternommen. Wir hatten uns durch einen schwer vorbereiteten Angriff von drei Offizierspatrouillen auf das sogen. Grabendreieck gerächt und dabei eine ganze Anzahl von Gefangenen gemacht. Während meiner Abwesenheit war Leutnant Wetje durch eine Schrapnellkugel am Arme verwundet, übernahm jedoch bald nach meiner Ankunft wieder die Führung der Kompagnie. Mein Unterstand hatte sich inzwischen auch verändert, er war durch einen Treffer um die Hälfte kleiner geworden.
Am 20. 6. bekam ich den Auftrag, vorm feindlichen Graben zu lauschen, ob der Gegner mit Minierarbeiten beschäftigt wäre und kletterte mit dem Fähnrich Wohlgemut, dem Gefreiten Schmidt und dem Füsilier Parthenfelder um 11.30 über unser eigenes, ziemlich hohes Drahtverhau. Wir gingen die erste Strecke gebückt vor und krochen dann nebeneinander über das dicht bewucherte Vorfeld weiter. Tertianer-Erinnerungen aus Karl May kamen mir ins Gedächtnis, als ich so auf dem Bauche durch betautes Gras und Distelgestrüpp rutschte, ängstlich bemüht, jedes Rascheln zu vermeiden, da sich 50 Meter vor uns der englische Graben als schwarzer Strich aus dem Halbdunkel hob. Die Garbe eines entfernten Maschinengewehres klatschte fast senkrecht um uns nieder; ab und zu fuhr eine Leuchtkugel hoch und warf ihr kaltes Licht auf den unwirtlichen Flecken Erde.
Einmal ertönte hinter uns lebhaftes Rascheln, zwei Schatten huschten zwischen den Gräben dahin. Während wir uns bereitmachten, auf sie loszustürzen, waren sie schon spurlos verschwunden. Gleich darauf verriet der Donner von zwei Handgranaten im englischen Graben, daß eigene Leute unseren Weg gekreuzt hatten. Langsam krochen wir weiter vor.
Plötzlich krampfte sich die Hand des Fähnrichs um meinen Arm: „Achtung rechts, ganz nahe, leise, leise!“ Gleich darauf hörte ich zehn Meter rechts von uns vielfaches Rauschen im Grase. Mit der blitzschnellen, logischen Schärfe, die man in solchen Situationen entwickelt, übersah ich die Lage. Wir waren die ganze Zeit am englischen Draht entlang gekrochen, der Feind hatte uns gehört und kam nun aus seinem Graben, um das Vorgelände zu untersuchen.
Unvergeßlich sind solche Augenblicke auf nächtlicher Schleiche. Auge und Ohr sind bis zum äußersten gespannt, das näher kommende Rauschen der fremden Füße im hohen Grase nimmt eine merkwürdige, unheildrohende Stärke an, — es füllt einen fast ganz aus. Der Atem geht stoßweise; man muß sich zwingen, sein keuchendes Wehen zu dämpfen. Mit kleinem, metallischem Knacks springt die Sicherung der Pistole zurück; ein Ton, der wie ein Messer durch die Nerven geht. Die Zähne knirschen auf der Zündschnur der Handgranate. Der Zusammenprall muß kurz und mörderisch werden. Man zittert unter zwei gewaltigen Sensationen: der gesteigerten Aufregung des Jägers und der Angst des Wildes. Man ist eine Welt für sich, vollgesogen von der dunklen, entsetzlichen Stimmung, die über dem wüsten Gelände lastet.
Eine Reihe verschwommener Gestalten tauchte dicht neben uns auf, Flüstern wehte herüber. Wir wandten ihnen den Kopf zu; ich hörte, wie der Bayer Parthenfelder auf die Klinge seines Dolches biß.
Sie kamen noch einige Schritte auf uns zu, fingen dann aber an, am Draht zu arbeiten, ohne uns bemerkt zu haben. Wir krochen ganz langsam, sie immer im Auge behaltend, zurück. Der Tod, der schon in ragender Erwartung zwischen den Parteien gestanden hatte, entglitt mißmutig. Nach einiger Zeit erhoben wir uns und gingen aufrecht weiter, bis wir wohlbehalten in unserem Abschnitt angekommen waren.
Der gute Ausgang dieses Ausfluges begeisterte uns zu dem Gedanken, einen Gefangenen zu machen, und wir beschlossen, am nächsten Abend wieder loszugehen. Am Nachmittage hatte ich mich deshalb gerade zur Ruhe gelegt, als ich durch einen donnerartigen Krach in der Nähe meines Unterstandes hochgeschreckt wurde. Die Engländer schickten Kugelminen herüber, die trotz dem geringen Abschußgeräusch von solcher Schwere waren, daß ihre Splitter die baumdicken Verschalungspfähle glatt abschlugen. Fluchend kletterte ich von meinem „coucher“ und begab mich in den Graben, um, wenn ich drüben wieder einen der schwarzen Stielbälle seine bogenförmige Laufbahn antreten sah, mit dem Geschrei: „Mine links“ zum nächsten Stollen zu sausen. Mit Minen aller Größen und Arten wurden wir in den nächsten Wochen so ausgiebig versorgt, daß es uns Gewohnheit wurde, bei unseren Gängen durch den Graben immer ein Auge in die Luft, das andere nach dem nächsten Stolleneingang zu richten.
In der Nacht schlich ich also wieder mit drei Begleitern zwischen den Gräben herum. Wir robbten uns auf den Fußspitzen und Ellenbogen bis dicht vor das englische Hindernis und verbargen uns dort hinter einzelstehenden Grasbüscheln. Nach einiger Zeit erschienen mehrere Engländer, die eine Rolle Draht schleppten. Sie blieben dicht vor uns stehen, setzten die Rolle ab, knipsten mit einer Drahtschere daran herum und unterhielten sich flüsternd. Wir schlängelten uns aneinander heran und führten im Hauchton eine hastige Unterhaltung: „Jetzt ’ne Handgranate dazwischen und dann auf ihn!“ „Mensch, das sind vier Mann!“ „Hei hett de Böx all wedder gestrichen vull!“ „Quatsch doch nich!“ „Leise, leise!“ Meine Warnung kam zu spät; als ich hochsah, krochen die Engländer gerade wie die Eidechsen unter ihren Draht und verschwanden im Graben. Nun wurde die Stimmung doch etwas schwül. Der Gedanke: „Gleich bringen sie ein M. G. in Stellung“ verursachte mir einen faden Geschmack im Munde. Auch die anderen hegten ähnliche Befürchtungen. Wir rutschten unter großem Waffengerassel auf dem Bauche nach rückwärts. Im englischen Graben wurde es lebhaft. Getrappel, Geflüster, Hin- und Herlaufen. Pschschscht . . . eine Leuchtkugel. Ringsumher wurde es taghell, während wir uns bemühten, unsere Köpfe in Grasbüscheln zu verstecken. Noch eine Leuchtkugel. Peinliche Momente. Man möchte in die Erde verschwinden und lieber an jedem anderen Orte sein, als zehn Meter vorm feindlichen Graben. Noch eine. Peng! Peng! Der unverkennbare scharfe, betäubende Knall einiger aus nächster Entfernung abgefeuerter Gewehrschüsse. Oha! Wir sind entdeckt!
Wir schrien uns ohne weitere Rücksicht unsere Absicht, wegzulaufen, zu, sprangen auf und rasten in dem nun losprasselnden Feuer auf unsere Stellung zu. Nach einigen Sätzen stolperte ich und schlug in einen kleinen, ganz flachen Granattrichter, während die drei anderen, mich für erledigt haltend, an mir vorbeihetzten. Ich preßte mich fest an den Boden, zog Kopf und Beine ein und ließ die Geschosse durch das hohe Gras über mich hinwegfegen. Ebenso unangenehm waren mir die glühenden Magnesiumklumpen der herabfallenden Leuchtkugeln, die zum Teil dicht neben mir abbrannten. Allmählich wurde das Schießen schwächer, und nach einer weiteren Viertelstunde verließ ich zunächst langsam, dann so schnell mich Füße und Hände tragen wollten, meinen Zufluchtsort. Da inzwischen der Mond untergegangen war, verlor ich bald jede Orientierung und wußte weder wo die englische, noch wo die deutsche Seite sich befand. Nicht einmal die charakteristische Ruine der Monchy-Mühle hob sich mehr vom Horizonte ab. Ab und zu kam ein Geschoß von der einen oder anderen Seite mit geradezu beängstigender Rasanz durch die Gegend geflogen. Ich legte mich resigniert ins Gras und beschloß, die Morgendämmerung abzuwarten. Plötzlich ertönte dicht neben mir Gewisper. Ich nahm wieder Gefechtsbereitschaft ein und gab als vorsichtiger Mann zunächst eine Reihe von Naturlauten ab, nach denen ich ebenso gut ein Engländer als ein Deutscher sein konnte. Den ersten englischen Zuruf beschloß ich mit einer Handgranate zu quittieren. Zu meiner Freude stellte sich jedoch heraus, daß ich meine Leute vor mir hatte, die gerade beim Abschnallen der Koppel waren, um meine Leiche darauf zurückzutragen. Wir saßen noch eine Weile in dem Trichter zusammen und freuten uns über unser glückliches Wiedersehen. Dann begaben wir uns in unseren Graben zurück, den wir nach dreistündiger Abwesenheit erreichten.
Am Morgen hatte ich schon wieder um 5 Uhr Grabendienst. Im Abschnitt des ersten Zuges fand ich den Feldwebel H. vor seinem Unterstande. Alle ich mich wunderte, ihn zu so früher Stunde zu sehen, erzählte er mir, daß er beim Anstande auf eine große Ratte wäre, die ihm den Nachtschlaf raubte. Dabei betrachtete er angelegentlich seinen lächerlich kleinen Unterstand, den er „Villa Leberecht Hühnchen“ getauft hatte.
Als wir so nebeneinander standen, hörten wir einen dumpfen Abschuß, der indes nichts Besonderes zu bedeuten hatte. H., der am Tage vorher beinahe von einer großen Kugelmine erschlagen wäre und daher sehr nervös war, fuhr wie ein Blitz nach dem nächsten Stolleneingang, rutschte in seiner Hast die ersten 15 Stufen sitzend hinunter und benutzte die letzten 15 dazu, sich dreimal zu überschlagen. Ich stand oben am Eingang und vergaß vor Lachen Mine und Stollen, als ich diese schmerzhafte Unterbrechung einer Rattenjagd von dem armen Opfer unter empfindlichem Reiben verschiedener Körperstellen beklagen hörte. Der Unglücksmensch gestand mir auch noch, daß er gestern gerade beim Abendbrot gesessen hätte, als die Mine ankam. Erstlich wäre sein ganzes Essen versandet gewesen und er außerdem schon gestern recht empfindlich die Treppe hinuntergefallen.
Nach dieser erheiternden Episode begab ich mich in meinen Unterstand, sollte indes auch heute nicht zum erquickenden Schlummer kommen. Vom frühen Morgen an wurde unser Graben in immer kürzeren Zwischenräumen mit Minen beworfen. Gegen Mittag wurde mir die Sache zu bunt. Ich machte mit einigen Leuten unseren Lanzschen Minenwerfer fertig und nahm die feindlichen Gräben unter Feuer, eine allerdings etwas schwächliche Erwiderung der schweren Geschosse, mit denen wir reichlich bedacht wurden. Schwitzend hockten wir auf dem von der Junisonne heißgebrannten Lehm einer kleinen Grabenmulde und schickten Mine auf Mine nach drüben. Da sich die Engländer durchaus nicht stören ließen, begab ich mich mit Leutnant Wetje ans Telephon, wo wir nach reiflicher Überlegung folgenden Notruf erschallen ließen: „Helene spuckt in unseren Graben, lauter dicke Brocken, wir brauchen Kartoffeln, große und kleine!“ Dies Kauderwelsch wurde angewandt, um dem etwa mithörenden Gegner nichts zu verraten; es kam dann auch bald vom Oberleutnant Deichmann die tröstliche Antwort, daß sogleich der dicke Wachtmeister mit dem strammen Schnurrbart nebst einigen kleinen Jungen nach vorn kommen würde, und gleich darauf sauste unsere erste Zwei-Zentner-Mine mit unerhörtem Krachen in den feindlichen Graben, gefolgt von einigen Gruppen der Feldartillerie, so daß wir für den Rest des Tages Ruhe hatten.
Am nächsten Mittag begann indes der Tanz in bedeutend schärferer Weise. Beim ersten Schuß begab ich mich durch meinen unterirdischen Gang in den zweiten Graben und von dort in den Laufgraben, in dem wir unseren Minenwerfer aufgebaut hatten. Wir eröffneten das Feuer in der Weise, daß wir bei jeder ankommenden Kugelmine eine Lanz-Mine abschossen. Nachdem wir ungefähr 40 Minen gewechselt hatten, schien sich der feindliche Richtschütze auf uns persönlich einzuschießen. Bald schlugen einige Geschosse rechts, andere links neben uns ein, ohne unsere Tätigkeit unterbrechen zu können, bis eine gerade auf uns zukam. Wir rissen im letzten Moment noch unsere Abzugsleine durch und liefen dann so schnell wie möglich fort. Gerade war ich in einen schlammigen, drahtdurchzogenen Graben gelangt, als das Unding dicht hinter mir krepierte. Der gewaltige Luftdruck warf mich über ein Bündel Stacheldraht in ein mit grünlichem Schlamm gefülltes Granatloch, während gleichzeitig ein Schauer harter Lehmklumpen auf mich herabrasselte. Halb betäubt und übel zugerichtet erhob ich mich. Hose und Stiefel waren durch den Stacheldraht zerrissen, Gesicht, Hände und Uniform mit zähem Lehm überkleistert, und das Knie blutete aus einer langen Schramme. Ziemlich abgekämpft schlich ich durch den Graben in meinen Unterstand, um mich auszuruhen.
Sonst hatten die feindlichen Minen keinen großen Schaden angerichtet. Der Graben war an einigen Stellen zerstört, ein Priester-Minenwerfer zerschmettert, und „Villa Leberecht Hühnchen“ hatte durch einen Volltreffer den Rest bekommen. Der unglückliche Besitzer hatte schon unten im Stollen gesessen, sonst hätte er wohl bei dieser Gelegenheit seinen dritten Treppensturz vollführt.
Den ganzen Nachmittag ging die Schießerei ununterbrochen weiter und wurde in den Abendstunden durch eine Unzahl zylindrischer Minen zum Trommelfeuer gesteigert. Unsere Leute nannten diese walzenförmigen Geschosse die „Waschkorb-Minen“, da es manchmal den Eindruck machte, als würden sie mit Körben vom Himmel geschüttet.
Wir saßen mit gespannter Erwartung in den Stolleneingängen, bereit, jeden Ankömmling mit Gewehr und Handgranate zu begrüßen, jedoch flaute das Feuer nach einer halben Stunde wieder ab. In der Nacht hatten wir noch zwei Feuerüberfälle, während deren unsere Posten unerschütterlich auf ihren Ständen Ausschau hielten, zu bestehen. Sowie das Feuer nachließ, bestrahlten zahlreiche emporsteigende Leuchtkugeln die aus den Stollen hervorstürzenden Verteidiger, und ein rasendes Feuer überzeugte den Feind von der unbeugsamen Entschlossenheit hannöverscher Füsiliere.
Trotz dem wahnsinnigen Feuer verloren wir nur einen Mann, dem durch eine auf ein Schutzschild schlagende Mine der Schädel zerschmettert wurde. Ein anderer wurde am Rücken verwundet.
Auch am Tage, der diese unruhige Nacht ablöste, bereiteten uns zahlreiche Feuerwirbel auf einen baldigen Angriff vor. Unser Graben wurde während dieser Zeit kurz und klein geschossen und durch die zerschlagenen Hölzer der Verschalung fast ungangbar gemacht, auch wurde eine Reihe von Unterständen eingedrückt.
Wir beschlossen, während der kommenden Nacht sämtlich wach zu bleiben, und verabredeten, daß derjenige, der auf den Zuruf „Hallo“ nicht seinen Namen riefe, sofort niedergeschossen werden sollte. Jeder Offizier hatte seine Leuchtpistole mit einer roten Kugel geladen, um die Artillerie unverzüglich verständigen zu können.
Die Nacht wurde noch toller als die vorige. Besonders ein Feuerüberfall um 2.15 Uhr übertraf alles Vorhergegangene. Rings um meinen Unterstand schlug ein Hagel schwerer Geschosse ein. Wir standen in voller Bewaffnung auf der Stollentreppe; das Licht der kleinen Kerzenstümpfe schimmerte vielfach an den nassen, schimmligen Wänden. Durch die Eingänge strömte blauer Qualm, Erde bröckelte von der Decke. Wumm! „Donnerwetter!“ „Streichholz, Streichholz!“ „Alles fertigmachen!“ Das Herz schlug bis zum Halse. Fliegende Hände lösten die Kapseln der Handgranaten. „Das war die letzte!“ „Rrraus!“ Als wir zum Ausgang stürzten, ging noch eine Mine mit verzögerter Zündung los und schleuderte uns durch ihren Luftdruck wieder zurück. Trotzdem waren, während noch die letzten Eisenvögel herunterrauschten, schon alle Postenstände von der wackeren Mannschaft besetzt. Knatterndes Schnellfeuer sprang auf, und Leuchtkugeln strahlten Mittagshelle auf das mit dichten Rauchschwaden behängte Vorgelände.
Als das Feuer schon verstummt war, erlitten wir noch einen Verlust. Der Füsilier N. fiel plötzlich von seinem Postenstande und rollte polternd die Stollentreppe herunter, mitten in den Kreis seiner unten versammelten Kameraden. Als wir den unheimlichen Ankömmling untersuchten, fanden wir eine kleine Wunde an der Stirn und eine blutende Öffnung über der rechten Brustwarze. Es blieb uns unklar, ob die Verwundung oder der jähe Sturz seinen Tod herbeigeführt hatte.
Am Ende dieser Schreckenssnacht wurden wir von der 6. Kompagnie abgelöst. Mit jener eigentümlichen Mißstimmung, die eine in der Morgensonne strahlende Landschaft auf die erschöpften, übernächtigten Nerven ausübt, zogen wir durch die Laufgräben nach Monchy und von dort zu der sich vor dem Waldrande von Adinfer hinziehenden zweiten Stellung, von wo wir einen grandiosen Ausblick auf den ersten Auftakt zur Sommeschlacht hatten. Die Frontabschnitte links von uns waren in weiße und schwarze Rauchwolken gehüllt, turmhoch spritzte ein schwerer Einschlag neben dem anderen; darüber zuckten zu Hunderten die kurzen Blitze platzender Schrapnells.
Als wir am Abend endlich einmal ausschlafen wollten, bekamen wir Befehl, in Monchy schwere Minen zu verladen und mußten die ganze Nacht vergeblich auf irgendeinen steckengebliebenen Wagen warten, während der Engländer mit M. G.-Steilfeuer und die Straße hinunterfegenden Schrapnells verschiedene, zum Glück erfolglose Attentate auf unser Leben ausübte.
In dieser Nacht gab mir der Gegner ein Beispiel seiner höchst sorgfältigen Beobachtung. In der zweiten Stellung, ungefähr 2000 Meter vom Feinde, war vor einem im Bau befindlichen Munitionsstollen ein Haufen Kreide aufgeschichtet. Der Engländer zog daraus den leider richtigen Schluß, daß dieser Hügel in der Nacht verzogen würde und schoß eine Gruppe Schrapnells darauf ab, durch die er wirklich drei Mann schwer verwundete.
Am Morgen wurde ich schon wieder durch den Befehl, meinen Zug zum Schanzen in den Abschnitt C zu führen, aus dem Schlaf gerissen. Meine Gruppen wurden innerhalb der 6. Kompagnie verteilt. Ich ging mit einigen Leuten zum Walde von Adinfer zurück, um sie beim Holzhauen anzustellen. Auf dem Rückwege zur Stellung trat ich in meinen Unterstand, um dort ein halben Stündchen auszuruhen. Doch umsonst, ich sollte in diesen Tagen keine ungestörte Ruhe finden. Kaum hatte ich die Stiefel ausgezogen, als ich unsere Artillerie vom Waldrande her merkwürdig lebhaft feuern hörte. Gleichzeitig erschien mein Bursche Paulicke am Stolleneingang und schrie herunter: „Gasangriff!“
Ich riß die Gasmaske heraus, fuhr in die Stiefel, schnallte um, rannte nach draußen und sah dort, wie eine riesige Gaswolke in dichten weißlichen Schwaden über Monchy hing und sich auf den im Grunde liegenden Punkt 124 zuwälzte.
Da mein Zug zum größten Teil vorn in Stellung und ein Angriff sehr wahrscheinlich war, gab es für mich kein langes Überlegen. Ich sprang über das Hindernis der zweiten Stellung, rannte vor und war bald mitten in der Gaswolke. Ich setzte die Maske auf, riß sie aber gleich wieder herunter, da ich so stark gelaufen war, daß ich durch den Einsatz nicht genügend Luft bekommen konnte; auch waren die Augengläser im Nu beschlagen und vollkommen undurchsichtig. Da ich Bruststiche verspürte, versuchte ich, die Wolke wenigstens so schnell wie möglich zu durchqueren. Vor dem Dorfrande mußte ich noch einen Sperrfeuerriegel passieren, dessen Einschläge, von zahlreichen Schrapnellwolken unterbrochen, eine lange, regelmäßige Kette über die verödeten, sonst nie betretenen Felder zog.
Artilleriefeuer in derartig offenem Gelände, in dem man sich frei bewegen kann, hat weder dieselbe tatsächliche, noch moralische Wirkung wie in Ortschaften oder Stellungen. So hatte ich im Nu die Feuerlinie hinter mich gelegt und befand mich in Monchy, das unter einem tollen Schrapnellhagel lag. Ein Schauer von Kugeln, Ausbläsern und Zündern fegte durch das Geäst der Obstbäume in den verwilderten Gärten und klatschte gegen die Reste der zerstörten Mauern.
In einem Unterstande der Gärten sah ich meine Kompagnie-Kameraden Sievers und Vogel sitzen; sie hatten ein loderndes Holzfeuer entzündet und beugten sich über die reinigende Flamme, um den Wirkungen des Chlors zu entgehen. Ich leistete ihnen bei dieser Beschäftigung Gesellschaft, bis das Feuer abgeflaut war, und ging dann durch den Laufgraben 6 nach vorn. Da ich in meinem unverbesserlichen Phlegma ganz langsam durch den Graben schlenderte, begegnete es mir, daß ich, nur 50 Meter vom Kompagnieführer-Unterstande entfernt, noch einmal in einen wahnsinnigen Feuerüberfall geriet und, in eine kleine Nische gedrückt, das Unwetter über mich ergehen lassen mußte.
Vorn waren alle Leute beschäftigt, ihre Gewehre einzufetten, die durch das Gas vollkommen geschwärzt waren. Ein Fähnrich zeigte mir wehmütig sein neues Portepee, das seinen strahlenden Glanz eingebüßt und dafür ein grünlich-schwarzes Aussehen angenommen hatte.
Da beim Gegner alles ruhig geblieben war, rückte ich mit meinen Gruppen wieder ab. In Monchy sahen wir vor dem Revier eine Menge von Gaskranken sitzen, die sich die Hände in die Seiten preßten, stöhnten und würgten, während ihnen das Wasser aus den Augen lief. Die Sache war keineswegs harmlos, denn einige von ihnen starben etliche Tage darauf nach furchtbaren Schmerzen. Wir hatten einen Blasangriff von reinem Chlor auszuhalten gehabt, einem Kampfgas, das durch Ätzen und Verbrennen der Lungen wirkt. Auf dem Rückwege ging ich, um etwas zu kaufen, in die Kantine des II. Bataillons und fand dort den betrübten Kantinenjüngling inmitten eines Haufens zerschlagener Waren vor. Eine Granate war durch die Decke gefahren, im Laden krepiert und hatte seine Schätze in ein merkwürdiges Gemisch von Marmelade, ausgelaufenen Konserven und Seife verwandelt. Er hatte gerade mit echt preußischer Genauigkeit eine Unkostenaufstellung von 82 Mark und 58 Pfennig entworfen.
Am Abend wurde mein Zug, der bisher detachiert in der zweiten Stellung gelegen hatte, der unsicheren Gefechtslage wegen bis in das Dorf vorgezogen und bekam das Bergwerk als Aufenthaltsort angewiesen. Wir richteten uns die zahlreichen Nischen als Lagerplätze ein und zündeten ein riesiges Feuer an, dessen Rauch wir durch den Brunnenschacht abziehen ließen, sehr zum Ärger einiger Kompagnieköche, die beim Wasserholen fast erstickten. Da wir einen kräftigen Grog empfangen hatten, setzten wir uns rings um das Feuer auf die Kreideblöcke, sangen, tranken und rauchten.
Um Mitternacht ging im Gefechtsbogen von Monchy ein Höllenspektakel los. Dutzende von Alarmglocken bimmelten, Hunderte von Gewehren knallten und ununterbrochen stiegen grüne und weiße Leuchtkugeln hoch. Gleich darauf setzte unser Sperrfeuer ein, schwere Minen krachten und zogen Schweife von feurigen Funken hinter sich her. Überall, wo im Trümmergewirr eine Menschenseele hauste, erscholl der langgezogene Schrei: „Gasangriff!“ „Gasangriff!“
Im Scheine der Leuchtkugeln wälzte sich eine weißliche Gaswand durch das Dorf. Da sich auch im Bergwerke ein starker Chlorgeruch bemerkbar machte, zündeten wir vor den Eingängen große Strohfeuer an, deren beizender Qualm uns fast aus unserem Zufluchtsort vertrieb und uns zwang, die Luft durch Schwenken von Mänteln und Zeltbahnen zu reinigen.
Am nächsten Morgen konnten wir im Dorfe die Spuren, die der Gasangriff hinterlassen hatte, bestaunen. Ein großer Teil aller Pflanzen war verwelkt, Schnecken und Maulwürfe lagen tot umher, und den in Monchy untergebrachten Pferden der Meldereiter lief das Wasser aus Maul und Augen. Die überall verstreuten Geschosse und Granatsplitter waren von einer schönen, grünen Patina überzogen. Auch in dem weit zurückliegenden Douchy machte sich die Gaswolke noch bemerkbar. Die Zivilisten, denen die Sache unheimlich wurde, versammelten sich vor dem Quartier des Oberstleutnants von Oppen und verlangten Gasmasken. Sie wurden auf Lastautos gesetzt und in weiter zurückliegende Ortschaften transportiert.
Die nächste Nacht verbrachten wir wieder im Bergwerk; am Abend bekam ich Nachricht, daß um 4.15 Uhr Kaffee empfangen werden sollte, da ein englischer Überläufer ausgesagt hätte, daß um 5 Uhr angegriffen würde. Wirklich, kaum hatten mich am Morgen die zurückkehrenden Kaffeeholer aus dem Schlaf gestört, als der uns nicht mehr fremde Ruf „Gasangriff!“ erscholl. Draußen lag süßlicher Phosgengeruch in der Luft, und im Monchy-Bogen tobte starkes Trommelfeuer, das jedoch bald abflaute.
Ein erquickender Morgen folgte dieser unruhigen Stunde. Aus dem Laufgraben 6 trat der Leutnant Brecht auf die Dorfstraße, einen blutigen Verband um die Hand gewunden, von einem Mann mit aufgepflanztem Seitengewehr und einem gefangenen Engländer begleitet. Er wurde im Stabsquartier West im Triumph empfangen und erzählte folgendes:
Die Engländer hatten um 5 Uhr Gas- und Rauchwolken abgeblasen und anschließend den Graben stark mit Minen betrommelt. Unsere Leute waren wie gewöhnlich noch im Feuer aus Deckung gesprungen und hatten dabei über 30 Verluste gehabt. Dann waren, in Rauchwolken verborgen, zwei starke englische Patrouillen erschienen, von denen eine in den Graben eingedrungen war und einen verwundeten Unteroffizier mitgenommen hatte. Die andere war schon vor dem Drahtverhau zusammengeknallt worden. Ein einziger, der bereits das Hindernis überwunden hatte, wurde von dem Leutnant Brecht, der vorm Kriege ein Pflanzerleben in Amerika geführt hatte, an der Gurgel gepackt und mit einem „Come here, you son of a bitch!“ in Empfang genommen. Dieser einzige wurde nun mit einem Glase Wein bewirtet und schaute mit halb erschreckten, halb verwunderten Augen auf die eben noch menschenleere Dorfstraße, die jetzt von Essenholern, Krankenträgern, Meldegängern und Neugierigen wimmelte. Bald traf ein langer Zug von Bahren am Verbandsplatze ein. Auch vom Abschnitt Süd kamen viele Verwundete, denn im Kompagnieabschnitt E war ebenfalls eine starke Patrouille in den Graben gedrungen. Ungefähr 50 Tragen, auf denen stöhnende Menschen mit weißen, blutdurchtränkten Verbänden lagen, waren vor einigen Wellblechbögen aufgestellt, unter denen der Arzt seines Amtes waltete.
Ein junges Kerlchen, dessen blaue Lippen als schlimmes Vorzeichen aus einem schneeweißen Gesicht leuchteten, stammelte: „Ich bin zu schwer . . . ich werde nicht wieder . . . ich — muß — sterben.“ Ein dicker Sanitäts-Unteroffizier sah ihn mitleidig an und murmelte verschiedene Male ein tröstendes: „Nun, nun, Kamerad!“
Trotzdem der Engländer diesen kleinen Angriff, der hauptsächlich Kräfte von uns zum Vorteil der Somme-Offensive binden sollte, durch zahlreiche Minenüberfälle und Gaswolken vorbereitet hatte, fiel ihm dabei nur ein, dazu verwundeter Gefangener in die Hände, während er zahlreiche Tote vor unserem Draht liegen ließ. Unsere Verluste waren allerdings auch beträchtlich, das Regiment verlor an diesem Vormittage über 40 Tote, darunter drei Offiziere.
Am nächsten Nachmittag rückten wir endlich wieder für einige Tage nach unserem lieben Douchy ab. Noch am selben Abend feierten wir den glücklichen Verlauf dieser kleinen Aktion durch einige wohlverdiente Flaschen.
Am 1. Juli wurde uns die traurige Aufgabe, einen Teil unserer Toten auf unserem Kirchhofe zu bestatten. 39 rohe Holzsärge wurden nach einer ergreifenden Ansprache des Pfarrers Philippi, während der die Leute weinten wie Kinder, in die Grube gesenkt. Der Pfarrer sprach über den Text: „Sie haben einen guten Kampf gekämpft,“ und begann mit den Worten: „Gibraltar, das ist Euer Zeichen und fürwahr, Ihr habt gestanden wie der Fels im brandenden Meer!“[2]
In dieser ergreifenden Stunde wurde mir der hohe ethische Wert unserer feierlichen Handlungen klar. Oft haben wir auf irgendeinem Schlachtfelde die zehnfache Zahl von Kameraden liegen lassen müssen und waren von dem Verlust doch nicht so tief gepackt, wie hier vor den offenen Gräbern.
Während dieser Tage lernte ich die Leute erst recht schätzen, mit denen zusammen ich noch drei Kampfjahre verbringen sollte.
In der ganzen Armee wird man keinen Mann finden, der so verläßlich, einfach und ohne Phrase seine Pflicht tut wie der Niedersachse. Wenn es galt zu zeigen: hier steht ein Mann und wenn es sein muß, fällt er hier, war jeder bis zum letzten zur Stelle. —
Am Abend des 3. Juli rückten wir wieder nach vorn. Es war verhältnismäßig ruhig, doch verrieten kleine Anzeichen, daß noch etwas in der Luft liegen mußte. Bei der Mühle klopfte und hämmerte es leise und unaufhörlich. Oft fingen wir verdächtige Ferngespräche über Gasflaschen und Sprengungen, an einen englischen Pionieroffizier in vorderer Linie gerichtet, auf. Vom Morgengrauen bis zum letzten Tagesschimmer flogen feindliche Flugzeuge eine dichte Luftsperre. Der Durchschnitt der täglichen Grabenbeschießung war bedeutend stärker als gewöhnlich. Trotzdem wurden wir am 12. Juli abgelöst, ohne unangenehme Erlebnisse gehabt zu haben und blieben als Reserve in Monchy.
Am 13. abends wurden unsere Unterstände in den Gärten durch ein 24-Zentimeter-Schiffsgeschütz beschossen, dessen gewaltige Granaten in scharfer Flachbahn herangurgelten und mit wahrhaft furchtbaren: Knall zerbarsten. In der Nacht wurden wir durch lebhaftes Feuer und einen Gasangriff geweckt. Wir saßen im Unterstande mit aufgesetzter Gasmaske um den Ofen herum, bis auf Vogel, der seine Maske nicht finden konnte und jammernd hin- und herlief, während einige schadenfrohe Gesellen vorgaben, einen immer stärkeren Gasgeruch zu verspüren. Schließlich gab ich ihm meine zweite Atempatrone, und er hockte eine Stunde lang wie ein Häufchen Unglück hinter dem gewaltig qualmenden Ofen, hielt sich mit Jammermiene die Nase zu und sog an seinem Einsatz.
Ein Angriff erfolgte in dieser Nacht nicht; trotzdem kostete die dumme Geschichte dem Regiment 25 Tote und viele Verwundete. — Am 15. und 17. hatten wir zwei weitere Gasangriffe auszuhalten. Am 17. wurden wir abgelöst und hatten in Douchy zwei schwere Beschießungen zu bestehen. Eine überraschte uns gerade während einer Offiziersbesprechung durch den Major von Jarotzky in einem Obstgarten. Trotz der Gefahr bot es einen Anblick von überwältigender Komik, zu sehen, wie die Gesellschaft auseinanderspritzte, auf die Nase fiel, sich mit unglaublicher Geschwindigkeit durch die Hecken zwängte und blitzschnell in allen möglichen Deckungen verschwunden war. Eine Granate tötete im Garten meines Quartiers ein achtjähriges kleines Mädchen, das dort in einer Grube nach Abfällen suchte.
Am 20. Juli rückten wir in Stellung. Am 28. verabredete ich mich mit dem Fähnrich Wohlgemut, den Gefreiten Bartels und Birkner zu einer Patrouille. Wir hatten kein anderes Ziel im Auge, als etwas zwischen den Drähten herumzustreichen und zu sehen, was uns das Niemandsland Neues brächte. Am Nachmittag kam der mich ablösende Offizier der 6. Kompagnie, Leutnant Brauns, zu Besuch in meinen Unterstand und brachte mehrere gute Flaschen mit. Um ½ 12 Uhr brachen wir die Sitzung ab; ich ging in den Graben, wo meine drei Gefährten schon im dunklen Winkel einer Schulterwehr zusammenstanden. Nachdem ich mir einige trockene Handgranaten ausgesucht hatte, kletterte ich in der fröhlichsten Stimmung über den Draht, während Brauns mir ein „Hals- und Bauchschuß!“ nachrief.
Wir hatten uns in kurzer Zeit an das feindliche Hindernis herangepirscht. Dicht davor entdeckten wir im hohen Grase einen ziemlich starken, gut isolierten Draht. Ich hielt die Beobachtung für wichtig und beauftragte Wohlgemut, ein Stück davon abzuschneiden und mitzunehmen. Während er sich in Ermangelung eines anderen Instruments mit seiner Zigarrenschere daran abplagte, klirrte es direkt vor uns im Draht; einige Engländer tauchten auf und begannen zu arbeiten, ohne unsere ins Gras gedrückten Gestalten wahrzunehmen.
Der bösen Erfahrungen der vorigen Patrouille eingedenk, hauchte ich fast unhörbar: „Wohlgemut, Handgranate dazwischen!“ „Herr Leutnant, ich glaube, wir lassen sie noch etwas arbeiten!“ „Direkter Befehl, Fähnrich!“
Der Geist des preußischen Kasernenhofes verfehlte auch in dieser Einöde nicht seine mächtige Wirkung. Mit dem fatalen Gefühl eines Mannes, der sich in ein sehr ungewisses Abenteuer eingelassen hat, hörte ich neben mir das trockene Knistern der herausgerissenen Zündschnur und sah, wie Wohlgemut, um sich möglichst wenig zu zeigen, die Handgranate ganz flach über den Boden rollen ließ. Sie blieb im Gestrüpp, beinahe zwischen den Engländern, liegen, die nichts bemerkt zu haben schienen. Es vergingen einige Momente höchster Spannung. „Krrrach!“ Ein Blitz beleuchtete taumelnde Gestalten. Mit dem Angriffsgebrüll: „You are prisoners!“ stürzten wir uns wie Tiger in die weiße Wolke. Eine wüste Szene wickelte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Ich hielt meine Pistole mitten in ein Gesicht, das mir wie eine blasse Maske aus der Dunkelheit entgegenleuchtete. Ein Schatten schlug mit quäkendem Aufschrei rücklings ins Drahtverhau. Links neben mir feuerte Wohlgemut seine Pistole ab, während der Gefreite Bartels in seiner Erregung blindlings eine Handgranate zwischen uns schleuderte.
Beim ersten Schuß war mir das Magazin aus dem Pistolenkolben gesprungen. Ich stand schreiend vor einem Engländer, der sich entsetzt mit dem Rücken in den Stacheldraht preßte und drückte immer wieder den Abzugsbügel zurück, ohne daß ein Schuß ertönte. Es war wie ein Alpdruck. Im Graben vor uns wurde es laut. Zurufe erschollen, ratternd setzte ein Maschinengewehr ein. Wir sprangen zurück. Noch einmal blieb ich in einem Trichter stehen und richtete die Pistole auf einen mir folgenden Schatten. Diesmal erwies sich das Versagen als ein Glück, denn es war Birkner, den ich schon längst zurück glaubte.
Nun ging es in sausendem Laufe dem eigenen Graben zu. Vor unserem Draht pfiffen die Geschosse schon so, daß ich in einen wassergefüllten, drahtversponnenen Minentrichter springen mußte. Auf schwingendem Stacheldraht über dem Wasserspiegel pendelnd, hörte ich mit gemischten Gefühlen die Geschosse wie einen gewaltigen Immenschwarm über mich hinwegbrausen, während Drahtfetzen und Geschoßsplitter in die Böschung des Trichters fegten. Nach einer halben Stunde, als sich das Feuer beruhigt hatte, arbeitete ich mich über unser Hindernis und sprang, von den Leuten freudig begrüßt, in den Graben. Wohlgemut und Bartels waren schon da; nach einer weiteren halben Stunde erschien auch Birkner. Alles freute sich über den glücklichen Ausgang und bedauerte nur, daß uns der ersehnte Gefangene auch diesmal entschlüpft war. Daß das Erlebnis an die Nerven gegangen war, merkte ich erst, als ich im Unterstande zähneklappernd auf einer Pritsche lag und trotz der Erschöpfung keinen Schlaf finden konnte. Am nächsten Morgen konnte ich kaum gehen, da sich über mein eines Knie ein langer Drahtriß zog und in dem anderen ein Splitterchen der von Bartels geschleuderten Handgranate steckte.
Diese kurzen, sportsmäßigen Sensationen waren indes ein gutes Mittel, den Mut zu stählen und die Eintönigkeit des Grabendaseins zu unterbrechen.
Am 11. 8. trieb sich im englischen Hintergelände vor dem Dorfe Berles-au-bois ein schwarzes Reitpferd herum, das von einem Landwehrmann mit drei Schuß zur Strecke gebracht wurde. Der englische Offizier, dem es entlaufen war, wird bei diesem Anblick wohl kein sehr vergnügtes Gesicht gemacht haben. In der Nacht flog dem Füsilier S. der Mantel eines Infanteriegeschosses ins Auge. Auch im Dorfe wurden die Verluste immer häufiger, da die durch Artilleriefeuer rasierten Mauern immer weniger Schutz vor den ins Blinde gesandten Garben der Maschinengewehre boten. Wir begannen, das Dorf mit Gräben zu durchziehen und an den gefährlichsten Stellen neue Mauern zu errichten.
Der 12. August war der lang ersehnte Tag, an dem ich zum zweiten Male während des Krieges auf Urlaub fahren konnte. Kaum war ich jedoch zu Hause wieder etwas warm geworden, als mir ein Telegramm nachgeflogen kam: „Sofort zurückkommen, Näheres erfragen bei Ortskommandantur Cambrai.“ Drei Stunden später saß ich im Zuge. Auf dem Wege zum Bahnhof schritten drei Mädchen an mir vorüber in hellen Kleidern, lachend, Tennisschläger unter dem Arm. Ein strahlender Abschiedsgruß des Lebens, an den ich draußen noch lange denken mußte.
Am 21. war ich wieder in der bekannten Gegend, deren Straßen infolge des Abmarsches der 111. und des Zuzuges einer neuen Division von Truppen wimmelten. Das I. Bataillon lag in dem zwei Jahre später von uns wieder erstürmten Dorfe Ecoust-Saint-Main, wo ich mit acht anderen Offizieren die Nacht auf dem Dachboden eines leer stehenden Hauses verbrachte.
Am Abend saßen wir noch lange wach und tranken in Ermangelung von etwas Stärkerem den Kaffee, den uns zwei Französinnen im Nebenhause brauten. Wir wußten, daß es diesmal in eine Schlacht ging, wie sie die Weltgeschichte noch nie gesehen hatte. Bald schwoll die erregte Unterhaltung zu einem Gelärm, an dem alte Landsknechte oder friderizianische Grenadiere ihre Freude gehabt hätten. Nach einigen Tagen waren nur noch wenige Teilnehmer dieser fröhlichen Tafelrunde am Leben.
[2] Vgl. Anmerkung auf Seite V.
Am 23. August 1916 wurden wir in Lastautomobile verladen und fuhren bis Le Mesnil. Obgleich wir schon erfahren hatten, daß wir im damaligen Brennpunkt der Sommeschlacht, dem Dorfe Guillemont, eingesetzt werden sollten, war die Stimmung vorzüglich. Scherzworte flogen unter allgemeinem Gelächter von einem Auto zum andern. Von Le Mesnil marschierten wir nach Einbruch der Dunkelheit bis Sailly-Saillisel, wo das Bataillon auf einer großen Wiese die Tornister ablegte und Sturmgepäck fertigmachte. Vor uns rollte und donnerte ein Artilleriefeuer von nie geahnter Stärke, tausend zuckende Blitze hüllten den westlichen Horizont in ein glühendes Flammenmeer. Fortwährend schleppten sich Verwundete mit bleichen, eingefallenen Gesichtern zurück, oft jäh von vorüberrasselnden Geschützen oder Munitionskolonnen in den Straßengraben gedrückt.
Ein Mann im Stahlhelm meldete sich bei mir, um meinen Zug in das berühmte Städtchen Combles zu führen, wo wir vorläufig in Reserve bleiben sollten. Neben ihm im Straßengraben sitzend, fragte ich natürlich begierig nach den Verhältnissen in Stellung und vernahm eine eintönige Erzählung von tagelangem Hocken in Granattrichtern ohne Verbindung und Annäherungswege, von unaufhörlichen Angriffen, von Leichenfeldern und wahnsinnigem Durst, vom Verschmachten Verwundeter und anderem mehr. Das halb vom Stahlhelm umrahmte, unbewegliche Gesicht und die monotone, vom Lärm der Front begleitete Stimme machten den Eindruck unheimlichen Ernstes. Man merkte dem Manne an, daß er jeden Schrecken bis zur Verzweiflung durchgekostet und dann verachten gelernt hatte. Nichts schien zurückgeblieben als eine große und männliche Gleichgültigkeit.
„Wer fällt, bleibt liegen. Da kann keiner helfen. Niemand weiß, ob er lebend zurückkommt. Jeden Tag wird angegriffen, doch durch kommen sie nicht. Jeder weiß, daß es auf Leben und Tod geht.“
Mit solchen Leuten kann man kämpfen.
Wir schritten auf einer breiten Chaussee, die sich im Mondschein wie ein weißes Band über das dunkle Gelände spannte, dem Kanonendonner entgegen, dessen verschlingendes Gebrüll immer unermeßlicher wurde. Lasciate ogni speranza! Bald schlugen die ersten Granaten rechts und links von unserem Wege ein. Die Unterhaltung wurde leiser und verstummte zuletzt ganz. Jeder lauschte mit jener seltsamen Spannung, die das ganze Fühlen und Denken auf das Ohr konzentriert, dem gezogenen Heranheulen der Geschosse. Besonders das Passieren von Frégicourt-Ferme, einer kleinen Häusergruppe vor dem Friedhof von Combles, die unter ständigem Feuer lag, war eine Nervenprobe.
Combles war, soweit wir in der Dunkelheit beobachten konnten, völlig zerschossen. Große Mengen von Holz zwischen den Trümmern und auf den Weg geschleudertes Hausgerät verrieten, daß die Zerstörung ganz jungen Datums sein mußte. Nach dem Übersteigen zahlreicher Schutthaufen, das durch eine Reihe von Schrapnells beschleunigt wurde, erreichten wir unser Quartier, ein großes, von Löchern durchsiebtes Haus, das ich mit drei Gruppen zum Wohnsitze erwählte, während meine beiden anderen Gruppen den Keller einer gegenüberliegenden Ruine bezogen.
Schon um 4 Uhr wurden wir von unserem aus Bettstücken zusammengesuchten Lager geweckt, um Stahlhelme zu empfangen. Bei dieser Gelegenheit fanden wir in einer Kellernische einen Sack voll Kaffeebohnen, eine Entdeckung, die eine eifrige Kaffeesiederei zur Folge hatte.
Nachdem ich gefrühstückt hatte, sah ich mich etwas im Orte um. In wenigen Tagen hatte die Wirkung der schweren Artillerie ein friedliches Etappenstädtchen in ein Bild des Grauens verwandelt. Ganze Häuser waren durch einen Treffer niedergestampft oder mitten auseinandergerissen, so daß die Zimmer und ihre Einrichtung wie Theaterkulissen über dem Chaos schwebten. Aus vielen Ruinen drang süßlicher Leichengeruch, denn der erste Feuerüberfall hatte eine Menge von Zivilisten unter den Trümmern ihrer Wohnungen begraben. Vor der Schwelle einer Haustür lag ein totes kleines Mädchen in einer roten Lache.
Ein stark beschossener Ort war der Platz vor der zerstörten Kirche gegenüber dem Eingang der Katakomben, eines uralten Höhlenganges mit eingesprengten Nischen, in denen zusammengedrängt fast sämtliche Stäbe der kämpfenden Truppen hausten. Es wurde erzählt, daß die Zivilisten bei Beginn der Beschießung mit Hacken den vermauerten Zugang freigelegt hätten, den sie während der ganzen Besatzungszeit den Deutschen verheimlicht hatten.
Die Straßen bestanden nur noch aus schmalen Trampelpfaden, die sich in Schlangenlinien durch und über gewaltige Hügel von Balken und Mauerwerk wanden. In zerwühlten Gärten verkam eine Unmenge von Früchten und Gemüsen.
Nach dem Mittagessen, das wir uns in der Küche aus den im Überfluß vorhandenen eisernen Portionen gekocht hatten und das natürlich durch einen kräftigen Kaffee beschlossen wurde, legte ich mich oben in einen Lehnstuhl. Aus umherliegenden Briefen ersah ich, daß das Haus dem Brauereibesitzer Lesage gehörte. In dem Zimmer standen aufgerissene Schränke und Kommoden, ein umgestürzter Waschtisch, eine Nähmaschine und ein Kinderwagen. An den Wänden hingen zerschlagene Bilder und Spiegel. Auf dem Boden waren in meterhoher Unordnung herausgerissene Schubladen, Wäsche, Korsetts, Bücher, Zeitungen, Nachttische, Scherben, Flaschen, Notenbücher, Stuhlbeine, Röcke, Mäntel, Lampen, Gardinen, Fensterläden, aus den Angeln gerissene Türen, Spitzen, Photographien, Ölgemälde, Albums, zerschmetterte Kisten, Damenhüte, Blumentöpfe und zerfetzte Tapeten wirr ineinander verknäult.
Durch die demolierten Fensterläden blickte man auf das von Granaten zerpflügte Viereck eines verödeten Platzes, den das Geäst zerfetzter Linden bedeckte. Dieser Komplex von Eindrücken wurde noch verfinstert durch das unaufhörliche Artilleriefeuer, das rings um den Ort tobte. Ab und zu überbrüllte der gigantische Einschlag einer 38-Zentimeter-Granate den Lärm. Wolken von Splittern fegten dann durch Combles, klatschten gegen die Zweige der Bäume oder schlugen auf die wenigen noch stehenden Häuser, daß die Schiefertafeln herabrollten.
Im Laufe des Nachmittags schwoll das Feuer zu solcher Stärke, daß nur noch das Gefühl eines ungeheuren Getöses verblieb, in dem jedes Einzelgeräusch verschluckt wurde. Von 7 Uhr an wurden der Platz und die umliegenden Häuser in Abständen von halben Minuten mit 15-Zentimeter-Granaten beworfen. Es waren viele Blindgänger darunter, die trotzdem noch die Häuser ins Schwanken brachten. Wir saßen während der ganzen Zeit in unserem Keller auf seidenbezogenen Sesseln rund um den Tisch, den Kopf in die Hände gestützt und zählten die Zeit zwischen den Einschlägen. Die Witzworte wurden immer seltener, und endlich ließ die Nervenanstrengung auch den Verwegensten verstummen. Um 8 Uhr brach das Nebenhaus nach zwei Volltreffern zusammen.
Von 9 bis 10 Uhr nahm das Feuer eine wahnwitzige Wucht an. Die Erde wankte, der Himmel schien ein brodelnder Riesenkessel.
Hunderte von schweren Batterien krachten um und in Combles, unzählige Granaten kreuzten sich heulend und fauchend über uns. Alles war in dichten Rauch gehüllt, der von bunten Leuchtkugeln unheildrohend bestrahlt wurde. Bei heftigsten Kopf- und Ohrenschmerzen konnten wir uns nur noch durch abgerissene, gebrüllte Worte verständigen. Die Fähigkeit des logischen Denkens und das Gefühl der Schwerkraft schienen aufgehoben. Man hatte das Empfinden des Unentrinnbaren und unbedingt Notwendigen wie einem Ausbruch der Elemente gegenüber. Ein Unteroffizier des dritten Zuges wurde tobsüchtig.
Um 10 Uhr beruhigte sich diese Fastnacht der Hölle allmählich und ging in ein ruhiges Trommelfeuer über, in dem man allerdings den einzelnen Abschuß auch noch nicht wahrnehmen konnte.
Um 11 Uhr kam eine Ordonnanz und brachte Befehl, die Züge auf den Kirchplatz zu führen. Wir vereinigten uns daraufhin mit den beiden anderen Zügen zum Abmarsch in Stellung. Um Verpflegung nach vorn zu bringen, war noch ein vierter Zug unter Führung des Leutnants Sievers ausgeschieden. Diese Leute umdrängten uns, während wir uns unter hastigen Zurufen an dem gefährlichen Ort sammelten und beluden uns mit den damals noch reichlich vorhandenen Lebensmitteln. Sievers drängte mir ein Kochgeschirr voll Butter auf, drückte mir zum Abschied die Hand und wünschte uns viel Glück.
Dann marschierten wir ab in Reihe zu einem hintereinander. Jeder hatte Befehl, sich unbedingt hinter seinem Vordermann zu halten. Gleich am Ortsausgang merkte unser Führer, daß er sich verirrt hatte. Wir waren gezwungen, bei starkem Schrapnellfeuer kehrtzumachen. Dann ging es, meist im Laufschritt, an einem zur Orientierung ausgelegten, in kleine Teile zerschossenen, weißen Band entlang über freies Feld. Oft mußten wir gerade an den übelsten Stellen stehen bleiben, wenn der Führer die Richtung verloren hatte. Dabei war es zur Aufrechterhaltung der Verbindung verboten, sich hinzulegen.
Trotzdem waren plötzlich der erste und dritte Zug verschwunden. Weiter! In einem heftig beschossenen Hohlweg stauten sich die Gruppen. Hinlegen! Ein ekelhaft aufdringlicher Geruch belehrte uns, daß diese Passage schon viele Opfer gefordert hatte. Nach todbedrohtem Lauf gelangten wir in einen zweiten Hohlweg, der den Unterstand des Kampftruppenkommandanten (K. T. K.) barg, verrannten uns und machten im qualvollen Gedränge nervöser und aufgeregter Menschen kehrt. Höchstens fünf Meter neben dem Leutnant Vogel und mir schlug eine mittlere Granate mit dumpfem Krach auf die hintere Böschung und bewarf uns mit gewaltigen Erdklumpen, während Todesschauer über unseren Rücken glitten. Endlich fand der Führer durch den Merkpunkt einer auffälligen Leichengruppe den Weg wieder.
Weiter! Weiter! Leute brachen im Laufe zusammen, von uns hart bedroht, um die letzte Kraftanspannung aus ihren erschöpften Körpern zu pumpen. Verwundete schlugen mit unbeachtetem Hilfeschrei rechts und links in die Trichter. Weiter ging es, die Augen starr auf den Vordermann gerichtet, durch einen knietiefen, von einer Kette riesiger Trichter gebildeten Graben, in dem ein Toter neben dem anderen lag. Widerstrebend trat der Fuß auf die weichen, nachgebenden Körper. Auch der in den Weg stürzende Verwundete verfiel dem Schicksal, unter die Stiefel der weiter Hastenden getreten zu werden.
Und immer dieser süßliche Geruch! Auch meine Gefechtsordonnanz, der kleine Schmidt, Begleiter auf mancher gefährlichen Patrouille, begann zu taumeln. Ich riß ihm das Gewehr aus der Hand, wobei der gute Junge sich selbst in diesem Moment noch aus Höflichkeit sträuben wollte.
Endlich gelangten wir in die vordere Linie, die von eng in die Löcher gekauerten Leuten besetzt war, deren tonlose Stimmen vor Freude zitterten, als sie erfuhren, daß die Ablösung da wäre. Ein bayrischer Feldwebel übergab mir mit einigen Worten Abschnitt und Leuchtpistole.
Mein Zugabschnitt bildete den rechten Flügel der Regimentsstellung und bestand aus einem flachen, muldenartig zertrommelten Hohlweg, der ein paar hundert Meter links von Guillemont und etwas näher rechts am Bois de Trônes lag. Von der rechten Nachbartruppe, dem Infanterie-Regiment 76, trennte uns ein 500 Meter breiter, unbesetzter Raum, in dem sich wegen des überaus heftigen Feuers niemand aufhalten konnte.
Der bayerische Feldwebel war plötzlich spurlos verschwunden, und ich stand ganz allein, meine Leuchtpistole in der Hand, mitten in dem unheimlichen Trichtergelände, das am Boden lagernde weiße Nebelschwaden in ein noch drohenderes und rätselhafteres Aussehen hüllten. Hinter mir ertönte ein andauerndes, unangenehmes Geräusch; ich stellte mit merkwürdiger Objektivität fest, daß es von einem riesenhaften, in Zersetzung übergehenden Leichnam herrührte.
Da mir nicht einmal klar war, wo der Feind ungefähr sein könnte, begab ich mich zu meinen Leuten und riet ihnen, sich auf das Schlimmste gefaßt zu machen. Wir blieben alle wach; ich verbrachte die Nacht mit meinem Burschen und meinen beiden Gefechtsordonnanzen in einem Fuchsloch von vielleicht einem Kubikmeter Rauminhalt.
Als der Morgen graute, entschleierte sich die fremde Umgebung allmählich den staunenden Augen.
Der Hohlweg erschien nur noch als eine Reihe riesiger, mit Uniformstücken, Waffen und Toten gefüllter Trichter; das umliegende Gelände war, soweit der Blick reichte, völlig von schweren Granaten umgewälzt. Nicht ein einziger armseliger Grashalm zeigte sich dem suchenden Auge. Der zerwühlte Kampfplatz war grauenhaft. Zwischen den lebenden Verteidigern lagen die toten. Beim Graben von Deckungslöchern bemerkten wir, daß sie in Lagen übereinander geschichtet waren. Eine Kompagnie nach der anderen war dicht gedrängt im Trommelfeuer ausharrend vernichtet. Dann waren die Leichen durch die von den Geschossen hochgeschleuderten Erdmassen verschüttet, und die nächste Kompagnie war an den Platz der Gefallenen getreten.
Der Hohlweg und das Gelände dahinter lag voll Deutscher, das Gelände davor voll Engländer. Aus den Böschungen starrten Arme, Beine und Köpfe; vor unseren Erdlöchern lagen abgerissene Gliedmaßen und Tote, über die man zum Teil, um dem steten Anblick der entstellten Gesichter zu entgehen, Mäntel oder Zeltbahnen geworfen hatte. Trotz der Hitze dachte niemand daran, die Körper mit Erde zu bedecken.
Das Dorf Guillemont unterschied sich vom übrigen Terrain nur dadurch, daß die Trichter infolge der zu Staub zermalmten Steine der Häuser von weißlicherer Farbe waren. Vor uns lag der wie ein Kinderspielzeug zerknüllte Bahnhof von Guillemont und weiter hinten der in Späne zerrissene Wald von Delville.
Kaum war der Tag hereingebrochen, als sich ein tieffliegender Engländer heranschraubte und uns gleich einem Aasvogel ununterbrochen überkreiste, während wir in unsere Löcher flohen und uns dort zusammenkauerten. Das scharfe Auge des Beobachters mußte uns trotzdem erspäht haben, denn bald ertönten von oben in kurzen Abständen langgezogene, dumpfe Sirenentöne. Nach kurzer Zeit schien eine Batterie die Zeichen aufgenommen zu haben. Ein schweres Flachbahngeschoß nach dem anderen sauste mit unglaublicher Wucht heran. Wir hockten untätig in unseren Zufluchtsorten, ab und zu eine Zigarre anzündend und wieder fortwerfend, gewärtig, jeden Augenblick verschüttet zu werden. Schmidts Rockärmel wurde durch einen großen Splitter zerrissen.
Gleich beim dritten Schuß wurde der Bewohner des Erdloches neben uns durch einen ungeheuren Einschlag verschüttet. Wir gruben ihn sofort wieder aus; trotzdem war er durch den Druck der Erdmassen zu Tode erschöpft, sein Gesicht eingefallen und einem Totenkopf ähnlich. Es war der Gefreite Simon. Er war durch den Schaden klug geworden, denn wenn im Laufe des Tages Leute bei Fliegersicht sich außer Deckung bewegten, vernahm man seine scheltende Stimme und sah seine Faust aus einer Öffnung seines zeltbahnverhangenen Fuchsloches drohen.
Um 3 Uhr nachmittags kamen meine Posten von links und gaben an, sich nicht mehr halten zu können, da ihre Löcher zusammengeschossen wären. Ich mußte meine ganze Rücksichtslosigkeit anwenden, um sie wieder auf ihre Plätze zu bringen.
Kurz vor 10 Uhr abends setzte am linken Flügel des Regiments ein Feuersturm ein, der nach 20 Minuten auch auf uns übergriff. Nach kurzer Zeit waren wir völlig in Rauch und Staub gehüllt, doch lagen die meisten Einschläge dicht vor oder hinter dem Graben. Während des uns umbrausenden Orkans ging ich den Abschnitt meines Zuges ab. Die Leute standen in steinerner Unbeweglichkeit, das Gewehr in der Hand, am vorderen Hange des Hohlweges und starrten in das Vorgelände. Ab und zu beim Scheine einer Leuchtkugel sah ich Stahlhelm an Stahlhelm, Seitengewehr an Seitengewehr blinken und wurde von dem stolzen Gefühl erfüllt, einer Handvoll Männern zu gebieten, die vielleicht zermalmt, nicht aber besiegt werden konnten. In solchen Augenblicken triumphiert der menschliche Geist über die gewaltigsten Äußerungen der Materie, der gebrechliche Körper stellt sich, vom Willen gestählt, dem furchtbarsten Gewitter entgegen.
Im linken Nachbarzuge wollte der Feldwebel H., der unglückliche Rattenfänger von Monchy, eine weiße Leuchtkugel abschießen, vergriff sich indes und ein rotes Sperrfeuersignal zischte, von allen Seiten weitergegeben, gen Himmel. Im Nu setzte unsere Artillerie ein, daß es eine Freude war. Eine Mörsergranate neben der anderen kam hoch aus den Lüften herabgeheult und zerschellte im Vorgelände zu Splittern und Funken. Ein Gemisch von Staub, stickigen Gasen und dem Dunsthauch aufgeschleuderter Leichen braute aus den Trichtern.
Nach dieser Orgie der Vernichtung flutete das Feuer wieder auf sein gewöhnliches Niveau zurück, das es während der Nacht und des nächsten Tages beibehielt. Der aufgeregte Griff eines einzelnen Mannes hatte die ganze gewaltige Kriegsmaschinerie ausgelöst.
H. war und blieb ein Unglücksmensch; er schoß sich noch in derselben Nacht beim Laden seiner Pistole eine Leuchtkugel in den Stiefelschaft und mußte mit schweren Brandwunden zurückgetragen werden. Am nächsten Tage regnete es stark, was uns nicht unlieb war, da das ausgetrocknete Gefühl im Gaumen nach dem Verschwinden des Staubes nicht mehr so quälend war und die großen, blauschwarzen Fliegen, die sich in riesigen Klumpen an den sonnigen Stellen gesammelt hatten, vertrieben wurden. Ich saß fast den ganzen Tag vor meinem Fuchsloch auf dem Boden, rauchte und aß trotz der Umgebung mit gutem Appetit.
Am nächsten Vormittag erhielt der Füsilier Knicke meines Zuges von irgendwoher einen Gewehrschuß durch die Brust, der auch das Rückenmark streifte, so daß er die Beine nicht mehr bewegen konnte. Als ich nach ihm sah, lag er sehr gefaßt in einem Erdloche. Er wurde am Abend durch das Artilleriefeuer geschleppt, wobei er durch das häufige Deckungnehmen seiner Träger noch ein Bein brach. Er starb auf dem Verbandplatze.
Am Nachmittag rief mich ein Mann meines Zuges und ließ mich über das abgerissene Bein eines Engländers zum Bahnhof Guillemont visieren. Ich sah durch einen flachen Laufgraben Hunderte von Engländern nach vorn eilen. Durch das Gewehrfeuer von uns paar Leuten ließen sie sich nicht sonderlich stören. Dieser Anblick war bezeichnend für die Ungleichheit der Mittel, mit denen wir kämpften. Hätten wir dasselbe gewagt, so wären unsere Abteilungen innerhalb weniger Minuten zusammengeschossen worden. Während nicht ein Fesselballon von uns zu sehen war, standen auf englischer Seite gleich über 30 auf einem Klumpen und beobachteten mit Argusaugen jede Bewegung, die sich in dem zerstampften Gelände zeigte, um sofort einen Eisenhagel dorthin zu dirigieren.
Am Abend schnurrte mir noch ein großer Granatsplitter gegen den Magen, der zum Glück ziemlich am Ende seiner Flugbahn war und nach einem kräftigen Schlage vor mein Koppelschloß zu Boden fiel.
Vor dem Abschnitt des ersten Zuges erschienen bei Einbruch der Dunkelheit zwei englische Essenholer, die sich verlaufen hatten. Beide wurden auf kürzeste Entfernung niedergeschossen, der eine schlug mit dem Oberkörper in den Hohlweg, während seine Beine auf der Böschung liegen blieben. Gefangene zu machen war allen Leuten unerwünscht, denn wie sollte man sie durch die Sperrfeuerzone bringen, in der man mit sich selbst schon so viel zu tun hatte?
Gegen 1 Uhr nachts wurde ich von Schmidt aus wirrem Schlaf gerüttelt. Nervös fuhr ich hoch und griff nach dem Gewehr. Unsere Ablösung war gekommen. Wir übergaben, was zu übergeben war, und verließen so schnell wie möglich diesen Ort des Teufels.
Kaum hatten wir den flachen Laufgraben erreicht, als die erste Gruppe Schrapnells zwischen uns krepierte. Mein Vordermann taumelte infolge einer Wunde am Handgelenk, aus der das Blut spritzte und wollte sich auf die Seite legen. Ich packte ihn am Arm, riß ihn trotz seines Stöhnens hoch und gab ihn erst beim Sanitätsunterstand neben dem K. T. K. ab.
In beiden Hohlwegen ging es scharf her. Wir kamen stark außer Atem. Die schlimmste Ecke war ein Tal, in das wir gerieten, und in dem ununterbrochen Schrapnells und leichte Granaten aufflammten. Brrruch! Brrruch! umkrachte uns der eiserne Wirbel, einen Funkenregen in die Dunkelheit sprühend. Huiiiii! Wieder eine Gruppe! Mir blieb der Atem aus, denn ich wußte Bruchteile von Sekunden vorher aus dem immer schärfer werdenden Heulen, daß der absteigende Ast der Geschoßkurve unmittelbar bei mir enden mußte. Gleich darauf wuchtete neben meiner Fußsohle ein schwerer Aufschlag, weiche Lehmfetzen hochschleudernd. Gerade diese Granate ging blind!
Hier war eine Mustergelegenheit, den Einfluß des Offiziers geltend zu machen. Überall eilten ablösende und abgelöste Trupps durch Nacht und Feuer, zum Teil völlig verirrt, vor Aufregung und Erschöpfung stöhnend; dazwischen erschollen Zurufe, Befehle und in eintöniger Wiederholung die langgezogenen Hilfeschreie im Trichtergelände verlorener Verwundeter. Ich gab Verirrten im Vorbeirasen Auskunft, zog Leute aus Granatlöchern, bedrohte die, die sich hinlegen wollten, schrie dauernd meinen Namen, um alle zusammenzuhalten und brachte so meinen Zug wie durch ein Wunder nach Combles.
Wir mußten von Combles noch über Sailly und die Gouvernements-Ferme zum Walde von Hennois marschieren, in dem wir biwakieren sollten. Jetzt zeigte sich unsere Erschöpfung erst in vollem Maße. Den Kopf stumpfsinnig zu Boden gerichtet, schlichen wir, oft von Automobilen oder Munitionskolonnen an die Seite gedrückt, unsere Straße entlang. In einer Art von krankhafter Nervosität war ich fest überzeugt, daß die vorbeirasselnden Fahrzeuge nur uns zum Ärger so scharf am Wegrande fuhren und überraschte meine Hand mehr als einmal am Kolben des Revolvers.
Nach dem Marsche mußten wir noch Zelte aufschlagen und konnten uns dann erst auf den harten Boden werfen. Während unseres Aufenthaltes in diesem Waldlager gingen gewaltige Regengüsse nieder. Das Stroh in den Zelten begann zu faulen, und viele Leute erkrankten. Wir fünf Kompagnieoffiziere ließen uns durch die Nässe wenig stören, sondern saßen jeden Abend auf unseren Koffern im Zelte hinter einer Batterie von Flaschen zusammen.
Nach drei Tagen rückten wir wieder nach Combles ab, wo ich mit meinem Zug vier kleinere Keller bezog.
Am ersten Morgen war es verhältnismäßig ruhig; ich machte daher einen kleinen Spaziergang durch die verwüsteten Gärten und plünderte mit köstlichen Pfirsichen behangene Spaliere. Bei meinen Irrgängen geriet ich in ein von hohen Hecken umschlossenes Haus, das ein Liebhaber schöner, alter Sachen bewohnt haben mußte. An den Wänden der Zimmer hing eine Sammlung bemalter Teller, wie sie der Nordfranzose liebt, Weihwasserbecken, Kupferstiche und holzgeschnitzte Heiligenbilder. In großen Schränken stapelte altes Porzellan, zierliche Lederbände waren auf den Boden geschleudert, darunter eine köstliche alte Ausgabe des Don Quijote. Es war ein Jammer, all diese Schätze dem Verderben preisgegeben zu sehen.
Als ich in mein Domizil zurückkehrte, hatten die Leute, die auch ihrerseits die Gärten untersucht hatten, aus Gemüse und Fleischkonserven, Kartoffeln, Erbsen, Möhren, Artischocken und vielerlei Grünkram eine Suppe gebraut, in der der Löffel stehen blieb. Während des Essens schlug eine Granate ins Haus und drei in die Nähe, ohne uns weiter zu stören. Wir waren durch die Überfülle der Eindrücke schon zu sehr abgestumpft. In dem Hause mußte sich schon Blutiges zugetragen haben, denn auf einem Schuttberg im Mittelzimmer erhob sich ein rohgeschnitztes Kreuz mit einer Reihe ins Holz gegrabener Namen. Am nächsten Mittag holte ich mir aus dem Hause des Porzellansammlers einen Band der illustrierten Beilagen des „Petit Journal“, die in fast jedem französischen Hause zu finden sind und von wüster Geschmacklosigkeit strotzen; dann setzte ich mich in ein erhaltenes Zimmer, entzündete im Kamin aus Möbelstücken ein Feuerchen und begann zu lesen. Ich mußte häufig den Kopf schütteln, denn mir waren die zur Zeit der Faschoda-Affäre gedruckten Nummern in die Hände geraten. Ungefähr um 7 Uhr hatte ich die letzte Seite umgewandt und ging in den Vorraum vor dem Eingang des Kellers, wo meine Leute an einem kleinen Herd kochten.
Kaum stand ich zwischen ihnen, gab es vor der Haustür einen scharfen Knall, und im selben Moment spürte ich einen starken Schlag gegen meinen linken Unterschenkel. Mit dem uralten Kriegerruf: „Ich habe einen weg!“ sprang ich, meine Shagpfeife im Munde, die Kellertreppe hinunter.
Es wurde rasch Licht angezündet und der Fall untersucht. In der Wickelgamasche klaffte ein gezacktes Loch, aus dem ein Blutstrahl auf den Boden sprang. Auf der anderen Seite erhob sich der rundliche Wulst einer unter der Haut liegenden Schrapnellkugel. Meine Leute verbanden mich und trugen mich über die beschossene Straße in die Katakomben, wo mich unser Oberstabsarzt in Empfang nahm. Während mir der herbeigeeilte Leutnant Wetje den Kopf hielt, schnitt er mir mit Messer und Schere die Schrapnellkugel heraus, wobei er mich beglückwünschte, denn das Blei war scharf zwischen Schien- und Wadenbein hindurchgegangen, ohne einen Knochen zu verletzen. Habent sua fata libelli et balli, meinte der alte Korpsstudent schmunzelnd, indem er mich einem Sanitäter zum Verbinden überließ.
Während ich bis zum Einbruch der Dunkelheit auf einer Bahre in einer Nische der Katakomben lag, kamen zu meiner Freude viele meiner Leute, um Abschied von mir zu nehmen. Auch mein verehrter Oberstleutnant von Oppen besuchte mich für kurze Zeit.
Am Abend wurde ich mit anderen Verwundeten an den Ortsausgang getragen und dort in einen Sanitätswagen geladen. Ohne auf das Geschrei der Insassen zu achten, raste der Fahrer auf der unter starkem Feuer liegenden Chaussee über Trichter und andere Hindernisse hinweg und gab uns endlich an ein Auto weiter, das uns bis zur Kirche des Dorfes Fins fuhr, die mit Hunderten von Verwundeten belegt war. Eine Krankenschwester erzählte mir, daß in der letzten Zeit mehr als 30 000 Verwundete über Fins abtransportiert wären. Von dort kam ich nach St. Quentin, dessen Fensterscheiben vom unaufhörlichen Donner der Schlacht zitterten, und dann im Lazarettzuge weiter nach Gera, wo ich im Garnisonlazarett eine vorzügliche Pflege fand.
Von Kameraden der anderen Bataillone, die nach mir verwundet waren, erfuhr ich das weitere Schicksal meiner Kompagnie, die am Tage nach meiner Verwundung wieder in Stellung gerückt war. Nach verlustreichem Anmarsch und zehnstündigem Trommelfeuer war sie infolge der großen Frontlücken von allen Seiten angegriffen worden. Der kleine Schmidt, Fähnrich Wohlgemut, Leutnants Vogel und Sievers, kurz, fast alle Kameraden hatten, bis zur letzten Sekunde fechtend, den Tod gefunden. Nur wenige Überlebende, darunter Leutnant Wetje, waren dem Feinde in die Hände gefallen; kein einziger war nach Combles zurückgekehrt, um dort von dem Heldenkampfe, der mit so unerhörter Erbitterung ausgefochten war, zu erzählen. Selbst der englische Heeresbericht erwähnte ehrend die Handvoll Männer, die in eherner Treue bei Guillemont gestanden hatten bis zuletzt.
Wenn ich mich auch des Zufallstreffers freute, der mich am Vorabend der Schlacht wie durch ein Wunder dem sicheren Tode entrissen hatte, so hätte ich anderseits doch, so seltsam es manchem klingen mag, gern das Los der Kameraden geteilt und mit ihnen vereint auch über mich den eisernen Würfel des Krieges dahinrollen lassen. Stets hat mich, auf den Höhepunkten der blutigen Schlachten, die ich noch erleben sollte, der strahlende, unauslöschliche Ruhm dieser Kämpfer gemahnt, mich der ehemaligen Kameradschaft würdig zu erweisen.
* *
*
Die Tage von Guillemont machten mich zum ersten Male mit den verheerenden Wirkungen der Materialschlacht bekannt. Wir mußten uns ganz neuen Formen des Krieges anpassen. Jede Verbindung der Truppe mit der Führung, der Artillerie und den Anschlußregimentern war durch das furchtbare Feuer lahmgelegt. Die Meldeläufer fielen dem Eisenhagel zum Opfer, der Telephondraht war, kaum gezogen, bereits in kleine Stücke zerhackt. Selbst die Blinkzeichen der Signallampen versagten in dem dampf- und staubüberwölkten Gelände. Hinter der vorderen Linie erstreckte sich eine kilometerbreite Zone, in der nur der Sprengstoff herrschte.
Selbst der Regimentsstab erfuhr erst, als wir nach drei Tagen zurückkamen, wo wir eigentlich gelegen hatten und wie die Front verlief. Bei diesen Verhältnissen war ein genaues Schießen der Artillerie ausgeschlossen.
Auch die Stellung der Engländer war uns völlig unklar, obwohl wir oft, ohne es zu wissen, nur wenige Meter auseinander lagen. Manchmal lief ein Tommy, der sich durch die Trichter tastete, wie eine Ameise durch einen Sandweg, direkt in ein von uns besetztes Granatloch und umgekehrt, da unsere vordere Linie nur aus einzelnen, verbindungslosen Stücken bestand, die man leicht verfehlen konnte.
Das Landschaftsbild ist dem, der es geschaut, unvergeßlich. Vor kurzem hatte diese Gegend doch noch aus Dörfern, Wiesen, Wäldern und Feldern bestanden, und nun war buchstäblich kein Strauch, kein winziges Hälmchen mehr zu sehen. Jede Handbreit Bodens war umgewühlt und immer wieder umgewühlt, die Bäume entwurzelt, zerfetzt und zu Mulm zermahlen, die Häuser weggeblasen und zu Pulver zerstäubt, Berge abgetragen und das Ackerland zur Wüste verwandelt.
In dieser Wüstenei, umgeben von Toten und halbverdurstet, kämpften Männer tage- und wochenlang mit dem Bewußtsein, im Falle einer Verwundung rettungslos dem Tode des Verschmachtens preisgegeben zu sein.
An den im Verhältnis zur Breite der Angriffsfront ungeheuren Verlusten trug die mit altpreußischer Zähigkeit durchgeführte starre Lineartaktik die Hauptschuld. Ein Bataillon nach dem andern wurde in die überfüllte vordere Linie geworfen und in wenigen Stunden zusammengetrommelt.
Erst recht spät sah man ein, daß es so nicht weiter gehen konnte und hörte auf, um wertlose Geländestreifen zu kämpfen, um sich einer beweglicheren Verteidigung, deren Höhepunkt die elastische Zonentaktik wurde, zuzuwenden.
Daher wurde nie wieder mit solch verbissener Erbitterung gekämpft wie damals, wo man wochenlang um zerschossene Waldstücke oder unkenntliche Ruinen rang. Der Name auch des kleinsten pikardischen Nestes erinnert an unerhörte Heldenkämpfe, die wahrhaft einzig in der Weltgeschichte dastehen. Erst dort sank die Blüte unserer disziplinierten Jugend in den Staub. Erhabene Werte, die das deutsche Volk groß gemacht hatten, leuchteten dort noch einmal in blendendem Glanze auf, um langsam in einem Meere von Schlamm und Blut zu erlöschen.
Nachdem ich 14 Tage im Lazarett und ebensoviele auf Urlaub verbracht hatte, begab ich mich wieder zum Regiment, das in Stellung bei Deuxnouds, ganz nahe der wohlbekannten Grande Tranchée, lag. Es blieb nach meiner Ankunft nur zwei Tage dort und die gleiche Zeit in dem idyllischen, altertümlichen Bergneste Hattonchâtel. Dann dampften wir vom Bahnhof Mars-la-Tour wieder in der Richtung auf das Sommegebiet ab.
Wir wurden in Bohain ausgeladen und in dem naheliegenden Dorf Brancourt untergebracht. Diese Gegend, die wir später noch oft berührten, ist von Ackerbauern bewohnt, doch steht in fast jedem Hause ein Webstuhl. Die Bevölkerung schien mir unsympathisch, schmutzig und auf geringer Kultur- und Moralstufe stehend. Ich war in einem Häuschen einquartiert, das durch ein Ehepaar und seine Tochter bewohnt wurde. Man muß den Leuten lassen, daß sie mir für mein gutes Geld vorzügliche Eierspeisen zubereiteten. Die Tochter erzählte mir gleich beim Antrittskaffee, daß sie mit Poincaré nach seiner Rückkehr einen guten Kaffee trinken, das heißt ihm ordentlich die Meinung sagen würde. Niemals habe ich jemand mit so großer Zungengeläufigkeit schimpfen hören wie diese filia hospitalis auf die Anschuldigung einer Nachbarin hin, in einer gewissen Straße von St. Quentin gewohnt zu haben. „Ah, cette plure, cette pomme de terre pourrie, jetée sur un fumier, c’est la crème de la crème“, sprudelte sie hervor, während sie mit krallenartig vorgestreckten Händen durch das Zimmer raste, ohne ein Objekt für ihre Wut finden zu können.
Am Morgen, wenn diese Rose von Brancourt mit der Zubereitung der Butter und anderen häuslichen Arbeiten beschäftigt war, sah sie unglaublich wenig einladend aus, doch nachmittags, wenn es galt, die Dorfstraße auf und ab zu stolzieren oder Freundinnen zu besuchen, hatte sich die garstige Puppe in einen prächtigen Schmetterling verwandelt. Mit einem gewissen Mißtrauen betrachtete ich immer eine große Schachtel voll Reispuder, die dauernd auf dem Tische stand und Wasser und Seife völlig zu ersetzen schien.
Ihr Vater bat mich eines Tages, ihm eine Anklageschrift an den Ortskommandanten aufzusetzen, da ihn ein Nachbar an der Kehle gepackt, geprügelt und unter dem Rufe: „Demande pardon!“ mit dem Tode bedroht hätte.
Derartige kleine Beobachtungen gaben mir die tröstliche Versicherung, daß Nationalstolz auch in Frankreich keine Eigenschaft der Allgemeinheit ist. Diese Erkenntnis half mir zwei Jahre später über den merkwürdigen Empfang hinweg, den uns manche Volksgenossen nach vier Jahren ehrenvoller härtester Kämpfe in der Heimat zuteil werden ließen. Il y a des cochons partout.
Die zweite Kompagnie wurde nun durch den Leutnant Boje geführt. Wir verlebten hier eine Reihe durch gute Kameradschaft verschönter Tage. Ich muß gestehen, daß wir oft bei schwerem Umtrunk zusammensaßen, bis wir die ganze Welt nur noch als ein lächerliches Phantom, das um unseren Tisch kreiste, betrachteten. Auch aus dem Zimmer der Burschen drang meist ein gewaltiger Lärm. Wer sich noch nie in der kurzen Zeitspanne zwischen zwei mörderischen Schlachten befunden hat, mag darüber absprechend urteilen, wir gönnten jedenfalls uns und unseren Leuten aus vollem Herzen jede Stunde des Rausches, die wir dem Leben abringen konnten, solange es uns noch in seinem Kreise hielt.
Für den kommenden Einsatz war ich als Spähoffizier bestimmt und stand mit einem Spähtrupp und zwei Unteroffizieren und vier Mann der Division zur Verfügung.
Am 8. November fuhr das Bataillon bei strömendem Regen nach dem von der Zivilbevölkerung verlassenen Dorfe Gonnelieu. Von dort wurde der Spähtrupp nach Liéramont abkommandiert und dem Leiter des Divisionsnachrichtendienstes, Rittmeister Böckelmann, unterstellt. Der Rittmeister bewohnte mit uns vier Spähoffizieren, zwei Beobachtungsoffizieren und seinem Adjutanten das geräumige Pfarrhaus, in dessen gemütlich eingerichteten Zimmern ein kameradschaftliches Zusammenleben geführt wurde.
Unsere Vorgänger machten uns mit der Stellung der Division vertraut. Wir mußten uns jede zweite Nacht nach vorn begeben. Unsere Aufgabe war, die Stellung genau festzulegen, die Anschlüsse zu prüfen und uns überall zu orientieren, um im Notfalle Truppen einweisen und eventuelle Aufträge ausführen zu können. Der mir als Arbeitsgebiet zugewiesene Abschnitt lag links vom St. Pierre-Vaast-Walde, unmittelbar vor dem sogenannten „Namenlosen Walde“. In der ersten Nacht geriet ich, nachdem ich beim Durchstreifen eines vom Tortille-Bach durchflossenen Sumpfes fast ertrunken wäre, in eine dichte Geschoßwolke von Phosgengas, die mich tränenden Auges zum Vaux-Walde zurückscheuchte, wobei ich, durch die beschlagene Gasmaske geblendet, von einem Trichter in den anderen stürzte.
Am 12. November trat ich, auf besseres Glück hoffend, mit dem Auftrage, die Anschlüsse in der Trichterstellung festzustellen, meinen zweiten Gang nach vorn an. An einer in Erdlöchern verborgenen Kette von Relaisposten strebte ich meinem Ziele zu.
Die Trichterstellung trug ihren Namen zu Recht. Auf einem vor dem Dorfe Rancourt liegenden Plateau waren zahllose Miniaturkrater verstreut, hier und dort von einigen Leuten besetzt. Das Gelände machte in seiner Einsamkeit, in der nur das Pfeifen und Krachen der Geschosse ertönte, einen Eindruck beängstigender Öde.
Nach einiger Zeit verlor ich den Anschluß an die Trichterlinie und ging zurück, um nicht den Franzosen in die Hände zu laufen. Ich stieß dabei auf einen bekannten Offizier vom Regiment 164, der mich warnte, in der anbrechenden Dämmerung noch länger zu verweilen. Ich durchschritt daher eilig den „Namenlosen Wald“ und stolperte durch tiefe Trichter, über entwurzelte Bäume und ein fast undurchdringliches Gewirr herabgeschlagener Äste.
Als ich aus dem Waldrande trat, war es hell geworden. Das Trichterfeld lag ohne eine Spur von Leben vor mir. Ich stutzte, denn in der modernen Schlacht sind menschenleere Flächen stets verdächtig.
Plötzlich fiel ein von einem unsichtbaren Schützen abgegebener Schuß, der mich an beiden Unterschenkeln traf. Ich warf mich in den nächsten Trichter und verband die Wunden mit meinem Taschentuch, da ich meine Verbandpäckchen natürlich wieder vergessen hatte. Ein Geschoß hatte mir die rechte Wade durchbohrt und die linke gestreift.
Mit äußerster Vorsicht kroch ich in den Wald zurück und humpelte von dort durch das schwerbeschossene Gelände zum Verbandplatz.
Kurz davor erlebte ich wieder ein Beispiel dafür, von wie kleinen Umständen das Glück im Kriege abhängt. Ungefähr 100 Meter vor einer Straßenkreuzung, auf die ich zustrebte, rief mich der Führer einer schanzenden Abteilung an, mit dem ich in der 9. Kompagnie zusammen gefochten hatte. Kaum hatten wir eine Minute gesprochen, als mitten auf der Kreuzung eine Granate krepierte, die ohne diese zufällige Begegnung wahrscheinlich mich getroffen haben würde.
Nach Einbruch der Dunkelheit wurde ich bis Nurlu auf einer Bahre getragen. Der Rittmeister Böckelmann erwartete mich freundlicherweise mit einem Auto. Auf der von feindlichen Scheinwerfern bestrahlten Chaussee zog der Führer plötzlich den Bremshebel an. Ein dunkles Hindernis sperrte die Straße. Es war eine Infanteriegruppe mit ihrem Führer, die soeben einem Volltreffer zum Opfer gefallen war. Die im Tode vereint liegenden Kameraden hatten das friedliche Aussehen stiller Schläfer.
Im Pfarrhause mußte ich in den Keller getragen werden, da Liéramont gerade seinen Abendsegen bekam. Ich wurde am selben Abend in das Feldlazarett Villeret und von dort zum Kriegslazarett Valenciennes transportiert.
Das Kriegslazarett war nahe dem Bahnhof im Gymnasium eingerichtet und beherbergte über 400 Schwerverwundete. Tag für Tag verließ unter dumpfem Trommelschlag ein Leichenzug das große Portal. In dem weiten Operationssaal konzentrierte sich der ganze Jammer des Krieges. An einer Reihe von Operationstischen walteten die Ärzte ihres blutigen Handwerkes. Hier wurde ein Glied amputiert, dort ein Schädel aufgemeißelt oder ein festgewachsener Verband gelöst. Wimmern und Schmerzensschreie hallten durch den von mitleidlosem Licht durchfluteten Raum, während weißgekleidete Schwestern geschäftig mit Instrumenten oder Verbandzeug von einem Tisch zum andern eilten.
Der Soldat, der nach solchem Anblicke wieder in alter Frische ins Feuer geht, hat seine Nervenprobe bestanden, denn jeder neue, schreckliche Eindruck krallt sich im Hirn fest und reiht sich an den lähmenden Vorstellungskomplex, der die Zeitspanne zwischen Heranbrausen und Einschlag der Eisenklumpen immer furchtbarer gestaltet.
Neben meinem Bette lag ein Feldwebel, der ein Bein verloren hatte, im Sterben. In seiner letzten Stunde erwachte er aus wirren Fieberschauern und ließ sich von der Schwester sein Lieblingskapitel aus der Bibel vorlesen. Dann bat er mit kaum hörbarer Stimme sämtliche Stubengenossen um Entschuldigung, daß er sie durch seine Fieberdelirien so oft aus der Ruhe gestört hätte und war in wenigen Minuten tot, nachdem er, um uns aufzuheitern, noch versucht hatte, den komischen Dialekt unserer Ordonnanz nachzuahmen.
Ich war froh, als ich halbgeheilt nach 14 Tagen diese Stätte gehäuften Elends verlassen konnte. Mit Stolz hatte ich von dem inzwischen so glänzend durchgeführten Sturm des Füsilier-Regiments gegen den St. Pierre-Vaast-Wald gelesen.
Die 111. Division hatte noch dieselbe Stellung inne. Als mein Zug in Epéhy einrollte, ertönte eine Reihe von Explosionen. Verstreute verbeulte Trümmer vom Güterwagen verrieten, daß hier nicht gespaßt wurde.
„Was ist denn hier los?“ fragte ein mir gegenübersitzender Hauptmann, der anscheinend frisch aus der Heimat exportiert war. Ohne mich mit einer Antwort aufzuhalten, riß ich die Tür des Abteils auf und nahm hinter dem Bahndamm Deckung. Zum Glück waren diese Einschläge die letzten. Es waren nur einige Pferde verwundet.
Da ich noch nicht gut marschieren konnte, wurde mir der Posten eines Beobachtungsoffiziers übertragen. Die Beobachtung lag an dem abfallenden Hang zwischen Nurlu und Moislains. Sie bestand aus einem in einen Unterstand eingebauten Scherenfernrohr, durch das ich die mir wohlbekannte vordere Linie beobachten konnte. Bei stärkerem Feuer, bunten Leuchtkugeln oder sonstigen besonderen Ereignissen war die Division telephonisch zu benachrichtigen. Tagelang hockte ich frierend auf einem Stühlchen hinter dem Doppelglase im Novembernebel ohne eine andere Abwechslung als ab und zu eine Leitungsprobe. War der Draht zerschossen, so mußte ich ihn durch meinen Störungstrupp flicken lassen.
Das moderne Schlachtfeld gleicht einer ungeheuren, ruhenden Maschinerie, in der ungezählte verborgene Augen, Ohren und Arme untätig auf die eine Minute lauern, auf die es allein ankommt. Dann fährt als feurige Ouverture eine einzelne rote Leuchtkugel aus irgendeinem Erdloche in die Höhe, tausend Geschütze brüllen zugleich auf, und mit einem Schlage beginnt das Werk der Vernichtung, von unzähligen Hebeln getrieben, seinen zermalmenden Gang.
Befehle stiegen als Funken und Blitze durch ein engmaschiges Netz, um vorn zu gesteigerter Vernichtung anzuspornen und von hinten in gleichmäßigem Strome neue Menschen und neues Material in Bewegung zu setzen und in die Brandung zu schleudern. Jeder fühlt sich wie durch einen Strudel von weither durch einen rätselhaften Willen gepackt und mit unerbittlicher Präzision zu den Brennpunkten tödlichen Geschehens getrieben.
Nach je 24 Stunden löste mich ein anderer Offizier ab, und ich erholte mich im nahen Nurlu, wo in einem großen Weinkeller ein verhältnismäßig bequemes Quartier eingerichtet war. Ich erinnere mich noch manchmal der langen, nachdenklichen Novemberabende, die ich, meine Pfeife rauchend, einsam vor dem Kamin des kleinen, tonnenförmigen Kellergewölbes verbrachte, während draußen im verwüsteten Park der Nebel von kahlen Bäumen tropfte und in langen Pausen ein widerhallender Einschlag die Stille unterbrach.
Am 18. November wurde die Division abgelöst und ich stieß wieder zum Regiment, das im Dorfe Fresnoy-le-Grand in Ruhe lag. Ich übernahm dort für den beurlaubten Leutnant Boje die Führung der zweiten Kompagnie. In Fresnoy hatte das Regiment vier Wochen ungestörter Ruhe, und jeder bemühte sich, davon so viel als möglich zu profitieren. Weihnachten und Neujahr wurden durch große Kompagniefeste gefeiert, bei denen Bier und Grog in Strömen floß. Es waren gerade noch fünf Mann in der zweiten Kompagnie, die das vorige Weihnachtsfest mit mir zusammen in den Schützengräben von Monchy gefeiert hatten.
Ich bewohnte mit dem Fähnrich Gornick und meinem Bruder Fritz, der als Fahnenjunker für sechs Wochen zum Regiment gekommen war, den sogenannten Salon und zwei Schlafzimmer eines französischen Kleinrentners. Wir machten uns redlich lustig über das spießige Ehepaar, das seine Plüschmöbel und Markartbuketts sowie den im Hofe aufgestapelten Holzvorrat mit wahren Argusaugen bewachte und mit den Burschen auf ständigem Kriegsfuße lebte.
Der Becher wurde in dem kleinen Neste schlimmer denn je geschwungen. Wenn man spät durch die engen Gassen schritt, hörte man überall aus Mannschafts-, Unteroffiziers- und Offiziersquartieren das Gewirr fröhlicher Gelage. Im Kriege ist alles auf rücksichtslose Wirkung berechnet, daher kam wohl auch die Vorliebe des Feldsoldaten für den Alkohol in seinen konzentrierten Formen. Der Verkehr mit der Zivilbevölkerung war teilweise von unerwünschter Vertraulichkeit; Venus entzog dem Mars manchen Diener.
Der Dienst wurde selbstverständlich sofort in altpreußischer Strammheit aufgenommen, und es war ein vorzügliches Zeichen für Führer und Truppe, daß nach 14 Tagen die Mannszucht wieder auf der alten Höhe stand.
In der ersten Woche fand eine Besichtigung durch den Divisionskommandeur, Generalmajor Sontag, statt, bei der das Regiment für seine hervorragende Haltung beim Sturm auf den St. Pierre-Vaast-Wald gerühmt und mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht wurde. Als ich dem Divisionskommandeur die zweite Kompagnie im Parademarsch vorführte, bemerkte ich, daß der Oberstleutnant v. Oppen dem General über mich zu berichten schien. Einige Stunden später wurde ich zum Divisionsstabsquartier befohlen, wo mir der General das Eiserne Kreuz I. Klasse überreichte.
Am 17. Januar 1917 wurde ich von Fresnoy für vier Wochen nach dem französischen Truppenübungsplatz Sisonne bei Laon zu einem Kompagnieführerkursus abkommandiert. Der Dienst wurde uns durch den Leiter unserer Abteilung, den Hauptmann Funk, sehr angenehm gemacht, der es in glänzender Weise verstand, das Wesen über die starre Form zu stellen und uns mit Interesse für die Sache zu erfüllen.
Die Verpflegung während dieser Zeit war wohl die kümmerlichste, die ich im Kriege erlebt habe. Auf den Tischen unseres riesengroßen Kasinos stand während der ganzen vier Wochen selten etwas anderes als ein dünnes Steckrübengemüse. Dabei war der Dienst keineswegs leicht.
Zum Regiment zurückgekehrt, das seit einigen Tagen bei den Ruinen von Villers-Carbonnel in Stellung lag, bekam ich vertretungsweise die Führung der 8. Kompagnie. Ruheort war Devise.
Wenn man von dort nach der Front marschierte, mußte man die Somme-Niederung bei den Dörfern Brie und St. Christ überschreiten, deren trostlose Verwüstung inmitten der melancholischen Sumpflandschaft mich besonders nachts in eine traurige Stimmung versetzte, wenn dunkle Wolkenfetzen über den Mondhimmel jagten und durch unheimliche Beleuchtungsdifferenzen den Eindruck des Chaotischen verstärkten.
Die Stellung war während der letzten Zeit unseres Aufenthaltes zahlreichen englischen Vorstößen ausgesetzt, die mit unserer eifrig vorbereiteten großen Räumung des Sommegebietes zusammenhingen. Der Gegner entsandte fast jeden Morgen eine Kampfpatrouille gegen unsere Linie, um sich von unserer Anwesenheit zu überzeugen. Ich bringe hier einige Erlebnisse der damaligen Periode:
4. 3. 1917. Am Nachmittag herrschte des klaren Wetters wegen lebhafte Feuertätigkeit. Besonders eine schwere Batterie ebnete unter Ballonbeobachtung den Abschnitt meines 3. Zuges fast vollkommen ein. Um meine Stellungskarte zu vervollständigen, patschte ich am Nachmittag durch den vollständig versoffenen „namenlosen Graben“ zum 3. Zuge. Während dieses Weges sah ich vor uns eine riesige, gelbe Sonne zur Erde sinken, eine lange, schwarze Rauchfahne nach sich ziehend. Ein schneidiger Flieger hatte sich an den unangenehmen Fesselballon herangemacht und ihn in Brand geschossen. Er entkam trotz rasendem Verfolgungsfeuer.
Am Abend kam der Gefreite Schnau zu mir und meldete, unter seinem Gruppenunterstande schon seit vier Tagen ein pickendes Geräusch vernommen zu haben. Ich gab diese Beobachtung weiter und bekam ein Pionierkommando mit Horchapparaten gestellt, das allerdings nichts Verdächtiges wahrnahm. Später erfuhren wir, daß damals die ganze Stellung unterminiert gewesen sein soll.
Am 5. 3. näherte sich in den frühen Morgenstunden eine Patrouille unserem Graben und begann, das Drahtverhau zu durchschneiden. Der Leutnant Eisen eilte mit einigen Leuten auf die Meldung eines Postens herbei und warf Handgranaten, worauf die Angreifer sich zur Flucht wandten und zwei Mann liegen ließen. Der eine, ein junger Leutnant, starb gleich darauf; der andere, ein Sergeant, war schwer an Arm und Bein verwundet. Aus den Papieren des Offiziers ging hervor, daß er den Namen Stokes trug und dem Royal Munster 2. Füsilier-Regiment angehörte. Er war sehr gut angezogen, und sein vom Tode verkrampftes Gesicht war intelligent und energisch geschnitten. Wir begruben ihn hinter unserem Graben und setzten ihm ein einfaches Kreuz. Ich ersah aus diesem Erlebnis, daß nicht jeder Patrouillengang so glücklich zu enden brauchte wie meine bisherigen.
Am nächsten Morgen griff der Engländer nach kurzer Artillerievorbereitung den Abschnitt der Nachbarkompagnie, in dem der Leutnant Reinhardt befehligte, mit 50 Mann an. Der Gegner hatte sich vor den Draht geschlichen, und nachdem einer von ihnen mit einer am Ärmelaufschlag befestigten Reibfläche ein Lichtzeichen gegeben hatte, um die englischen Maschinengewehre zum Schweigen zu bringen, war er gleichzeitig mit seinen letzten Granaten gegen unseren Graben angelaufen. Alle hatten berußte Gesichter, um sich möglichst wenig von der Dunkelheit abzuheben.
Unsere Leute empfingen sie indessen so meisterhaft, daß nur ein einziger in den Graben gelangte. Dieser rannte gleich bis zur zweiten Linie durch, wo er, nachdem er die Aufforderung, sich zu ergeben, nicht beachtet hatte, niedergeschossen wurde. Den Draht zu überspringen, gelang nur einem Leutnant und einem Sergeanten. Der Leutnant wurde, trotzdem er unter der Uniform einen Panzer trug, erledigt, da ihm eine von Reinhardt à coup portant entgegengesandte Pistolenkugel eine ganze Panzerplatte in den Leib jagte. Dem Sergeanten wurden durch Handgranatensplitter beide Beine fast abgerissen, trotzdem behielt er mit stoischer Ruhe seine kurze Pfeife bis zum Tode zwischen den zusammengebissenen Zähnen.
Am Vormittag dieses erfolgreichen Morgens schlenderte ich durch meinen Graben und sah auf einem Postenstande den Leutnant Pfaffendorf, der von dort mit einem Scherenfernrohr das Feuer seiner Minenwerfer leitete. Ich trat neben ihn und bemerkte sofort einen Engländer, der hinter der dritten feindlichen Linie über Deckung ging und sich in seiner khakibraunen Uniform scharf vom Horizont abhob. Ich riß dem nächsten Posten das Gewehr aus der Hand, stellte Visier 600, nahm den Mann scharf aufs Korn, hielt etwas vor den Kopf und zog ab. Er tat noch drei Schritte, fiel dann auf den Rücken, als ob ihm die Beine unter dem Leib fortgezogen wären, schlug ein paarmal mit den Armen und rollte in ein Granatloch, aus dem wir durch das Glas noch lange seinen braunen Ärmel leuchten sahen.
Am 9. 3. wurde unser Abschnitt mit schweren Granaten zugedeckt. Ich hatte einen Toten und mehrere Verwundete. Der Eingang meines Stollens wurde wie eine Streichholzschachtel zermalmt. Am Abend wurden wir abgelöst und marschierten nach Devise.
Am 13. bekam ich vom Oberst v. Oppen den ehrenvollen Auftrag, den Kompagnieabschnitt mit einer Patrouille von zwei Gruppen bis zum völligen Übergang des Regiments über die Somme zu halten. Jeder der vier Abschnitte in vorderer Linie sollte durch eine derartige Patrouille, deren Führung energischen Offizieren übertragen war, besetzt werden. Die Abschnitte waren vom rechten Flügel den Leutnants Reinhardt, Fischer, Lorek und mir unterstellt. Die Dörfer, die wir auf unserem Marsch nach vorn passierten, hatten das Aussehen großer Tollhäuser angenommen. Ganze Kompagnien stießen und rissen Mauern um oder saßen oben auf den Dächern und zertrümmerten die Ziegel. Bäume wurden gefällt, Scheiben zerschlagen, rings stiegen von gewaltigen Schutthaufen Rauch und Staubwolken auf, kurz, es wurde eine Orgie der Vernichtung gefeiert.
Man sah Leute in den von den Einwohnern zurückgelassenen Anzügen und Frauenkleidern, Zylinderhüte auf den Köpfen, voll unglaublichem Eifer umherrasen. Sie fanden mit geradezu genialem Scharfsinn den Hauptbalken der Häuser heraus, befestigten Seile daran und zogen mit dem taktmäßigen Geschrei größter Anstrengung so lange, bis alles zusammenprasselte. Andere schwangen gewaltige Hämmer und zerschmetterten damit, was ihnen in den Weg kam, vom Blumentopfe vorm Fensterbrett bis zur kunstvollen Glaskonstruktion eines Wintergartens.
Bis zur Siegfriedstellung war jedes Dorf ein Trümmerhaufen, jeder Baum gefällt, jede Straße unterminiert, jeder Brunnen verpestet, jeder Flußlauf abgedämmt, jeder Keller gesprengt oder durch versteckte Bomben gefährdet, alle Vorräte oder Metalle zurückgeschafft, jede Schiene abmontiert, jeder Telephondraht abgerollt, alles Brennbare verbrannt; kurz, das Land, das den vordringenden Gegner erwartete, war in ödeste Wüste verwandelt.
Die moralische Berechtigung dieser Zerstörungen ist viel umstritten, doch scheint mir das chauvinistische Wutgeheul diesmal verständlicher als der befriedigte Beifall der Heimkrieger und Zeitungsschreiber. Wo tausende friedlicher Menschen ihrer Heimat beraubt werden, muß das selbstgefällige Machtgefühl schweigen.
Über die Notwendigkeit der Tat bin ich als preußischer Offizier natürlich keinen Augenblick im Zweifel. Kriegführen heißt, den Gegner durch rücksichtslose Kraftentfaltung zu vernichten suchen. Der Krieg ist der Handwerke härtestes, seine Meister dürfen der Menschlichkeit nur so lange das Herz öffnen, als sie nicht schaden kann.
Daß diese Handlung, die die Stunde forderte, nicht schön war, tut nichts zur Sache. Der aufmerksame Beobachter ersah es schon aus der Weise, in der sich der objektive Führerwille bei der Mannschaft in eine Reihe von niederen Instinkten umsetzte.
Am 13. verließ die zweite Kompagnie die Stellung, die ich mit meinen beiden Gruppen übernahm. In dieser Nacht fiel ein Mann mit dem ominösen Namen Kirchhof durch Kopfschuß. Merkwürdigerweise war dieses Unglücksgeschoß das einzige, das vom Gegner innerhalb mehrerer Stunden abgeschossen wurde.
Ich ordnete alles Mögliche an, um den Gegner über unsere Stärke zu täuschen. Bald wurden hier, bald dort einige Schaufeln voll Erde über Deckung geworfen, und unser einziges Maschinengewehr mußte bald vom rechten, bald vom linken Flügel eine Reihe von Schüssen abgeben. Trotzdem klang unser Feuer recht dünn, wenn niedrigfliegende Beobachter die Stellung überkreuzten oder eine Abteilung von Schanzern das feindliche Hinterland durchquerte. Daher tauchten jede Nacht an verschiedenen Punkten vor unserem Graben Patrouillen auf, die sich am Draht zu schaffen machten.
Am vorletzten Tage hätte ich beinahe ein ärgerliches Ende gefunden. Der Blindgänger einer Ballonabwehrkanone sauste aus gewaltiger Höhe herunter und explodierte auf der Schulterwehr, an die ich mich ahnungslos gelehnt hatte. Ich wurde durch den Luftdruck genau in die gegenüberliegende Öffnung eines Stollens geschleudert, wo ich mich äußerst verdutzt wiederfand.
Am 17. morgens merkten wir, daß ein Angriff nahe bevorstehen mußte. Im vorderen, sonst unbesetzten, stark verschlammten englischen Graben erklang das Patschen vieler Stiefel. Das Lachen und Rufen einer starken Abteilung verriet, daß diese Leute sich auch innerlich gut angefeuchtet haben mußten. Dunkle Gestalten näherten sich unserem Draht und wurden durch Schüsse vertrieben, eine brach jammernd zusammen und blieb liegen. Ich zog meine Leute igelförmig um die Einmündung eines Laufgrabens zusammen und bemühte mich, das Vorgelände in dem plötzlich einsetzenden Artillerie- und Minenfeuer durch Leuchtkugeln zu erhellen. Da uns die weißen bald ausgingen, jagten wir ein wahres Feuerwerk von bunten in die Luft. Als um 5 Uhr die Stunde der befehlsmäßigen Räumung anbrach, sprengten wir noch rasch die Unterstände mit Handgranaten auseinander, soweit wir sie nicht vorher mit teilweise genial konstruierten Höllenmaschinen versehen hatten.
Zur festgesetzten Zeit zogen sich sämtliche Patrouillen, teilweise schon in Handgranatenkämpfe verwickelt, gegen die Somme zurück. Nachdem wir als die Letzten die Niederung überschritten hatten, wurden die Brücken durch Pionierkommandos in die Luft gesprengt. Auf unserer Stellung tobte noch immer das Trommelfeuer. Erst nach einigen Stunden erschienen die ersten feindlichen Patrouillen an der Somme. Wir zogen uns hinter die noch im Bau befindliche Siegfriedstellung zurück; das Bataillon bezog Quartier in dem am „Canal de St. Quentin“ gelegenen Dorfe Lehaucourt. Ich bewohnte mit meinem Burschen ein kleines, gemütliches Häuschen, in dem der Hausrat der verbannten Bewohner noch in Truhen und Schränken aufgespeichert war. Als bezeichnenden Zug für das Wesen unserer Leute möchte ich anführen, daß mein Bursche, der treue Knigge, trotz allem Zureden nicht zu bewegen war, sein Nachtlager im warmen Wohnzimmer aufzuschlagen, sondern durchaus in der kalten Küche schlafen wollte. Diese dem Niedersachsen eigene Zurückhaltung machte dem Führer den Verkehr mit der Mannschaft leicht. Die Disziplin im Regiment wurde erst von dem Tage an lockerer, an dem wir Angehörige anderer Stämme als Ersatz einstellen mußten.
Am ersten Ruheabend lud ich meine Freunde zu einem mit sämtlichen vom Hausbesitzer hinterlassenen Gewürzen gefeuerten Glühwein ein, denn unsere Rückzugspatrouille hatte nicht nur das Lob aller Vorgesetzten, sondern auch einen vierzehntägigen Urlaub zur Folge gehabt.
Mein Urlaub, den ich einige Tage später antrat, wurde diesmal nicht unterbrochen. Am 9. April 1917 kam ich wieder bei der zweiten Kompagnie an, die im Dorfe Merignies unweit Douai in Quartier lag. Die Wiedersehensfreude wurde durch einen unerwarteten Alarm gestört, der mir besonders durch den Auftrag, den Gefechtstroß nach Beaumont zu führen, unangenehm wurde. Durch Regenschauer und Schneegestöber ritt ich an der Spitze der über die Chaussee schleichenden Wagenkolonne, bis wir um 1 Uhr nachts unser Ziel erreicht hatten.
Nachdem ich Pferde und Leute aufs notdürftigste untergebracht hatte, ging ich auf Suche nach einem Quartier für mich, doch fand ich auch den kleinsten Platz schon besetzt. Endlich kam ein Feldintendanturbeamter auf den guten Gedanken, mir sein Bett anzubieten, da er am Telephon wachen mußte. Während ich mich mit Stiefeln und Sporen darauf warf, erzählte er mir, daß die Engländer den Bayern die Vimy-Höhe und ein großes Stück Gelände abgenommen hätten. Trotz seiner Gastfreundlichkeit mußte ich feststellen, daß ihm die Verwandlung seines stillen Etappendörfchens in einen Rendez-vous-Platz der Kampftruppen äußerst unangenehm schien.
Am folgenden Morgen marschierte das Bataillon dem Kanonendonner entgegen bis zum Dorfe Fresnoy. Dort bekam ich Befehl, eine Beobachtungsstelle zu errichten. Ich suchte mir mit einigen Leuten am Westrande des Dorfes ein Häuschen aus, durch dessen Dach ich einen zur Front gerichteten Ausguck schlagen ließ. Unsere Wohngemächer verlegten wir in den Keller, bei dessen Ausräumung uns als angenehmer Zuschuß zu unserer äußerst knappen Verpflegung ein Sack Kartoffeln in die Hände fiel. Auch schickte mir der Leutnant Gornick, der das bereits geräumte Dorf Villerwal mit einem Zuge als Feldwache besetzt hielt, als kameradschaftliches Geschenk aus den in der Eile zurückgelassenen Beständen eine große Dose Leberwurst und einige Flaschen Rotwein. Eine von mir sofort mit Kinderwagen und ähnlichen Transportmitteln ausgerüstete Expedition zur Bergung dieser Schätze mußte leider unverrichteter Dinge wieder umkehren, da der Engländer den Dorfrand bereits mit dichten Schützenlinien erreicht hatte.
Am 14. April bekam ich den Auftrag, im Dorfe eine Nachrichtensammelstelle zu errichten. Es waren mir zu diesem Zwecke Meldeläufer, Radfahrer, Telephone, Lichtsignalstation, Erdtelegraph, Brieftauben und eine Leuchtpostenkette zur Verfügung gestellt. Ich suchte mir am Abend einen passenden Keller mit eingebautem Stollen aus und begab mich dann zum letztenmal in meine alte Wohnung am Westrande.
In der Nacht glaubte ich einige Male Krachen und Geschrei meines Burschen zu hören, war aber so schlaftrunken, daß ich nur murmelte: „Laß man schießen!“ und mich auf die andere Seite wälzte, trotzdem der ganze Raum dicht voll Staub war. Am nächsten Morgen wurde ich durch den Neffen des Obersts von Oppen, den kleinen Schultz, mit dem Rufe geweckt: „Mensch, wissen Sie noch gar nicht, daß Ihr ganzes Haus zusammengeschossen ist?“ Als ich aufstand und mir den Schaden besah, merkte ich, daß eine schwere Granate oben am Dache geplatzt war und sämtliche Räume mit dem Beobachtungsstande eingerissen hatte. Der Zünder hätte nur ein wenig gröber zu sein brauchen, und das Geschoß hätte uns im Keller an die Wände geklebt. Schultz erzählte mir, daß seine Ordonnanz beim Anblick des zerstörten Hauses gesagt hätte: „Da hat doch gestern ein Leutnant drin gewohnt, wir wollen doch mal sehen, ob der noch is.“ Mein Bursche war ganz außer sich über meinen unglaublich festen Schlaf.
Am Vormittag siedelten wir in unseren neuen Keller über. Auf dem Wege dorthin hätten uns beinahe die Trümmer des einstürzenden Kirchturms erschlagen, der von einem Pionierkommando sans façon in die Luft gesprengt wurde, um der feindlichen Artillerie das Einschießen zu erschweren. In einem Nachbardorfe hatte man sogar vergessen, einen Doppelposten zu benachrichtigen, der aus der Turmluke beobachtete. Wunderbarerweise konnte man die Leute unverletzt aus dem Gebälk hervorziehen.
Wir richteten uns in unserem geräumigen Keller ganz leidlich ein, indem wir Möbelstücke aus Schloß und Hütte, die uns gerade praktisch erschienen, zusammenschleppten.
Während der ganzen Tage spielte sich über uns eine Reihe erbitterter Fliegerkämpfe ab, die fast immer mit der Niederlage der Engländer endeten, da die Kampfstaffel Richthofen über der Gegend kreiste. Oft wurden fünf, sechs Flugzeuge nacheinander auf den Boden gedrückt oder brennend abgeschossen. Einmal sahen wir den Insassen in weitem Bogen herausfliegen und als schwarzen Punkt von seiner Maschine getrennt zur Erde stürzen. Das Hinaufstarren barg allerdings auch seine Gefahren, so wurde zum Beispiel ein Mann der 4. Kompagnie durch einen herabfallenden Splitter tödlich am Halse getroffen.
Am 18. April besuchte ich die 2. Kompagnie in Stellung, die in einem um das Dorf Arleux geschlungenen Frontbogen lag. Leutnant Boje erzählte mir, daß er bislang nur einen einzigen Verwundeten gehabt hätte, da das planmäßige Einschießen der Engländer jedesmal eine Räumung der beschossenen Abschnitte gestattete.
Nachdem ich ihm alles Gute gewünscht hatte, mußte ich der ständig einschlagenden schweren Granaten wegen das Dorf im Galopp verlassen. 300 Meter hinter Arleux blieb ich stehen und betrachtete die Wolken der hochspritzenden Einschläge, die, je nachdem Ziegelmauern zermalmt oder Gartenerde aufgeschleudert wurde, rot oder schwarz gefärbt waren, vermischt mit dem zarten Weiß platzender Schrapnells. Als jedoch einige Gruppen leichter Granaten auf die schmalen Trampelpfade fielen, die Arleux mit Fresnoy verspannen, verzichtete ich auf weitere Impressionen und räumte eiligst das Feld, um mich nicht „antöten“ zu lassen, wie der damals gerade übliche Fachausdruck der zweiten Kompagnie lautete.
Derartige Spaziergänge, die ich zum Teil bis zum Städtchen Henin-Liétard ausdehnte, machte ich ziemlich oft, da in den ersten 14 Tagen trotz meines großen Personals nicht eine einzige Meldung zu befördern war.
Vom 20. April ab wurde Fresnoy durch ein 30,5-cm-Geschütz beschossen, dessen Granaten mit geradezu infernalischem Fauchen heranheulten. Nach jedem Einschlag war das Dorf in eine gewaltige, rotbraune Pikrinwolke gehüllt. Ein Mann der 9. Kompagnie, auf dem Schloßhofe von einem derartigen Geschoß überrascht, wurde hoch über die Bäume des Parkes geschleudert und brach beim Aufsturze sämtliche Knochen.
An den Nachmittagen lag das Dorf unter dem Feuer verschiedenster Kaliber. Trotz der Gefahr konnte ich mich nicht vom Dachfenster meines Quartiers trennen, denn es war ein spannender Anblick, einzelne Abteilungen und Meldegänger hastig und sich oft niederwerfend über das beschossene Gelände eilen zu sehen, während rechts und links von ihnen der Boden aufwirbelte.
Von Tag zu Tag wurde die Artillerietätigkeit lebhafter und schloß jeden Zweifel an einem baldigen Angriffe aus. Am 27. bekam ich um Mitternacht den Fernspruch: „67 von 5 a. m.“, was nach unserem Zifferncode „von 5 Uhr vormittags an erhöhte Alarmbereitschaft“ bedeutete.
Ich legte mich also, um den voraussichtlichen Anstrengungen gewachsen zu sein, gleich nieder, doch als ich gerade beim Einschlafen war, schlug eine Granate ins Haus, drückte die Wand der Kellertreppe ein und warf uns das ganze Mauerwerk in den Raum. Wir sprangen hoch und eilten in den Stollen.
Als wir verdrossen und müde beim Scheine einer Kerze auf der Treppe hockten, kam der Führer meiner Lichtsignalisten, deren Station nebst zwei wertvollen Signallampen am Nachmittage zerschmettert war, angestürmt und meldete: „Herr Leutnant, der Keller von Haus Nr. 11 hat einen Volltreffer bekommen, es liegen noch welche unter den Trümmern!“ Da ich im Haus Nr. 11 zwei Radfahrer und drei Telephonisten liegen hatte, eilte ich mit einigen Leuten zu Hilfe.
Ich fand dort im Stollen einen Gefreiten und einen Verwundeten und erhielt folgenden Bericht: Als die ersten Schüsse verdächtig nahe einschlugen, beschlossen vier von den fünf Bewohnern, sich in den Stollen zu begeben. Der eine sprang gleich hinunter, einer blieb ruhig auf seinem Bette liegen, während die übrigen erst ihre Stiefel anzogen. Der Vorsichtigste und der Gleichgültigste kamen, wie so oft im Kriege, gut davon, der eine ganz ohne Verwundung, der Schlafende mit einem Splitter am Oberschenkel. Die drei anderen wurden von der durch die Kellerwand fliegenden und in der gegenüberliegenden Ecke zerschellenden Granate zerrissen.
Nach dieser Erzählung zündete ich mir für alle Fälle eine Zigarre an und trat in den raucherfüllten Raum, in dessen Mitte sich ein wüster Trümmerhaufen von zerschlagenen Bettstellen, Strohsäcken und anderen Möbelstücken fast bis zur Decke emporwölbte. Nachdem wir einige Lichter zwischen die Mauerfugen gesteckt hatten, machten wir uns an die traurige Arbeit. Wir packten die aus den Trümmern ragenden Gliedmaßen und zogen die Leichen heraus. Dem einen war der Kopf abgeschlagen und der Hals saß am Rumpf wie ein großer, blutiger Schwamm. Aus dem Armstumpf des zweiten ragte der zersplitterte Knochen, und die Uniform war vom Blute einer großen Brustwunde durchtränkt. Dem dritten quollen die Eingeweide aus dem aufgerissenen Leib. Als wir diesen herauszogen, stemmte sich ein zersplittertes Brett mit häßlichem Geräusch in die schauerliche Wunde. Die eine Ordonnanz machte eine Bemerkung darüber und wurde von meinem Burschen mit den Worten: „Swieg man stille, bi solchen Sachen hat Quasseln kein Zweck!“ zur Ruhe verwiesen.
Ich nahm ein Verzeichnis der Wertsachen auf, die wir bei ihnen fanden. Es war ein unheimliches Geschäft. Die Kerzen flackerten rötlich durch den dichten Dunst, während die beiden Leute mir Brieftaschen und silberne Gegenstände zureichten wie bei einer geheimen, dunklen Tat. Auf den Gesichtern der Toten hatte sich das feine gelbe Ziegelmehl niedergeschlagen und gab ihnen das starre Aussehen von Wachsmasken. Wir warfen Decken über sie und eilten aus dem Keller, nachdem wir unseren Verwundeten in eine Zeltbahn gepackt hatten. Mit dem stoischen Rate: „Beiß die Zähne zusammen, Kamerad!“ schleppten wir ihn durch ein wildes Schrapnellfeuer zum Sanitätsunterstand.
In meine Behausung zurückgekehrt, stärkte ich mich zunächst durch eine Reihe Sherry-Brandies, denn die Ereignisse waren mir doch auf die Nerven gefallen. Bald bekamen wir wieder lebhaftes Feuer und versammelten uns eiligst im Stollen, da uns allen das eben geschaute Beispiel von Artilleriewirkung in Kellern noch deutlich vor Augen stand.
Um 5.14 Uhr schwoll das Feuer in wenigen Sekunden zu unerhörter Stärke. Unser Stollen wankte und zitterte wie ein Schiff auf stürmischer See; ringsum erdröhnte das Bersten von Mauerwerk und das Krachen der zusammenstürzenden benachbarten Häuser.
Um 7 Uhr fing ich einen Lichtspruch der Brigade an das zweite Bataillon auf: „Brigade will sofort Klarheit über die Lage.“ Nach einer Stunde brachte mir ein Meldeläufer die Nachricht zurück: „Feind besetzte Arleux, Park von Arleux. Setzte achte Kompagnie zum Gegenstoß an, bislang keine Nachricht. Rocholl, Hauptmann.“
Dies war die einzige, allerdings sehr wichtige Nachricht, die ich mit meinem riesigen Apparat von Verbindungsmitteln während der drei Wochen meines Aufenthaltes in Fresnoy weitergab. Jetzt, wo meine Tätigkeit von größtem Wert war, hatte mir die Artillerie fast alle Anlagen außer Gefecht gesetzt. Das waren die Folgen der Über-Zentralisation.
Mir wurde durch diese überraschende Aufklärung verständlich, warum schon seit einiger Zeit aus ziemlicher Nähe abgefeuerte Infanteriegeschosse gegen die Mauern klappten.
Kaum waren wir uns über die großen Verluste des Regiments klar, als die Beschießung mit erneuter Wucht einsetzte. Mein Bursche stand als letzter noch auf der obersten Stollenstufe, als ein Donnerkrach ankündete, daß es dem Engländer endlich gelungen war, unseren Keller einzuschießen. Der biedere Knigge bekam einen derben Kantstein auf den Buckel, nahm aber sonst keinen Schaden. Oben war alles kurz und klein geschlagen. Das Tageslicht blickte nur noch durch zwei in den Stolleneingang gepreßte Fahrräder zu uns herab. Wir zogen uns ziemlich kleinlaut auf die unterste Stufe zurück, während fortwährend dumpfe Erschütterungen und Steingepolter uns von der Unsicherheit unseres Asyles überzeugten.
Wie durch ein Wunder war das Telephon noch unbeschädigt; ich stellte dem Chef des Divisionsmeldewesens unsere unzweckmäßige Lage vor und bekam Befehl, mich mit den Leuten in den naheliegenden Sanitätsstollen zurückzuziehen.
Wir packten also unsere notwendigsten Sachen zusammen und schickten uns an, den Stollen durch den zweiten noch erhaltenen Ausgang zu verlassen. Trotz meiner energischen, durch unzweideutige Drohungen unterstützten Befehle zögerten die wenig kriegsgewandten Leute der Fernsprechkompagnie so lange, sich aus dem Schutze des Stollens ins Feuer zu begeben, bis auch dieser Eingang, von einer schweren Granate zermalmt, krachend zusammenbrach. Zum Glück wurde niemand getroffen, nur unser kleiner Hund heulte jämmerlich auf und war von diesem Augenblick an verschwunden.
Wir rissen nun die den Ausgang zum Keller versperrenden Fahrräder zur Seite, krochen auf allen Vieren über den Trümmerhaufen hinweg und gewannen durch eine enge Mauerspalte das Freie. Ohne uns mit der Betrachtung der unglaublichen Verwandlung des Ortes innerhalb dieser wenigen Stunden aufzuhalten, rannten wir dem Dorfausgang zu. Kaum hatte der Letzte das Hoftor verlassen, als das Haus schon wieder durch einen mächtigen Einschlag getroffen wurde.
Auf dem Gelände zwischen dem Dorfrand und dem Sanitätsstollen lag ein kompakter Feuerriegel. Leichte und schwere Granaten mit Aufschlag-, Brenn- und Verzögerungszündern, Blindgänger, Hohlbläser und Schrapnells vereinten sich zu einer Raserei akustischer und optischer Effekte. Dazwischen strebten, rechts und links dem Hexenkessel des Dorfes ausweichend, Unterstützungstrupps nach vorn.
In Fresnoy löste eine kirchturmhohe Erdsäule die andere ab, jede Sekunde schien die vorhergehende noch übertrumpfen zu wollen. Wie durch Zaubermacht wurde ein Haus nach dem andern vom Erdboden eingesogen; Mauern brachen, Giebel stürzten, und kahle Sparrengerüste wurden durch die Luft geschleudert, die benachbarten Dächer abmähend. Über weißlichen Dampfschwaden tanzten Wolken von Splittern. Auge und Ohr hingen wie gebannt an dieser wirbelnden Vernichtung.
Im Sanitätsstollen verbrachten wir noch zwei Tage in qualvoller Enge, denn außer von meinen Leuten wurde er noch von zwei Bataillonsstäben, Ablösungskommandos und den unvermeidlichen „Versprengten“ bevölkert. Der starke Verkehr vor den Eingängen blieb natürlich nicht unbemerkt. Bald saßen in Abständen von einer Minute scharf gezielte Granaten auf dem vorüberführenden Feldwege und verwundeten alle Augenblicke ein paar Leute. Ich büßte durch diese unangenehme Schießerei vier Fahrräder ein, die wir neben den Stolleneingang gelegt hatten. Sie wurden, zu seltsamen Gebilden verbogen, in alle Winde geschleudert.
Vor dem Eingang lag steif und stumm in eine Zeltbahn gerollt, die große Hornbrille noch im Gesicht, der Führer der 8. Kompagnie, Leutnant Lemière, den seine Leute hierher geschafft hatten. Er hatte einen Schuß in den Mund bekommen. Sein jüngerer Bruder fiel einige Monate später durch genau dieselbe Verletzung.
Am 30. April übernahm mein Nachfolger von dem ablösenden Regiment Nr. 25 meine Geschäfte, und wir rückten nach Flers, dem Sammelort des ersten Bataillons, ab. Das Kalkwerk „Chez-bon-temps“ mit seinen schweren Einschlägen links liegenlassend, schlenderten wir seelenvergnügt durch den wunderschönen Nachmittag über den Feldweg nach Beaumont. Die Augen genossen wieder die Schönheit der Erde und die Lunge berauschte sich an der milden Frühlingsluft, froh, der unerträglichen Enge des Stollenloches entronnen zu sein. Den Kanonendonner im Rücken, empfand ich das Dichterwort nach:
Fürwahr ein Tag, von Gott gemacht,
Zu besserm Ding als sich zu schlagen.
In Flers fand ich das mir zugewiesene Quartier von einigen Feldwebeln der Etappe besetzt, die sich unter dem Vorwande, das Zimmer für einen Freiherrn von X. bewachen zu müssen, weigerten, Platz zu machen, jedoch nicht mit den aufs äußerste gespannten Nerven eines ermüdeten Frontsoldaten rechneten. Ich ließ von meinen Begleitern kurzerhand die Tür einschlagen und nach einem kleinen Handgemenge vor den Augen der erschreckt im Negligé herbeigeeilten Hausbewohner flogen die Herren die Treppe hinunter. Mein Bursche trieb die Höflichkeit sogar so weit, ihnen ihre langen Stiefel nachzuschleudern. Nach diesem Angriffsgefecht bestieg ich das angewärmte Bett, dessen Hälfte ich noch meinem ohne Quartier herumirrenden Freunde Kius anbot. Der Schlaf in diesem langentbehrten Möbel tat uns so wohl, daß wir am nächsten Morgen „in alter Frische“ erwachten.
Da das erste Bataillon während der verflossenen Kampftage die wenigsten Verluste gehabt hatte, war die Stimmung vorzüglich, als wir zum Bahnhof Douai marschierten. Von dort fuhren wir bis zum Bahnknotenpunkt Busigny, in dessen Nähe das Dorf Sérain lag, wo wir uns einige Tage erholen sollten. Wir fanden bei der freundlichen Bevölkerung gute Quartiere, und schon am ersten Abend drang aus vielen Häusern der fröhliche Lärm kameradschaftlicher Wiedersehensfeiern.
Dieses Trankopfer nach glücklich bestandener Schlacht zählt zu den schönsten Erinnerungen alter Krieger.
Und wenn zehn vom Dutzend gefallen waren, die letzten zwei fanden sich mit tödlicher Sicherheit am ersten Ruheabend beim Becher, brachten den toten Kameraden ein stilles Glas und besprachen scherzend die gemeinsamen Erlebnisse. Den überstandenen Gefahren ein Landsknechtslachen, den künftigen ein Schluck aus voller Flasche, ob Tod und Teufel dazu grinsten, wenn nur der Wein gut war. So war von je rechter Kriegsbrauch.
Das hat mir vor allem den Offizierstisch wert gemacht. Hier, wo die geistigen Träger und Vorkämpfer der Front zusammenkamen, konzentrierte sich der Wille zum Siege und wurde Form in den Zügen wetterharter Gesichter. Hier war ein Element lebendig, das die Wüstheit des Krieges unterstrich und doch vergeistigte, das man bei den Leuten, mit denen man zusammen in den Trichtern lag, so selten fand, die sportsmäßige Freude an der Gefahr, der ritterliche Drang zum Bestehen eines Kampfes. Zum mindesten habe ich in diesem viel verlästerten Kreise niemals ein Wort des Zagens vernommen.
Am nächsten Morgen erschien mein Bursche und las mir Befehle vor, aus denen mir gegen Mittag klar wurde, daß ich die Führung der vierten Kompagnie übernehmen sollte. In dieser Kompagnie war im Herbst 1914 der niedersächsische Dichter Hermann Löns gefallen.
Am 6. Mai 1917 waren wir schon wieder auf dem Marsche nach dem wohlbekannten Brancourt, und am folgenden Tage rückten wir über Montbréhain, Ramicourt, Joncourt in die Siegfriedstellung, die wir erst vor einem Monat verlassen hatten.
Der erste Abend war stürmisch; starke Regenschauer prasselten unaufhörlich auf das überschwemmte Gelände nieder. Bald versöhnte uns jedoch eine Reihe von schönen, warmen Tagen mit unserem neuen Aufenthaltsort.
Unsere Stellung bildete einen halbmondförmigen Vorsprung vor dem Kanal von St. Quentin, dahinter lag die berühmte Siegfriedstellung. Es war mir rätselhaft, warum wir uns in die engen, unvollkommenen Kreidegräben legen mußten, während wir das mächtige, riesenstarke Bollwerk hinter uns hatten.
Die vordere Linie schlängelte sich durch ein idyllisches, von kleinen Baumgruppen beschattetes Wiesengelände in den zarten Farben des ersten Frühjahrs. Man konnte sich ungestraft hinter und vor den Gräben bewegen, da zahlreiche, kilometerweit vorgeschobene Feldwachen die Stellung sicherten. Diese Postierungen waren dem Gegner ein Dorn im Auge, und es verging in mancher Woche keine Nacht, wo er nicht hier oder dort mit List oder Gewalt die kleinen Besatzungen zu vertreiben suchte.
Unsere erste Stellungsperiode verging jedoch in angenehmer Ruhe; die Witterung war so schön, daß die Leute die milden Nächte im Grase liegend verbrachten. Am 14. Mai wurden wir von der achten Kompagnie abgelöst und rückten, das brennende St. Quentin zur Rechten, nach unserem Ruheort Montbréhain, einem großen Dorfe, das noch wenig durch den Krieg gelitten hatte und infolgedessen sehr gemütliche Quartiere aufwies. Am 20. besetzten wir als Reservekompagnie die Siegfriedstellung. Wir hatten die reinste Sommerfrische, tagsüber saßen wir in den zahlreichen in die Böschung eingebauten Lauben oder badeten und ruderten im Kanal.
Der Nachteil solcher Idealstellungen ist der häufige Besuch von Vorgesetzten, der gerade in den Schützengräben am wenigsten geschätzt wird. Allerdings hatte sich mein linker, an das Dorf Bellenglise grenzender Flügel keineswegs über Mangel an Feuer zu beklagen. Gleich am ersten Tage bekam einer meiner Leute einen Schrapnellsteckschuß in die rechte Gesäßseite. Als ich auf diese Nachricht hin zur Unglücksstelle eilte, saß er schon wieder ganz vergnügt, die Sanitäter erwartend, auf der linken Seite, trank Kaffee und aß eine riesige Marmeladenstulle dazu.
Am 25. Mai lösten wir die zwölfte Kompagnie in der Riqueval-Ferme ab. Diese Ferme, ein ehemaliger großer Gutshof, diente jeweilig einer der vier Stellungskompagnien zum Aufenthalt. Es waren mit je einer Gruppe drei im Hintergelände verstreute Maschinengewehrstützpunkte zu besetzen. Diese schachbrettartig hinter der Kampfstellung gruppierten Kampfnester waren die ersten Versuche einer elastischen Verteidigung.
Die übrigen Leute wurden des Nachts zum Schanzen nach vorn entsandt.
Die Ferme lag höchstens 1500 Meter hinter der vorderen Linie, trotzdem waren ihre von einem verwachsenen Park umschlossenen Gebäude noch völlig unzerstört. Sie war, da Stollen erst im Bau waren, auch dicht bewohnt. Die blühenden Rotdorngänge des Parks und die anmutige Umgebung verliehen unserem Dasein trotz der Nähe der Front eine Spur jenes heiteren Lebensgenusses, den der Franzose unter seinem „vie de campagne“ versteht. In meinem Schlafzimmer hatte sich ein Schwalbenpärchen eingenistet, das schon in den frühesten Morgenstunden mit der geräuschvollen Fütterung seiner unersättlichen Nachkommenschaft begann.
Am 30. Mai hatte dieses Idyll für mich ein Ende, denn der aus dem Lazarett entlassene Leutnant Vogeley übernahm wieder die Führung der vierten Kompagnie. Ich begab mich zu meiner alten zweiten Kompagnie, die jetzt unter Führung eines Kavallerieleutnants stand, in den Schützengraben.
Unser Abschnitt war von der Römerstraße bis zum sogenannten Artilleriegraben von zwei Zügen besetzt; der Kompagnieführer lag mit dem dritten hinter einem kleinen Hange ungefähr 200 Meter zurück. Dort erhob sich auch eine winzige Bretterbude, die ich mit Leutnant Kius zusammen in rührendem Vertrauen auf die Stümperhaftigkeit der englischen Artilleristen bewohnte. Die eine Seite war an einen kleinen, in der Schußrichtung verlaufenden Hang geklebt, die drei anderen boten dem Feinde trutzig die Flanken. Jeden Tag, wenn der Morgengruß angefegt kam, konnte man ungefähr folgendes Zwiegespräch, das sich zwischen dem Besitzer der oberen und dem der unteren Pritsche entspann, vernehmen:
„Du, Ernst!“
„Hm?“
„Ich glaube, sie schießen!“
„Na, laß uns man noch ein bißchen liegen; ich glaube, das waren die letzten.“
Nach einer Viertelstunde:
„Du, Oskar!“
„Ja?“
„Das hört ja heute gar nicht mehr auf; ich glaube, eben ist eine Schrapnellkugel durch die Wand geflogen. Wir wollen doch lieber aufstehen. Der Artilleriebeobachter nebenan ist schon lange ausgerissen!“
Die Stiefel hatten wir leichtsinnigerweise immer ausgezogen. Wenn wir fertig waren, war es der Engländer meist auch, und wir konnten uns vergnügt an den lächerlich kleinen Tisch setzen, den von der Hitze sauer gewordenen Kaffee trinken und die Morgenzigarre anzünden. Nachmittags wurde vor der Tür der englischen Artillerie zum Hohn ein Sonnenbad auf der Zeltbahn genommen.
Auch sonst war unsere Bude äußerst kurzweilig. Wenn man im dolce far niente auf der Drahtpritsche lag, pendelten riesige Regenwürmer an der Erdwand, die bei Störungen mit unbegreiflicher Geschwindigkeit in ihre Löcher schossen. Ein grämlicher Maulwurf schnüffelte ab und zu aus seinem Bau heraus und trug viel zur Belebung unserer ausgedehnten Siesta bei.
Am 12. Juni mußte ich mit 20 Mann die zum Kompagnieabschnitt gehörige Feldwache besetzen. Zu später Stunde verließen wir die Stellung und schritten auf einem Trampelpfade, der sich durch das wellige Gelände schlängelte, in den lauen Abend. Die Dämmerung war so weit vorgeschritten, daß der rote Mohn auf den verwilderten Feldern mit dem hellgrünen Grase in einem merkwürdig satten Farbenton zusammenschmolz. Wir schlenderten, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, mit umgehängtem Gewehr lautlos über den blumigen Teppich und hatten nach 20 Minuten unser Ziel erreicht. Flüsternd wurde die Wache übergeben, leise die Posten aufgestellt, dann entschwand die abgelöste Mannschaft im Dunkel.
Die Feldwache lehnte sich an einen kleinen Steilhang. Im Rücken floß ein wirr verwachsenes Waldstück in die Nacht, vom Hange durch einen 100 Meter breiten Wiesenstreifen getrennt. Davor und in der rechten Flanke erhoben sich zwei Hügel, auf denen die englische Linie verlief. Zwischen diesen Hügeln führte ein Hohlweg zum Gegner.
Dort traf ich beim Abgeben meiner Posten den Vizefeldwebel Hackmann mit einigen Leuten der siebenten Kompagnie im Begriff, eine Patrouille zu machen. Ich schloß mich ihnen als Schlachtenbummler an, trotzdem ich eigentlich meine Feldwache nicht verlassen durfte.
Wir überschritten, indem wir eine von mir erfundene Methode des Vorgehens anwandten, zwei den Weg sperrende Drahtverhaue und gelangten, seltsamerweise ohne auf einen Posten zu stoßen, über den Hügelkamm, auf dem wir rechts und links vor uns Engländer schanzen hörten. Später wurde mir klar, daß der Gegner seine Postierungen zurückgezogen hatte, um sie nicht bei dem Feuerüberfall auf unsere Feldwache, von dem ich gleich berichten werde, in Mitleidenschaft zu ziehen.
Meine eben erwähnte Art des Vorgehens bestand darin, daß ich in einem Gelände, in dem wir jeden Augenblick auf den Feind stoßen mußten, die Patrouillenteilnehmer abwechselnd vorkriechen ließ. So befand sich zur Zeit immer nur einer, den sich das Fatum auswählen mochte, in der Gefahr, von einem lauernden Schützen erschossen zu werden, während die anderen geschlossen weiter hinten zum Eingreifen bereit waren. Ich pflegte mich natürlich für meine Person von diesem Amte niemals auszuschließen, trotzdem ich meine Anwesenheit bei der Patrouille selbst für wichtiger hielt. Indes muß der Frontoffizier im Kriege manchmal aus Rücksichten subjektiver Art taktische Fehler begehen.
Wir umschlichen mehrere schanzende Abteilungen, die leider durch dichte Hindernisse von uns getrennt waren. Nachdem der Vorschlag des etwas exzentrischen Feldwebels, sich als Überläufer auszugeben und so lange zu verhandeln, bis wir den ersten feindlichen Posten umgangen hätten, in einer kurzen Beratung verworfen war, pirschten wir uns mißmutig zur Feldwache zurück.
Dort setzte ich mich am Steilhange auf meinen Mantel, zündete mir so versteckt wie möglich eine Pfeife an, und überließ mich meiner Phantasie. Inmitten des schönsten Luftschlosses wurde ich durch ein merkwürdiges Rascheln im Waldstück und auf der Wiese hochgeschreckt. Vorm Feinde liegen die Sinne immer auf der Lauer und es ist sonderbar, daß man in solchen Augenblicken bei gar nicht ungewöhnlichen Geräuschen sofort bestimmt weiß: Jetzt ist etwas los!
Gleich darauf kam der nächste Posten angestürzt: „Herr Leutnant, es gehen 70 Engländer gegen den Waldrand vor!“
Ich wunderte mich etwas über die präzise Zahlenangabe, versteckte mich aber vorsichtshalber mit den vier in meiner Nähe liegenden Leuten oben auf dem Steilhange im hohen Grase, um die weitere Entwicklung der Dinge zu beobachten. Nach einigen Sekunden sah ich einen Trupp über die Wiese huschen. Während meine Leute die Gewehre darauf richteten, rief ich ein leises: „Wer da?“ Es war der Unteroffizier Teilengerdes, ein bewährter alter Krieger der zweiten Kompagnie, der seine aufgeregte Gruppe zu sammeln versuchte.
Ich raffte rasch alles zusammen und ließ eine Schützenlinie formieren, deren Flügel sich an Steilhang und Waldstück lehnten. In einer Minute standen die Leute mit aufgepflanztem Seitengewehr. Als ich die Richtung nachsah und einen etwas zurückstehenden Mann zurechtweisen wollte, bekam ich zur Antwort: „Ich bin Krankenträger.“ Der Mann hatte sein Exerzierreglement gut im Kopfe. Beruhigt durch diesen Triumph preußischer Disziplin, ließ ich antreten.
Während wir den Wiesenstreifen überschritten, setzte von englischer Seite ein Schrapnellhagel und wildes Maschinengewehrgeknatter ein. Wir gingen unwillkürlich in Laufschritt über, um den toten Winkel des vor uns liegenden Hügels zu gewinnen.
Plötzlich erhob sich vor mir ein dunkler, Schatten. Ich riß eine Handgranate ab und schleuderte sie ihm entgegen. Zu meinem Schrecken erkannte ich beim Aufblitzen der Explosion den Unteroffizier Teilengerdes, der unbemerkt vorgelaufen und über einen Draht gestolpert war. Glücklicherweise blieb er unverletzt. Gleichzeitig ertönte neben uns das schärfere Krachen englischer Handgranaten, und das Schrapnellfeuer verstärkte sich zu unangenehmer Dichte.
Meine Schützenlinie zerflatterte und verschwand in der Richtung auf den Steilhang, der unter schwerem Feuer lag, während ich mit Teilengerdes und drei Getreuen meinen Platz behielt. Plötzlich stieß mich einer an: „Die Engländer!“
Wie eine Vision bohrte sich sekundenlang auf der nur durch stiebende Funken erhellten Wiese eine Doppelschnur knieender Gestalten in mein Auge, sich gerade erhebend und avancierend. Ich erkannte deutlich die Figur des Offiziers am rechten Flügel.
Wir sprangen auf und rannten dem Steilhang zu. Trotzdem ich über einen tückisch durchs hohe Gras gespannten Draht stolperte und mich überschlug, kam ich doch glücklich an und brachte meine erregten Leute allerdings nur durch Anwendung höchster Energie in eine auf Tuchfühlung gedrängte Schützenlinie.
Ich habe immer erfahren, daß in solchen Augenblicken der gewöhnliche Mann, der vollauf mit seiner persönlichen Gefahr beschäftigt ist, die scheinbar unbeteiligte Sachlichkeit des Führers bewundert, der inmitten der tausend entnervenden Eindrücke des Gefechts die Ausführung seines Auftrages klar im Auge hat. Diese Bewunderung hebt jeden ritterlich Gesinnten über sich selbst hinaus und spornt ihn zu immer größeren Leistungen an, so daß Führer und Mannschaft sich aneinander zu gewaltiger Energieentfaltung entzünden. Der moralische Faktor ist eben alles.
Schlagartig verstummte das Feuer, während ein vielfaches Knacken und Rauschen durch das Unterholz des Wäldchens glitt.
„Halt! Wer da! Parole?!“
Wir brüllten wohl fünf Minuten lang und schrieen auch das alte Losungswort des 1. Bataillons „Lüttje Lage“, ein Ausdruck für Schnaps und Bier, jedem Hannoveraner geläufig; doch antwortete uns nur ein seltsames, unverständliches Geschrei. Endlich nahm ich die Verantwortung auf mich und ließ feuern, trotzdem einige Leute behaupteten, deutsche Worte gehört zu haben. Meine zwanzig Gewehre fegten ihre Geschosse in das Wäldchen, die Kammern rasselten, und bald hatte sich das Geschrei drüben in Wimmern verwandelt. Ich hatte dabei ein flaues Gefühl der Ungewißheit.
Doch blitzten uns ab und zu gelbe Flämmchen entgegen. Einer von uns bekam einen Schulterschuß und wurde durch den Sanitäter verbunden.
„Stopfen!“
Langsam drang das Kommando durch, und das Feuer ruhte. Die Spannung der Nerven war durch die Tat gedämpft.
Erneutes Parolerufen und meinerseits die überredende Aufforderung: „Come here, you are prisoners, hands up!“
Darauf drüben vielstimmiges Geschrei. Ein einzelner löste sich vom Waldsaum und kam auf uns zu. Einer beging die Dummheit, ihm „Parole!“ entgegenzurufen, worauf er stehen blieb und sich umdrehte.
„Schießt ihn kaputt!“
Ein Dutzend Schüsse; die Gestalt sank zusammen und glitt ins hohe Gras.
Dieser kleine Zwischenakt erfüllte uns mit einem Gefühl der Genugtuung. Vom Waldrande erscholl wieder wirres Rufen; es klang, als ob die Angreifer sich gegenseitig ermutigten, gegen die geheimnisvollen Verteidiger vorzugehen.
In höchster Spannung starrten wir auf den dunklen Streifen. Es begann zu dämmern, und ein leichter Nebel stieg vom Wiesengrunde auf.
Da hob sich eine Reihe von Schatten aus dem Dunkel. Fünf, zehn, fünfzehn, eine ganze Kette. Zitternde Hände lösten die Sicherungsflügel. Auf 50 Meter waren sie heran, 30, 15 . . . . . Feuerrr! Minutenlang knatterten die Gewehre. Funken sprühten auf, wenn spritzende Bleikerne gegen Waffen und Stahlhelme wuchteten.
Plötzlich ein Schrei: „Aaaachtung, links!“ Eine Schar von Angreifern schnellte von ganz links auf uns zu, voran eine Riesengestalt mit vorgestrecktem Revolver, eine weiße Keule schwingend.
„Linke Gruppe links schwenken!“
Die Leute flogen herum und empfingen die Ankömmlinge stehend. Einige der Gegner, darunter der Führer, brachen unter den hastig abgefeuerten Schüssen zusammen, die anderen verschwanden spurlos, ebenso schnell wie sie gekommen waren.
Das war der Moment zum Draufgehen. Mit aufgepflanztem Seitengewehr und wütendem Hurra stürmten wir das Wäldchen. Handgranaten flogen in das verschlungene Gestrüpp, und im Nu waren wir wieder im Alleinbesitz unserer Feldwache, allerdings ohne den geschmeidigen Gegner gepackt zu haben.
Wir sammelten uns in einem angrenzenden Kornfeld und starrten in die blassen, übernächtigen Gesichter der Kameraden. Die Sonne war strahlend aufgegangen. Eine Lerche stieg hoch und ärgerte uns durch ihr Trillern. Wir waren ungefähr in derselben Stimmung, in der man nach einer durchspielten Nacht die Karten auf den Tisch wirft, wenn die kühle Morgenluft sich durch die aufgerissenen Fenster mit abgestandenem Zigarrenqualm vermengt.
Während wir uns die Feldflaschen boten und eine Zigarette ansteckten, hörten wir, wie sich der Gegner mit einigen laut jammernden Verwundeten durch den Hohlweg entfernte.
Ich beschloß den Kampfplatz abzugehen. Aus der Wiese, auf der wir die Schützenlinie zusammengeschossen hatten, stiegen fremdartige Rufe und Schmerzensschreie. Wir entdeckten im hohen Grase eine Reihe von Toten und drei Verwundete, die uns um Gnade anflehten. Sie schienen fest überzeugt, von uns umgebracht zu werden.
Auf meine Frage: „Quelle nation?“ antwortete einer: „Pauvre Radschput!“
Wir hatten Inder vor uns, weit übers Meer gekommen, um sich bei diesem gottverlassenen Stück Erde an Hannoverschen Füsilieren die Schädel einzurennen.
Die zierlichen Gestalten waren übel zugerichtet. Auf diese kurzen Entfernungen besitzt das Infanteriegeschoß Sprengwirkung. Keiner hatte weniger als zwei Schüsse bekommen. Wir nahmen sie auf und schleppten sie zu unserem Graben. Da sie schrieen, als ob sie am Spieß stäken, verstopften ihnen meine Leute den Mund und drohten mit der Faust, wodurch sie in ihrer Angst noch bestärkt wurden. Einer starb schon während des Transportes. Er wurde doch noch mitgenommen, da auf jeden Gefangenen, ob tot oder lebendig, eine Prämie gesetzt war. Die beiden anderen suchten unser Wohlgefallen zu gewinnen, indem sie fortwährend riefen: „Anglais pas bon!“ Weshalb diese Leute französisch sprachen, ist mir nicht recht klar geworden.
Im Graben wurden wir von der Kompagnie, die den Lärm des Kampfes gehört und schweres Absperrungsfeuer bekommen hatte, mit Jubel empfangen und unsere Beute gebührend bestaunt. Ich zog mich mit Kius, der gleich ein halbes Dutzend Aufnahmen machte, in unsere Hütte zurück und ließ mich von ihm zur Feier des Tages mit Spiegeleiern bewirten.
Unsere Leistung erregte berechtigtes Aufsehen und wurde im Divisionstagesbefehl lobend besprochen. Wir hatten mit 20 Mann einer um das Mehrfache überlegenen Abteilung, die uns schon in den Rücken gekommen war, siegreich widerstanden. Ein solcher Erfolg ist natürlich nur durch eine glänzend disziplinierte Truppe von hoher moralischer Qualität zu erzielen.
Ich selbst konnte mir mit Befriedigung sagen, daß ich durch Überlegenheit über die Situation und persönliche Einwirkung auf meine Leute dem feindlichen Führer eine arge Enttäuschung und ein frühzeitiges Grab bereitet hatte. Wir beiden hatten unsere Fähigkeiten in derselben Weise gemessen, wie es bei kleinen Offiziersübungen in der Garnison üblich ist; nur hatten wir nicht mit Platzpatronen geschossen.
Sollte ein Angehöriger der 1st Hariana Lancers diese Zeilen lesen, so sei ihm hier meine Achtung ausgesprochen für eine Truppe, die solche Führer ihr eigen nennt wie diesen Oberleutnant, gegen den ich die Ehre hatte zu kämpfen.
Was sagt Nietzsche vom Kriegsvolke? „Ihr dürft nur Feinde haben, die zu hassen sind, aber nicht Feinde zum Verachten. Ihr müßt stolz auf Euren Feind sein, dann sind die Erfolge des Feindes auch Eure Erfolge.“
Am nächsten Abend bekam ich Befehl, die Feldwache, bei der sich tagsüber der Sichtverhältnisse wegen niemand aufhalten konnte, wieder zu besetzen. Kius und ich faßten mit 50 Mann zangenförmig um das Gehölz und trafen am Steilhange zusammen. Vom Feinde war nichts zu bemerken, nur aus dem Hohlwege, den ich mit dem Feldwebel Hackmann erkundet hatte, rief uns ein Posten an, schoß eine Leuchtkugel ab und feuerte. Wir merkten uns den unvorsichtigen jungen Mann für unseren nächsten Ausflug vor.
An der Stelle, wo wir in der vorigen Nacht den Flankenangriff abgeschlagen hatten, lagen drei Leichen. Es waren zwei Inder und ein weißer Offizier mit zwei goldenen Sternen auf den Achselstücken, also ein Oberleutnant. Er hatte einen Schuß ins Auge bekommen. Das Geschoß hatte die entgegengesetzte Schläfe durchbohrt und den Rand seines Stahlhelmes zerschmettert, der sich heute in meiner Sammlung derartiger Dinge befindet. Seine Rechte hielt noch die von eigenem Blut bespritzte Keule, die Linke einen großen, sechsschüssigen Coldrevolver umspannt, dessen Trommel nur noch zwei scharfe Patronen enthielt.
Meine Leute plünderten die Gefallenen. Dieser Anblick hat mich immer unangenehm berührt, doch mischte ich mich nicht ein, da die Sachen doch nur dem Verderben ausgesetzt waren, und ästhetische oder moralische Bedenken mir in dem dunklen Wiesengrund über dem noch die ganze rohe Unerbittlichkeit des Kampfes schwebte, nicht recht am Platze schienen.
In den nächsten Tagen machte sich noch eine Anzahl im Unterholz des Wäldchens verborgener Leichen bemerkbar, ein Zeichen der schweren Verluste der Gegner, das den Aufenthalt auf Feldwache noch weniger einladend machte. Als ich mich einmal allein durch das Gestrüpp arbeitete, fiel mir ein merkwürdiges, zischendes und sprudelndes Geräusch auf. Ich trat näher und stieß auf zwei Leichname, die infolge der Hitze zu einem gespenstischen Leben erwacht schienen.
Am Abend des 19. Juni ging ich mit dem kleinen Schultz, zehn Mann und einem leichten Maschinengewehr von dem allmählich etwas beklemmenden Orte auf Patrouille aus, um dem Posten, der sich neulich so forsch im Hohlweg bemerkbar gemacht hatte, einen Besuch abzustatten. Schultz ging mit seinen Leuten rechts, ich links vom Hohlweg vor mit der Verabredung, uns gegenseitig beizuspringen, wenn ein Trupp Feuer bekäme. Wir arbeiteten uns kriechend, ab und zu lauschend, durch Gras und Ginstergestrüpp vor.
Plötzlich ertönte das klappernde Geräusch einer Gewehrkammer. Wir lagen wie angegossen am Boden. Jeder alte Patrouillengänger wird die Reihe unangenehmer Gefühle der nächsten Sekunden zu würdigen wissen.
Ein Schuß zerriß die drückende Stille. Ich lag hinter einer Ginsterstaude und wartete ab. Rechts von mir warf ein Mann Handgranaten in den Hohlweg.
Schlagartig sprühte eine Feuerlinie vor uns auf. Der ekelhaft scharfe Knall der Abschüsse verriet, daß die Schützen nur wenige Meter von uns lagen. Ich sah, daß wir in eine üble Falle geraten waren und rief zum Rückzug. Alles sprang hoch und rannte in wahnsinniger Hast zurück, während auch zu unserer Linken Gewehrfeuer einsetzte. Inmitten dieses entnervenden Geknatters gab ich jede Hoffnung an heiles Zurückkommen auf. Das Unterbewußtsein war in ständiger Erwartung eines Treffers. Der Tod hielt eine Hetzjagd ab.
Irgendwo neben uns ging eine Abteilung mit schrillem Hurräh auf uns los. Der kleine Schultz gestand mir später, die Vorstellung gehabt zu haben, daß ein hagerer Inder messerschwingend hinter ihm her wäre und ihn schon fast am Kragen gepackt hätte.
Einmal stürzte ich und über mich hinweg der Unteroffizier Teilengerdes. Ich verlor Stahlhelm, Pistole und Handgranaten. Nur weiter! Endlich erreichten wir den schirmenden Steilhang und preschten hinunter. Zu gleicher Zeit kam der Leutnant Schultz mit seinen Leuten an. Er berichtete mir ganz außer Atem, daß er wenigstens den frechen Posten durch Handgranaten gezüchtigt hätte. Gleich darauf brachten zwei Leute den Füsilier F. angeschleppt, der Schüsse durch beide Beine bekommen hatte. Alle anderen waren unverwundet.
Das größte Unglück war, daß der Mann, der das Maschinengewehr getragen hatte, ein Rekrut, über den Verwundeten gefallen war, und das Ding liegen gelassen hatte.
Während wir noch lebhaft debattierten und eine zweite Expedition planten, setzte ein Artilleriefeuer ein, das mich genau an die Nacht vom 12. erinnerte, auch in bezug auf die heillose Verwirrung, die sofort ausbrach. Ich fand mich ohne Waffe am Steilhang allein mit dem Verwundeten, der sich mit beiden Händen vorwärtszog, an mich herankroch und jammerte: „Herr Leutnant, nicht allein lassen!“
Ich mußte, so leid es mir tat, ihn liegen lassen und mich an der Aufstellung der Feldwache beteiligen. Ich sammelte die Leute in einer Reihe von Postenlöchern am Waldrande, war jedoch herzlich froh, als der Morgen dämmerte, ohne daß sich etwas Besonderes ereignet hätte.
In derartigen Augenblicken war ich immer wieder erstaunt und gerührt von dem gläubigen Vertrauen des Mannes auf die Überlegenheit den Offiziers über die Lage.
„Herr Leutnant, wo sollen wir hin? Herr Leutnant, zu Hilfe, ich bin verwundet! Wo ist der Leutnant?“
Dann Führer zu sein mit klarem Kopfe, birgt den schönsten Lohn in sich, wie die Feigheit ihre Strafe. Ich habe stets den Feigling bemitleidet, dem die Schlacht zu einer Reihe höllischer Qualen wurde, die der Mutige in gesteigerter Lebenskraft nur als eine Kette aufregender Ereignisse betrachtete.
Die nächste Nacht fand uns an demselben Orte mit der Absicht, unser Maschinengewehr wiederzuholen, doch verriet uns eine Reihe verdächtiger Geräusche beim Anschleichen, daß wieder eine starke Besatzung lauern mußte.
Es wurde daher beschlossen (ein Ehrenstandpunkt, der wie so mancher andere im Kriege uns innerlich fluchen machte), die verlorene Waffe mit Gewalt wiederzuerobern. Wir sollten um 12 Uhr nachts nach einer Feuervorbereitung von drei Minuten die feindlichen Postierungen angreifen und das Gewehr suchen.
Ich machte gute Miene zum bösen Spiel und schoß am Nachmittage selbst einige Batterien ein.
Um 11 Uhr fand ich mich mit meinem Unglückskameraden Schultz wieder auf dem unheimlichen Stück Erde, auf dem mir schon so manche wilde Stunde geblüht hatte. Der Verwesungsgeruch in der schwülen Luft war kaum mehr auszuhalten. Wir überstreuten die Leichen mit Chlorkalk, den wir in Säcken mitgebracht hatten. Wie Leichentücher leuchteten die weißen Flecke aus dem Dunkel.
Das Unternehmen fing damit an, daß uns die eigenen Maschinengewehrgeschosse fortwährend um die Beine flogen und in den Steilhang klatschten. Deswegen entstand ein heftiger Zank zwischen mir und dem kleinen Schultz, der die Gewehre selbst eingerichtet hatte. Wir versöhnten uns jedoch wieder, als Schultz mich hinter einem Busche im Zwiegespräch mit einer Flasche Burgunder entdeckte, die ich zur Stärkung für das bedenkliche Abenteuer mitgenommen hatte.
Zur verabredeten Zeit brauste die erste Granate heran. Sie schlug 50 Meter hinter uns ein. Ehe wir uns noch über diese seltsame Schießerei verwundern konnten, saß eine zweite neben uns auf dem Steilhange und überschauerte uns mit einem Erdregen. Hierbei durfte ich noch nicht einmal fluchen, denn ich hatte die Geschütze ja selbst eingeschossen.
Nach dieser wenig ermunternden Einleitung gingen wir vor, mehr der Ehre wegen als in der Hoffnung auf Erfolg. Wir hatten das Glück, daß die Posten anscheinend ihre Plätze verlassen hatten, sonst wäre uns wohl ein sehr unsanfter Willkomm zuteil geworden. Leider fanden wir das Maschinengewehr auch nicht.
Da wir am folgenden Tage durch Truppen einer anderen Division abgelöst wurden, hatte das Geplänkel ein Ende.
Wir kamen vorläufig nach Montbréhain zurück und marschierten von dort nach Cambrai, wo wir fast den ganzen Monat Juli verlebten.
Die Feldwache ging in der auf unsere Ablösung folgenden Nacht endgültig verloren.
Cambrai ist ein ruhiges, verträumtes Städtchen des Artois, an dessen Namen sich manche historische Erinnerung knüpft. Enge, altertümliche Gassen schlingen sich um das mächtige Rathaus, verwitterte Stadttore und viele Kirchen. Wuchtige Türme ragen aus einem Gewirr winkliger Giebel. Breite Alleen führen zu dem gepflegten Stadtpark, den ein Denkmal des Fliegers Blériot ziert.
Die Einwohner sind stille, freundliche Leute, die in den großen, einfach aussehenden und reich ausgestatteten Häusern ein behagliches Spießbürgerdasein führen. Viele Rentiers verbringen hier ihren Lebensabend. Das Städtchen führt mit Recht den Beinamen la ville des millionaires, denn kurz vor dem Kriege zählte man darin über 40 Millionäre.
Der große Krieg riß das stille Nest brutal aus seinem Dornröschenschlummer und verwandelte es in einen Brennpunkt riesiger Schlachten. Ein hastiges, neues Leben rasselte über das holperige Pflaster und klirrte gegen die kleinen Fenster, hinter denen ängstliche Gesichter lauerten. Fremde Gesellen tranken die liebevoll gefüllten Keller leer, warfen sich in die mächtigen Mahagonibetten und störten in ständigem Wechsel die beschauliche Ruhe der Privatiers, die nun inmitten des verwandelten Milieus an den Ecken und Haustüren zusammenstanden, sich mit vorsichtiger Stimme Schauermären und sicherste Nachrichten über den baldigen Endsieg der Landsleute zuraunend.
Die Leute wohnten in einer Kaserne, die Offiziere waren in der Rue-des-Liniers untergebracht. Diese Straße nahm während unserer Anwesenheit das Aussehen eines Studentenviertels an; allgemeine Unterhaltungen aus den Fenstern, nächtliche Gesänge und kleine romantische Abenteuer waren an der Tagesordnung.
Jeden Morgen rückten wir zum Exerzieren auf den großen Platz bei dem später berühmt gewordenen Dorfe Fontaine. Ich hatte einen sehr interessanten Dienst, denn der Oberst von Oppen hatte mir die Ausbildung des Sturmtrupps übertragen.
Mein Quartier war äußerst behaglich; selten ließen meine Wirte, das freundliche Juwelierehepaar Plancot-Bourlon, mich mittags essen, ohne mir irgend etwas Gutes heraufzuschicken. Abends saßen wir bei einer Tasse Tee zusammen, spielten und plauderten. Besonders oft wurde natürlich die schwer zu beantwortende Frage erörtert, warum die Menschen Krieg führen müßten.
Während dieser Stunden gab der gute Monsieur Plancot mancherlei Schwänke der allzeit müßigen und witzigen Bürger Cambrais zum besten, die in Friedenszeiten Straßen, Weinschänken und Wochenmarkt in schallendes Gelächter versetzt hatten, und die mich lebhaft an Claude Tilliers köstlichen Onkel Benjamin erinnerten.
Am 25. Juli nahmen wir Abschied von dem lieben Städtchen und fuhren nordwärts nach Flandern. In den Zeitungen hatten wir gelesen, daß dort schon wochenlang ein Artilleriekampf tobte, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht gesehen.
In Staden wurden wir unter fernem Kanonendonner ausgeladen und marschierten durch die ungewohnte Landschaft nach dem Ohndanklager. Rechts und links von der schnurgeraden Chaussee grünten fruchtbare, beetartig erhöhte Felder und saftige, wasserreiche, von Hecken besäumte Wiesen. Weit verstreut lagen saubere Bauernhöfe mit niederen Stroh- oder Ziegeldächern, an deren Mauern Bündel von Tabakspflanzen zum Trocknen aufgehängt waren. Die des Wegs kommenden Landleute waren von germanischem Typ und unterhielten sich in derber, heimatlich anmutender Sprache. Wir verbrachten den Nachmittag in den Gärten von Einzelgehöften, der Sicht der feindlichen Flieger entzogen. Ab und zu sausten mit weit herkommendem Gurgeln gewaltige Granaten von Schiffsgeschützen über unsere Köpfe hinweg und explodierten in der Nähe. Eine schlug in einen der zahlreichen kleinen Bäche und tötete einige badende Leute vom Regiment 91.
Gegen Abend mußte ich mit einem Vorkommando zur Stellung des Bereitschaftsbataillons abrücken, um die Ablösung vorzubereiten und meine Leute einzuweisen. Wir gingen durch den Houthulster Wald und das Dorf Kokuit zum Reservebataillon und wurden auf diesem Wege durch schwere Granaten einige Male „aus dem Schritt gebracht“. In der Dunkelheit hörte ich die Stimme eines Rekruten: „Der Leutnant legt sich ja nie hin.“
„Der weiß ganz genau Bescheid,“ wurde er durch einen Älteren belehrt. „Wenn eine richtig kommt, ist er der erste, der liegt!“
Der Mann hatte meinen stets befolgten Grundsatz durchschaut. „Nimm nur Deckung, wenn es nötig ist, dann aber plötzlich.“ Den Grad der Notwendigkeit kann allerdings nur der Kriegserfahrene beurteilen, der den Endpunkt der Geschoßkurve schon im Gefühl hat, ehe der Neuling noch das leichte, ankündigende Flattern wahrnimmt.
Unsere Führer, die ihrer Sache nicht ganz sicher schienen, wanden sich durch einen endlos langen Schachtelgraben vor. So nennt man Gräben, die des Grundwassers wegen nicht tief gebaut, sondern mit Sandsäcken und Faschinen auf den gewachsenen Boden gesetzt sind. Dann streiften wir einen unheimlich zerflederten Wald, aus dem der Erzählung der Führer zufolge vor einigen Tagen ein Regimentsgefechtsstand durch die Kleinigkeit von 1000 24-cm-Granaten vertrieben war. „Hier scheint es ja großzügig zuzugehen,“ dachte ich mir dabei im stillen.
Nachdem wir kreuz und quer durch dichtes Unterholz geirrt waren, standen wir ratlos, von unseren Führern verlassen, auf einem schilfbewachsenen Stück Erde, von moorigen Sümpfen eingefaßt, auf deren schwarzen Spiegeln sich das Mondlicht brach. Fortwährend krachte es irgendwo auf, und hochgeschleuderter Schlamm klatschte plätschernd ins Wasser. Endlich kam der unglückliche Führer, auf den sich unsere ganze Wut verdichtete, zurück und gab an, den Weg gefunden zu haben. Er führte uns jedoch wieder irre, bis zu einem Sanitätsunterstand, über dem in regelmäßigen, ganz kurzen Abständen zwei Schrapnells explodierten, die ihre Kugeln und Hohlbläser durch das Geäst prasseln ließen. Der diensthabende Arzt gab uns einen vernünftigen Mann mit, der uns zur Mäuseburg, dem Sitze des Bereitschaftskommandeurs, geleitete.
Ich begab mich gleich weiter zu der Kompagnie des Regiments 225, die von der zweiten Kompagnie abgelöst werden sollte und fand nach langem Suchen im Trichtergelände einige zerfallene Häuser, die innen unauffällig durch Eisenbeton verstärkt waren. Das eine war am Tage vorher durch einen schweren Treffer eingedrückt und die Besatzung durch die niederkrachende Dachplatte wie in einer Mausefalle zerquetscht worden.
Den Rest der Nacht brachte ich in dem überfüllten Betonklotz des Kompagnieführers, eines biederen Frontschweins, zu, der sich mit seinen Ordonnanzen die Zeit mittels einer Schnapsflasche und einer großen Dose Schweinefleisch vertrieb und öfters diese Beschäftigung unterbrach, um kopfschüttelnd dem ständig wachsenden Artilleriefeuer zu lauschen. Dann pflegte er die schönen Zeiten in Rußland zu beseufzen und fluchte über die Auspumpung seines Regiments. Endlich fielen mir die Augen zu.
Der Schlaf war schwer und beklommen; die in der undurchdringlichen Dunkelheit rings um das Haus niederfallenden Brisanzgranaten riefen inmitten der toten Landschaft ein unbeschreibliches Gefühl der Einsamkeit und Verlassenheit hervor. Ich schmiegte mich unwillkürlich an einen Mann, der neben mir auf der Pritsche lag. Einmal wurde ich durch einen starken Stoß hochgeschreckt. Meine Leute leuchteten die Wände ab, um nach einem Loch zu suchen. Es stellte sich heraus, daß eine leichte Granate an der Außenwand geplatzt war.
Den nächsten Nachmittag verbrachte ich beim Bataillonskommandeur auf der Mäuseburg, da ich mich noch über einige wichtige Fragen informieren mußte. Andauernd schlugen neben der Befehlsstelle 15-cm-Granaten ein, während der Rittmeister mit seinem Adjutanten und dem Ordonnanzoffizier einen endlosen Skat spielte und eine Seltersflasche voll schlechten Fusels kreisen ließ. Manchmal legte er die Karten hin, um einen Melder abzufertigen oder stellte mit sorgenvoller Miene die Bombensicherheit unseres Betonklotzes zur Diskussion. Trotz seiner eifrigen Gegenreden (der Wunsch war deutlich der Vater des Gedankens) überzeugten wir ihn, daß wir einem Treffer von oben nicht gewachsen wären.
Am Abend entbrannte das allgemeine Feuer zu rasender Heftigkeit, vorn stiegen in unaufhörlicher Folge bunte Leuchtkugeln hoch. Staubbedeckte Läufer brachten die Meldung, daß der Feind angriffe. Nach wochenlangem Trommeln wurde der Infanteriekampf eingeleitet.
Zum Stande des Kompagnieführers zurückgekehrt, wartete ich auf das Eintreffen der zweiten Kompagnie, die um 4 Uhr morgens während eines lebhaften Feuerüberfalls erschien. Ich übernahm gleich meinen Zug und führte ihn an seinen Platz, einen von den Trümmern eines vernichteten Hauses bedeckten Betonbau, der unsäglich verlassen inmitten eines riesigen Trichterfeldes von grauenhafter Wüstheit lag.
Um 6 Uhr morgens lichtete sich der dichte flandrische Nebel und gab uns einen Ausblick auf unsere schaurige Umgebung. Gleich darauf erschien, dicht über dem Erdboden hängend, ein Schwarm feindlicher Flieger und durchforschte, Sirenensignale abgebend, das zerstampfte Gelände, während versprengt umherirrende Infanteristen sich in Granatlöchern zu verbergen suchten.
Eine halbe Stunde später setzte ein furchtbarer Feuerüberfall ein, der unsere Zufluchtsinsel einem taifungepeitschten Meere gleich umbrandete. Der Wald von Einschlägen um uns verdichtete sich zu einer wirbelnden Wand. Wir hockten zusammen und erwarteten jeden Augenblick den schmetternden Treffer, der uns samt den Betonblöcken spurlos hinwegfegen und unseren Aufenthalt der Trichterwüste gleichmachen mußte.
Unter derartigen gewaltigen Feuerstößen, auf die wir uns in längeren Pausen vorbereiten konnten, verging der ganze Tag.
Am Abend erschien eine erschöpfte Ordonnanz und übergab mir einen Befehl, aus dem ich entnahm, daß die erste, dritte und vierte Kompagnie um 10.50 Uhr zum Gegenstoß antreten, die zweite ihre Ablösung erwarten und in die vordere Linie einschwärmen sollte. Um den nächsten Stunden gekräftigt entgegensehen zu können, legte ich mich nieder, nicht ahnend, daß mein Bruder Fritz, den ich noch in Hannover wähnte, mit einer Gruppe der dritten Kompagnie durch den Feuerorkan dicht an meiner Hütte vorbei zum Sturm vorging.
Mein Schlaf wurde lange durch das Jammern eines Verwundeten gestört, den zwei im Trichterfelde verirrte Sachsen, die völlig erschöpft eingeschlafen waren, bei uns niedergelegt hatten. Als sie am nächsten Morgen erwachten, war ihr Kamerad tot. Sie trugen ihn in das nächste Granatloch, überdeckten ihn mit ein paar Schaufeln Erde und entfernten sich, eines der unzähligen einsamen und unbekannten Gräber des Krieges zurücklassend.
Ich erwachte erst um 11 Uhr aus tiefem Schlummer, wusch mich in meinem Stahlhelm und schickte nach Befehlen zum Kompagnieführer, der zu meinem Erstaunen schon abgerückt war, ohne mich und den Zug Kius überhaupt benachrichtigt zu haben.
Es zeigten sich eben die Folgen davon, daß Offiziere fremder Waffengattungen, die nicht einmal „Gewehr über!“ kommandieren konnten, nur ihres Dienstalters wegen gleich an der Spitze von Kompagnien in die Infanterieschlacht geschickt wurden. Derartige Anciennitätsrücksichten mag man, wenn man nicht ohne sie auszukommen glaubt, da anwenden, wo keine Menschenleben in Frage kommen.
O, rühret, rühret nicht daran! Wir haben so manches Mal im Unterstand und hinterm Becher darüber geflucht, aber nur unter uns. Es war angenehmer, gegen das Fort Douaumont Sturm zu laufen, als gegen dieses uralte Erbübel. Den friderizianischen Geist in hohen Ehren, aber Perücken, Zöpfe und Rangordnung auf Kammer zu den Donnerbüchsen von 1806, wenn es noch einmal losgehen sollte.
Während ich noch fluchend auf meiner Pritsche saß und überlegte, was ich tun sollte, erschien eine Ordonnanz vom Bataillon und übergab mir den Befehl, sofort die achte Kompagnie zu übernehmen.
Ich erfuhr, daß der Gegenangriff des I. Bataillons in der vorigen Nacht unter starken Verlusten zusammengebrochen war, und daß die Reste in einem vor uns liegenden Wäldchen, dem sogenannten Dobschützwald, und rechts und links davon eine Verteidigungsstellung bezogen hätten. Die achte Kompagnie hatte den Auftrag gehabt, zur Verstärkung in das Wäldchen einzuschwärmen, war jedoch im Zwischengelände unter starken Verlusten im Sperrfeuer zerstoben. Da auch der Kompagnieführer, Oberleutnant Büdingen, gefallen war, sollte ich die Kompagnie erneut vorführen.
Nachdem ich mich von meinem verwaisten Zuge verabschiedet hatte, machte ich mich mit der Ordonnanz auf den Weg quer durch die schrapnellbestreute Einöde. Eine verzweifelnde Stimme hielt unseren gebückten Lauf für einen Augenblick an. In der Ferne winkte eine halb aus einem Trichter ragende Gestalt mit blutendem Armstumpfe. Wir wiesen auf unsere eben verlassene Hütte und hasteten weiter.
Ich fand die achte Kompagnie als ein entmutigtes, hinter einer Reihe von Betonklötzen hockendes Häuflein vor, das ein nochmaliges Vorgehen gegen die uns vom Dobschützwald trennende Wand schwerer Einschläge für unmöglich erklärte. Sieben Mann meldeten sich krank.
Dagegen blieb mir nur der Beweis ad oculos übrig. Ich befahl, mir zu folgen, und sprang mitten ins Feuer hinein. Schon nach ein paar Sätzen überschüttete mich eine Granate, die ihren Kegel zum Glück ganz steil hochwarf, mit Erde und schleuderte mich in den nächsten Trichter. Ich merkte jedoch bald, daß die Wut des Feuers weiter vorn geringer wurde. Nachdem ich mich 200 Meter weit vorgearbeitet hatte, sah ich mich um. Das Gelände war menschenleer.
Endlich tauchten zwei Mann aus Rauch- und Staubwolken auf, dann noch einer, dann wieder zwei. Mit diesen fünf Leuten erreichte ich glücklich mein Ziel.
In einem halb zerschmetterten Betonklotz saßen Leutnant Sandvoß, Führer der dritten Kompagnie, und der kleine Schultz mit drei schweren Maschinengewehren. Ich wurde mit lautem Hallo und einem Schluck Kognak empfangen, dann erklärten sie mir die Lage, die sehr wenig angenehm war. Dicht vor uns saß der Engländer, rechts und links war kein Anschluß.
Ganz unvermittelt fragte mich Sandvoß, ob ich etwas von meinem Bruder gehört hätte. Man wird sich meine Gefühle vorstellen können, als ich erfuhr, daß er den gestrigen Sturm mitgemacht habe und vermißt sei.
Gleich darauf kam ein Mann und teilte mir mit, daß mein Bruder verwundet in einem nahen Unterstand läge und zeigte dabei auf ein wüstes, von entwurzelten Bäumen bedecktes Blockhaus. Ich eilte über eine Lichtung, die unter gezieltem Gewehrfeuer lag und trat ein. Welch ein Wiedersehen! Mein Bruder lag in einem von Leichengeruch erfüllten Raum inmitten einer Menge ächzender Schwerverwundeter. Er war in einer traurigen Verfassung. Beim Sturm hatten ihn zwei Schrapnellkugeln getroffen, die eine hatte die Lunge durchschlagen, die andere das rechte Oberarmgelenk zerschmettert. Das Fieber glänzte ihm aus den Augen; er konnte nur mit Mühe sich bewegen, sprechen und atmen. Wir drückten uns die Hand und erzählten.
Es war mir klar, daß er nicht an diesem Orte bleiben durfte, denn jeden Augenblick konnte der Engländer stürmen, oder eine Granate dem schwerbeschädigten Betonklotz den Rest geben. Der beste Bruderdienst war, ihn sofort zurückzuschaffen. Trotzdem Sandvoß sich gegen jede Schwächung unserer Kampfkraft sträubte, gab ich den fünf mit mir gekommenen Leuten den Auftrag, meinen Bruder zum Sanitätsunterstand „Kolumbusei“ zu schaffen und von dort Leute zur Bergung der anderen Verwundeten mitzubringen. Wir knüpften ihn in eine Zeltbahn und steckten eine lange Stange hindurch, dann nahmen ihn zwei Mann auf die Schultern. Noch ein Händedruck, dann setzte sich der traurige Zug in Bewegung.
Ich sah vom Waldrande aus der schwankenden Last nach, die sich durch einen Wald kirchturmhoher Granatfontainen wand.
Nachdem ich aus den Trichtern am vorderen Waldrande noch etwas mit den langsam vordringenden Engländern geplänkelt hatte, verbrachte ich die Nacht mit meinen Leuten und einer Maschinengewehrbedienung zwischen den Trümmern des Betonklotzes. Andauernd schlugen in der Nähe Brisanzgranaten von ganz außergewöhnlicher Wucht ein, von denen mich am Abend eine um ein Haar getötet hätte. Gegen Morgen ratterte plötzlich der Maschinengewehrschütze los, da sich dunkle Gestalten näherten. Es war eine Verbindungspatrouille des Infanterieregiments 76, von der er einen Mann niederstreckte. Derartige Irrtümer kamen in diesen Tagen häufig vor, ohne daß man sich lange darüber aufhielt.
Um 6 Uhr morgens wurden wir durch Teile der neunten Kompagnie abgelöst, die mir den Befehl überbrachten, mit meinen Leuten die Rattenburg zu besetzen. Auf dem Wege dorthin wurde mir noch ein Fahnenjunker durch Schrapnellschuß kampfunfähig gemacht.
Die Rattenburg präsentierte sich uns als ein zerschossenes, mit Betonquadern ausgemauertes Haus hart an dem sumpfigen Bette des Steenbachs, das seinen Namen wahrscheinlich wohl verdiente.
Ziemlich zermürbt hielten wir unseren Einzug und warfen uns auf die strohbedeckten Pritschen, bis uns ein reichliches Mittagessen und die ermunternde Pfeife Tabak hinterher wieder etwas auf die Beine brachten.
In den frühen Nachmittagsstunden setzte eine andauernde Beschießung mit schweren und schwersten Kalibern ein. Von 6 bis 8 Uhr jagte eine Explosion die andere; oft wurde der Bau durch die ekelhaften Stöße in der Nähe einschlagender Blindgänger erschüttert und drohte einzustürzen. Als das Feuer gegen Abend verebbte, pirschte ich mich zum Sanitätsunterstand „Kolumbusei“ und erkundigte mich bei dem Arzt, der gerade das grauenhaft zugerichtete Bein eines Sterbenden untersuchte, nach meinem Bruder. Mit Freude hörte ich, daß er in verhältnismäßig guter Verfassung zurückgeschafft sei.
Zu später Stunde erschien mein Essenträgertrupp und brachte der kleinen, auf 20 Mann zusammengeschmolzenen Kompagnie warmes Essen, Büchsenfleisch, Kaffee, Brot, Tabak und Schnaps. Wir aßen kräftig und ließen ohne lästigen Standesunterschied die Flasche mit „98prozentigem“ rundgehen. Dann gaben wir uns dem Schlafe hin, der durch aus dem Bachgrund aufsteigende Mückenschwärme, Granaten und zeitweilige Gasbeschießungen reichlich gestört wurde.
Infolgedessen schlief ich am nächsten Morgen so fest, daß mich meine Leute nach stundenlangem, schwerstem Feuer wecken mußten. Sie berichteten, daß von vorn dauernd Leute zurückkämen mit der Angabe, die vordere Linie sei geräumt und der Gegner im Vordringen.
Nach dem alten Soldatengrundsatz: „Gut gefrühstückt, hält Leib und Seele zusammen“, stärkte ich mich zunächst, steckte mir eine Pfeife an und sah dann zu, was draußen los war.
Ich hatte nur einen bescheidenen Überblick, da die ganze Umgebung in dichten Qualm gehüllt war. Das Artilleriefeuer wurde von Minute zu Minute gewaltiger und erreichte bald jenen Höhepunkt, auf dem die Nervenerregung, keiner weiteren Steigerung fähig, in eine beinahe lustige Gleichgültigkeit umschlägt. Andauernd prasselten Schauer von Erdklumpen auf unser Dach, zweimal wurde das Haus selbst getroffen. Brandgranaten warfen schwere, milchweiße Wolken hoch, aus denen feurige Tropfen zur Erde rieselten. Ein Stück dieser brennenden Masse klatschte auf einen Stein vor meinen Füßen und brannte noch minutenlang weiter. Verzögerungsgeschosse wühlten sich dröhnend in den Boden, flache Erdglocken hochstoßend. Gas- und Nebelschwaden krochen schwerfällig über das Schlachtfeld. Kurz vor uns ertönte Gewehr- und Maschinengewehrfeuer, ein Zeichen, daß der Feind schon nahe herangekommen sein mußte.
Unten im Steenbachgrunde schritt eine Gruppe von Leuten durch den wechselnden Wald hochspritzender Schlammgeiser. Ich erkannte den Bataillonskommandeur, Hauptmann von Brixen, der sich mit verbundenem Arm auf zwei Sanitäter stützte, und eilte nach ihm hin. Er rief mir hastig zu, daß der Feind im Vordringen sei und warnte mich vor längerem Verweilen ohne Deckung.
Bald klatschten die ersten Infanteriegeschosse in die umliegenden Trichter oder zerschellten an den Mauerresten. Immer mehr flüchtige Gestalten verschwanden hinter uns im Dunst, während rasendes Gewehrfeuer für die erbitterte Verteidigung der vorn Festhaltenden zeugte.
Es galt zu handeln. Ich beschloß, die Rattenburg zu verteidigen und machte den Leuten, von denen einige bedenkliche Gesichter zogen, klar, daß ich an Rückzug nicht im entferntesten dächte. Die Mannschaft wurde hinter Schießscharten verteilt, und unser einziges Maschinengewehr in eine Fensteröffnung gestellt. Ein Trichter wurde zum Verbandplatz bestimmt, und ein Sanitäter, der gleich reichliche Arbeit fand, hineingesetzt. Auch ich nahm ein herumliegendes Gewehr auf und hing einen Gurt Patronen um den Hals.
Da mein Häuflein sehr klein war, versuchte ich, es durch die zahlreichen führungslos umherirrenden Leute zu verstärken. Die meisten folgten willig unseren Zurufen, froh, sich anschließen zu können, während andere, von ihren Nerven verlassen, weiter eilten, nachdem sie einen Augenblick gestutzt hatten. In solchen Fällen hört jede zarte Rücksicht auf.
„Anschlagen!“ rief ich meinen Leuten zu, die vor mir im Schutze des Hauses standen, und schon fielen ein paar Schüsse. Von den Mündungen der Gewehre magnetisch angezogen, kamen diese in jeder Schlacht unvermeidlichen Drückeberger langsam näher, obgleich man ihren Mienen ansah, wie ungern sie uns Gesellschaft leisteten. Eine mir wohlbekannte Kasinoordonnanz versuchte, sich durch allerlei Ausflüchte loszuwinden, ich ließ jedoch nicht locker. „Aber ich habe ja gar kein Gewehr!“ „Dann warten Sie, bis einer totgeschossen wird!“
Während einer letzten gigantischen Feuersteigerung, bei der die Trümmer des Hauses mehrere Male getroffen wurden und die Ziegelbrocken hoch aus der Luft auf unsere Stahlhelme klirrten, wurde ich im Blitze eines furchtbaren Schlages zu Boden geworfen. Zum Erstaunen der Leute raffte ich mich unverletzt wieder hoch.
Nach diesem mächtigen Schlußwirbel wurde es ruhiger. Das Feuer sprang über uns hinweg und blieb an der Straße Langemarck—Bixschoote stehen. Uns war nicht wohl dabei zumute. Bislang hatten wir den Wald vor Bäumen nicht gesehen, die Gefahr war so gewaltig und vielgestalt auf uns eingedrungen, daß wir uns nicht mit ihr beschäftigen konnten. Nachdem der Sturm über uns hinweggebraust war, fand jeder Zeit, sich für das zu rüsten, was unvermeidlich kommen mußte.
Und es kam. Die Gewehre vor uns verstummten. Die Verteidiger waren erledigt. Aus dem Qualm tauchte eine dichte Schützenlinie. Meine Leute schossen, hinter den Trümmern kauernd, das Maschinengewehr tackte. Wie weggewischt verschwanden die Angreifer in den Trichtern und fesselten uns durch ihr Feuer. Rechts und links gingen starke Abteilungen vor. Bald waren wir von einem Kranze von Schützen umgeben.
Die Lage war aussichtslos; es hatte keinen Zweck, die Mannschaft hinzuopfern. Ich gab Befehl zum Rückzuge. Es war schwierig, die im Kampfe verbissenen Leute hochzubekommen.
Eine im Grunde lagernde Rauchwolke ausnutzend, entkamen wir, ohne bemerkt zu werden. Ich verließ die kleine Feste als Letzter, den Leutnant Höhlemann unterstützend, der aus einer schweren Kopfwunde blutete und sich mit einigen Witzen über seine Unbeholfenheit hinwegsetzte.
Beim Überschreiten der Straße stießen wir auf die zweite Kompagnie, die zur Verstärkung vorgeschickt war. Nach kurzer Beratung beschlossen wir, stehen zu bleiben und den Gegner zu erwarten. Auch hier mußten wir Leute anderer Truppenteile, die den Rückzug eigenmächtig fortsetzen wollten, zwingen, zu bleiben. Besonders Artilleristen, Lichtsignalisten, Fernsprecher usw. waren nur durch Gewalt zu der Einsicht zu bringen, daß unter diesen Umständen auch sie sich mit einem Gewehr in die Schützenlinie zu legen hätten. Mit Bitten, Befehlen und Kolbenstößen schaffte ich mit Hilfe von Kius und einigen ruhigen Leuten bald Ordnung.
Dann setzten wir uns in einen angedeuteten Graben und frühstückten. Kius zog seinen unvermeidlichen Apparat hervor und photographierte. Links vor uns am Ausgang von Langemarck entstand Bewegung. Unsere Leute schossen auf umherlaufende Gestalten. Bald darauf erschien ein Unteroffizier und meldete, daß sich eine Kompagnie der Gardefüsiliere an der Straße eingenistet und durch unser Feuer Verluste erlitten hätte.
Ich ließ daraufhin unter starkem Gewehrfeuer bis in ihre Höhe vorgehen. Einige Leute fielen, der Leutnant Bartmer von der zweiten Kompagnie wurde schwer verwundet. Kius blieb an meiner Seite, im Vorgehen sein Butterbrot zu Ende essend. Als wir die Straße besetzt hatten, von der das Gelände zum Steenbach abfiel, bemerkten wir, daß die Engländer im Begriff gewesen waren, dasselbe zu tun. Bis auf 20 Meter waren die ersten khakifarbenen Gestalten schon heran. Soweit das Auge blicken konnte, war das Vorgelände von Schützenlinien und Reihenkolonnen erfüllt. Auch um die Rattenburg wimmelten sie schon herum.
Wir nutzten unser überraschendes Erscheinen energisch aus und knallten gleich ordentlich dazwischen. Am Steenbach brach eine ganze Reihe zusammen. Einer von ihnen hatte eine Rolle Draht auf dem Rücken, von der er eine Leitung abwickelte. Andere sprangen wie die Hasen hin und her, während neben ihnen die Staubwölkchen unserer Geschosse aufwirbelten. Ein strammer Gefreiter der achten Kompagnie legte mit der größten Ruhe sein Gewehr auf einen zersplitterten Baumstumpf und schoß nacheinander vier Gegner ab. Der Rest verkroch sich in Granattrichter, um sich dort bis zur Dunkelheit verborgen zu halten. Wir hatten gut aufgeräumt.
Gegen 11 Uhr schraubten sich kokardengeschmückte Flugzeuge auf uns herunter und wurden durch lebhaftes, von oben erwidertes Feuer vertrieben.
Gleich nach der Besetzung der Straße hatte ich dem Regiment gemeldet und um Unterstützung gebeten. Am Nachmittag kamen Infanteriezüge, Pioniere und Maschinengewehre zur Verstärkung. Nach der Taktik des Alten Fritzen wurde alles in die überfüllte vordere Linie gesteckt. Ab und zu streckte der Engländer einige unvorsichtig über die Straße gehende Leute nieder.
Gegen 4 Uhr begann eine sehr unangenehme Schrapnellschießerei. Die Ladungen wurden haarscharf auf die Chaussee geschleudert. Mir war klar, daß die Flieger unsere neue Widerstandslinie festgestellt hatten und uns noch schwere Stunden bevorstehen mußten.
Wirklich setzte bald eine gewaltige Beschießung mit leichten und schweren Granaten ein. Wir lagen dicht nebeneinander in dem überfüllten, schnurgeraden Straßengraben. Das Feuer tanzte uns vor den Augen, Zweige und Lehmklumpen pfiffen auf uns herab. Links neben mir flammte ein Feuerblitz auf, weißen, stickigen Dampf zurücklassend. Ich kroch auf allen Vieren zu meinem Nebenmann. Er regte sich nicht mehr. Das Blut sickerte ihm aus vielen, von schmalen, zackigen Splittern geschlagenen Wunden. Auch weiter rechts traten schwere Verluste ein.
Nach einer halben Stunde wurde es still. Wir gruben emsig tiefe Löcher in die flache Mulde des Grabens, um bei einem zweiten Überfall wenigstens Schutz gegen Splitter zu haben. Unsere Spaten stießen dabei auf Gewehre, Koppelzeug und Patronenhülsen aus dem Jahre 1914, ein Zeichen, daß dieser Boden nicht zum ersten Male Blut trank. Während der Dämmerung wurden wir noch einmal gründlich bedacht. Ich hockte neben dem Leutnant Kius in einem Sitzloch, das uns manche Schwiele gekostet hatte. Der Boden rollte wie eine Schiffsplanke unter fortwährenden nächsten Einschlägen. Wir waren auf das Ende gefaßt.
Den Stahlhelm in die Stirn gedrückt, zerkaute ich meine Pfeife und starrte auf die Chaussee, deren Steine unter aufspringenden Eisenbrocken Funken sprühten. Die merkwürdigsten Gedanken schossen mir durch den Kopf. So beschäftigte ich mich lebhaft mit einem französischen Schundroman „le vautour de la Sierra“, der mir in Cambrai in die Hände gefallen war. Mehrere Male murmelte ich ein Wort Ariost’s: „Ein großes Herz fühlt vor dem Tod kein Grauen, wann er auch kommt, wenn er nur rühmlich, ist.“ Heute schmeckt es mir etwas nach Theater, damals half es mir, Haltung vor mir selbst zu bewahren. Wenn die Granaten dem Ohr etwas Ruhe ließen, hörte ich Bruchstücke des schönen Liedes vom schwarzen Walfisch zu Askalon neben mir ertönen und hielt meinen Freund Kius für übergeschnappt. Jeder hat eben sein eigenes Nervenberuhigungsmittel.
Am Ende der Beschießung flog mir ein großer Splitter gegen die Hand. Kius leuchtete mit seiner Taschenlaterne. Wir stellten einen oberflächlichen Riß fest.
Stunden wie die eben erlebte waren ohne Zweifel die schrecklichsten des ganzen Krieges.
Du kauerst zusammengezogen einsam in deinem Erdloch und fühlst dich einem unbarmherzigen, blinden Vernichtungswillen preisgegeben. Mit Entsetzen ahnst du, daß deine ganze Intelligenz, deine Fähigkeiten, deine geistigen und körperlichen Vorzüge zur unbedeutenden, lächerlichen Sache geworden sind. Schon kann, während du dies denkst, der Eisenklotz seine sausende Fahrt angetreten haben, der dich zu einem formlosen Nichts zerschmettern wird. Dein Unbehagen konzentriert sich auf das Gehör, das das Heranflattern des Todbringers aus der Menge der Geräusche zu unterscheiden sucht.
Dabei ist es dunkel. Du mußt alle Kraft zum Aushalten aus dir allein schöpfen. Du kannst nicht einmal aufstehen und dir mit blasiertem Lächeln eine Zigarette anzünden, dich an den bewundernden Blicken deiner Kameraden aufrichtend. Du wirst nicht ermutigt durch deinen Freund, der sich das Monokel einklemmt, um einen Einschlag auf der Schulterwehr neben dir zu betrachten. Du weißt, wenn es dich trifft, wird kein Hahn danach krähen.
Ja, warum springst du nicht auf und stürzt in die Nacht hinein, bis du in einem sicheren Gebüsch wie ein erschöpftes Tier zusammenbrichst? Warum hältst du noch immer aus, du und deine Braven? Kein Vorgesetzter sieht dich.
Und doch beobachtet dich jemand. Dir selbst vielleicht unbewußt, wirkt der moralische Mensch in dir und bannt dich durch zwei mächtige Faktoren am Platze: die Pflicht und die Ehre. Du weißt, du bist zum Kampfe an diesen Ort gestellt und ein ganzes Volk vertraut darauf, daß du deine Sache machst. Du fühlst, wenn ich jetzt meinen Platz verlasse, bin ich ein Feigling vor mir selbst, ein Lump, der später bei jedem Worte des Lobes erröten muß. Du beißt die Zähne zusammen und bleibst.
An diesem Abend hielten alle aus, die dort an der dunklen flandrischen Chaussee lagen. Man sah, daß Führer und Mannschaft in einem heroischen Geiste erzogen waren.
Pflicht und Ehre müssen die Grundpfeiler jeder Armee sein. Und dem Offizier als Vorkämpfer muß das Gefühl gesteigerter Pflicht und gesteigerter Ehre anerzogen werden. Dazu braucht man geeignetes Material und gewisse Formen. Das wird einem erst im Kriege ganz klar. —
Nach Mitternacht begann es zu rieseln; Patrouillen eines inzwischen eingeschwärmten Regiments, die bis zum Steenbach vorgingen, fanden nur schlammgefüllte Trichter vor. Der Feind hatte sich hinter den Bach zurückgezogen.
Von den Anstrengungen dieses gewaltigen Tages erschöpft, setzten wir uns bis auf die in Wachen eingeteilten Leute in unsere Löcher. Ich zog mir den zerfetzten Mantel meines toten Nebenmannes über den Kopf und verfiel in einen unruhigen Schlaf. Zur Zeit der Dämmerung erwachte ich durch ein merkwürdig kaltes Gefühl und entdeckte, daß ich mich in einer betrüblichen Lage befand. Es regnete in Strömen, und die Rinnsale der Straße ergossen sich in die Tiefe meines Sitzloches. Ich errichtete einen kleinen Damm und schöpfte meinen Ruheort mit dem Kochgeschirrdeckel aus. Infolge des ständigen Steigens der Wassermenge mußte ich meinem Erdwerke eine Krone nach der anderen aufsetzen, bis endlich der schwache Bau dem wachsenden Druck wich, und ein schmutziger Strom mein Sitzloch gurgelnd bis obenhin füllte. Während ich mich bemühte, aus dem Schlamm Pistole und Stahlhelm zu angeln, trieben Tabak und Lebensmittel den Chausseegraben entlang, dessen übrigen Bewohnern es ähnlich ergangen war. Zitternd und frierend, ohne einen trockenen Faden am Leibe standen wir in dem Bewußtsein, der nächsten Beschießung völlig deckungslos ausgesetzt zu sein, im Schlamm der Straße. Es war eine erbärmliche Situation. Ich machte hier die Beobachtung, daß kein Artilleriefeuer die Widerstandskraft des Menschen so gründlich zu brechen vermag wie Nässe und Kälte.
Für den weiteren Verlauf der Schlacht war dieser Landregen ein wahres Gottessgeschenk, denn die englische Offensive mußte ja dadurch gerade in den ersten, wichtigsten Tagen ins Stocken kommen. Der Gegner mußte mit seiner Artillerie die versumpfte Trichterzone überwinden, während wir unsere Munition auf intakten Straßen heranrollen konnten.
Um 11 Uhr erschien, als uns schon die Verzweiflung gepackt hatte, ein rettender Engel, in Gestalt eines Meldeläufers, der den Befehl brachte, daß sich das Regiment in Kokuit sammeln sollte.
Auf dem Wege sahen wir, wie schwierig die Verbindung nach vorn am Angriffstage gewesen sein mußte. Die Straßen waren besät von Menschen und Pferden. Neben einigen bis zur Unkenntlichkeit zerschmetterten Protzen lagen zwölf grauenhaft verstümmelte Pferde auf einem Haufen.
Auf einer regenfeuchten Wiese, über der sich die milchweißen Bälle vereinzelter Schrapnells wölkten, sammelten sich die Reste des Regiments. Wir wurden erschüttert durch den Anblick dieser kleinen Schar von der Stärke einer Kompagnie, in deren Mitte ein Grüpplein von Offizieren stand. Welche Verluste! Von zwei Bataillonen fast alle Offiziere und Mannschaften. Düsteren Blicks standen die Überlebenden im strömenden Regen, bis die Quartiere angewiesen waren. In einer Holzbaracke trockneten wir uns, um einen glühenden Ofen geschart, und faßten bei einem kräftigen Frühstück wieder frischen Lebensmut. Die menschliche Natur ist eben unverwüstlich.
Gegen Abend schlugen Granaten ins Dorf. Eine der Baracken wurde getroffen und eine Reihe von Leuten der dritten Kompagnie getötet. Trotz der Beschießung legten wir uns bald nieder mit der einzigen Hoffnung, nicht zum Gegenangriff oder plötzlicher Verteidigung wieder in den Regen hinausgeworfen zu werden.
Um 3 Uhr morgens kam der Befehl zum endgültigen Abrücken. Wir marschierten über die mit Leichen und zerschossenen Wagen bestreute Chaussee nach Staden. Um den Krater eines riesigen Einschlages herum lagen allein zwölf Tote. Staden, das bei unserer Ankunft noch so belebt gewesen war, wies schon viele zerschossene Häuser auf. Der verödete Marktplatz war mit fortgeworfenem Hausgerät besät. Eine Familie verließ mit uns das Städtchen, als einzigen Besitz eine Kuh hinter sich herziehend. Der Mann hatte ein Stelzbein, die Frau hielt die weinenden Kinder an der Hand. Der wirre Lärm im Rücken erhöhte das Traurige des Bildes.
Die Überreste des II. Bataillons wurden in einem einsamen Hof untergebracht, der sich inmitten saftiger, hochaufgeschossener Felder hinter dichten Hecken verbarg. Dort wurde mir die Führung der siebenten Kompagnie übertragen, mit der ich bis zum Schluß des Krieges Freud und Leid teilen sollte.
Am Abend saßen wir vor dem mit alten Kacheln ausgelegten Kamin, stärkten uns durch einen steifen Grog und lauschten dem wieder auflebenden Donner der Schlacht. Aus dem Heeresbericht einer neuen Zeitung sprang mir der Satz in die Augen: „Es gelang uns, den Feind an der Steenbachlinie aufzuhalten.“
Es war seltsam, zu empfinden, daß unser scheinbar wirres Tun in finsterer Nacht weltgeschichtliche Bedeutung erlangt hatte. Wir hatten ein gut Teil dazu beigetragen, die mit so gewaltigen Kräften begonnene feindliche Offensive zum Stillstand zu bringen.
Bald begaben wir uns zur Ruhe auf den Heuboden. Trotz des ausgiebigen Schlaftrunkes phantasierten die meisten Schläfer und wälzten sich hin und her, als ob sie die Flandernschlacht noch einmal durchkämpfen müßten.
Am 3. Juli setzten wir uns, reichbeladen mit Vieh und Feldfrüchten der verlassenen Gegend nach dem Bahnhof des nahen Städtchens Gits in Marsch. In der Bahnhofskneipe trank das ganze zusammengeschrumpfte Bataillon schon wieder in glänzender Stimmung Kaffee, den zwei derbe flämische Kellnerinnen zum allgemeinen Vergnügen mit sehr gewagten Redewendungen würzten. Besonderen Spaß machte es den Leuten, daß sie nach Landesbrauch jeden, auch die Offiziere, mit „du“ traktierten.
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Nach einigen Tagen erhielt ich aus einem Gelsenkirchener Lazarett einen Brief meines Bruders. Er schrieb, daß er wohl einen steifen Arm und eine klapprige Lunge behalten würde.
Ich entnehme seinem Tagebuch folgende Zeilen, die meinen Bericht ergänzen und die Eindrücke eines in das Tosen der Materialschlacht geworfenen Neulings anschaulich wiedergeben:
„— — Antreten zum Sturm!“ Das Gesicht meines Zugführers und Vizefeldwebels Schnell beugte sich über den Eingang der kleinen laub- und bretterüberdachten Höhle, in der wir seit Stunden rauchend und essend lagen. Die drei Leute neben mir beendeten ihr Gespräch und rafften sich fluchend auf. Ich erhob mich, schnallte um, rückte den Stahlhelm fest und trat in die Dämmerung hinaus.
Es war neblig und kühl. Das Bild hatte sich inzwischen verändert. Das Granatfeuer hatte sich verzogen und lagerte dumpfdonnernd auf anderen Teilen des riesigen Schlachtfeldes. Flugzeuge durchknatterten die Luft und beruhigten das ängstlich spähende Auge durch ihre großen eisernen Kreuze.
Ich lief noch einmal zu einem Brunnen, der zwischen Trümmern und Schutt sich merkwürdig klar erhalten hatte, zog den Eimer hoch, trank und füllte meine Feldflasche.
Die Leute der Kompagnie traten in Zügen an. Ich hakte mir eilig vier Handgranaten in das Koppel und begab mich zu meiner Gruppe, von der zwei Mann nicht zur Stelle waren. Kaum hatte ich noch Zeit, die Namen aufzuschreiben, als alles sich in Bewegung setzte. In Reihen zu einem bewegten sich die Züge durch das Trichtergelände, umbogen Balken, preßten sich an Hecken, tauchten in Tiefen unter und wanden sich klirrend und polternd auf den Feind zu.
Ich war mir meines Auftrages klar bewußt. Das zweite Bataillon unseres Regiments und ein Bataillon des Nachbarregiments hatten den Befehl, englische Abteilungen, die über den Kanal gestoßen waren, zurückzuwerfen. Mir war zugedacht, mit meiner Gruppe vorn liegen zu bleiben und den Gegenstoß aufzufangen.
Während ich all dieses noch einmal überlegte, traf mein Blick auf das blasse, entschlossene Gesicht eines jungen Unteroffiziers. „Bachmann“, dachte ich, obgleich ich ihn nicht kannte. Es war mein Kamerad, Fahnenjunker-Unteroffizier, ebenfalls bei der Kompagnie Sandvoß. Ich verlor ihn aus dem Gesicht und betrachtete staunend die Landschaft, die sich plötzlich vor unseren Augen entwickelt hatte.
Wir waren vor den Trümmern eines Dorfes angekommen. Aus der schrecklich zernarbten Ebene Flanderns ragten schwarz und zersplittert die astlosen Stümpfe einzelner Bäume, Überreste eines großen Waldes. Ungeheure Rauchschwaden zogen durch die Luft und verhängten den Himmel mit düsterem, schwerem Gewölk. Über der kahlen Erde, so unbarmherzig zerrissen und wieder zerrissen, schwelten stinkende Gase, die gelb und braun träge umherwanderten.
Es wurde Gasbereitschaft befohlen. In diesem Augenblick setzte schlagartig ein ungeheures Feuer ein. Erde sprang auf in fauchenden Fontänen, und ein Hagel von Splittern fegte wie ein Regenschauer das Land. Einen Augenblick stand jeder erstarrt. Dann stürzte alles wie rasend auseinander. Einmal noch hörte ich unverständlich die brüllende Stimme unseres Bataillonskommandeurs, Rittmeister Böckelmann.
Meine Leute waren verschwunden, ich befand mich in einem anderen Zuge und drängte mich mit den anderen nach den Trümmern eines Dorfes, das die unerbittlichen Granaten bis auf die Grundmauern rasiert hatten. Wir rissen die Gasmasken heraus.
Mit einem Schlage setzte ein tolles Maschinengewehrfeuer ein. Alles warf sich nieder. Links neben mir kniete der Leutnant Ehlers, neben ihm lag spähend ein Unteroffizier. Vor uns flackerte gelb eine Feuerwand, Detonation folgte auf Detonation; Häuserreste, ein Schauer von Erdklumpen, Ziegelstücken und Eisensplittern hagelte auf uns herab und schlug helle Funken aus den Stahlhelmen. Ich starrte in diesen glühenden Hexenkessel hinein.
Was war dagegen das halbstündige Trommelfeuer, das diesen verfehlten Angriff vorbereitet hatte. Denn daß er verfehlt war, war mir klar wie eine Vision. Zweimal verschlang ein ungeheuerlicher Krach in kurzen Zwischenräumen das Toben. Ganze Schuttfelder flogen in die Luft, wirbelten durcheinander und stürzten mit höllischem Prasseln nieder.
Auf eine schreiende Aufforderung Ehlers’ schaute ich nach rechts. Er erhob die linke Hand, winkte nach hinten, rief und sprang vor. Ich stand schwerfällig auf und folgte laufend. Meine Füße brannten von der vorhergehenden Nacht noch immer wie Feuer, das Blut war jedoch von den Strümpfen aufgesogen und der stechende Schmerz hatte nachgelassen.
Ich hatte keine zwanzig Schritt gemacht, da blendete mich, als ich aus einem Trichter wieder auftauchte, das brennende Licht eines Schrapnells, das keine zehn Schritt vor mir in drei Meter Höhe auseinandersprang. Ich fühlte zwei dumpfe Schläge gegen Brust und Schulter. Automatisch fiel mir das Gewehr aus der Hand, ich brach, den Kopf nach hinten, zusammen und kollerte in den Trichter zurück. Verschwommen hörte ich noch die Stimme Ehlers, der im Vorbeilaufen rief: „Den hat’s erwischt.“
Er sollte den nächsten Tag nicht beenden. Der Vorstoß mißlang, und er wurde beim Zurückspringen mit all seinen Begleitern getötet. Ein Schuß durch den Hinterkopf setzte dem Leben dieses tapferen Offiziers ein Ende.
Als ich nach einer langen Ohnmacht erwachte, war es ruhig geworden. Ich versuchte mich aufzurichten, empfand jedoch heftigen Schmerz in der rechten Schulter, den jede Bewegung des Armes verstärkte. Der Atem ging kurz und stoßweise, die Lunge konnte nicht genug Luft schaffen. „Prellschuß an Lunge und Schulter“, dachte ich, warf Sturmgepäck, Koppel und in einem Zustande völliger Apathie auch die Gasmaske fort. Den Stahlhelm behielt ich auf und hängte die Feldflasche an den Taillenhaken.
Nach fünf Schritten blieb ich in einem Nebentrichter regungslos liegen. Nach vielleicht einer Stunde versuchte ich das zweite Mal fortzukriechen, da das Feld schon wieder von leichten Trommelfeuern überschauert wurde. Auch dieser Versuch mißlang; ich verlor meine Feldflasche und versank in eine unendliche Erschöpfung, aus der mich nach langer Zeit das Gefühl brennenden Durstes erweckte.
Es begann leise zu regnen. Mit dem Stahlhelm gelang es mir, ein wenig schmutziges Wasser zu sammeln. Ich hatte jede Orientierung verloren. Ein Gewitter zog auf, seine Donnerschläge wurden übertönt von dem einsetzenden Lärm eines neuen Trommelfeuers. Ich drückte mich an die Trichterwand. Ein Lehmklumpen traf meine Schulter, schwere Splitter fegten über meinen Kopf dahin. Allmählich verlor ich auch den Sinn für die Zeit.
Einmal tauchten zwei Leute auf, die in langen Sprüngen über das Feld setzten. Ich rief sie an; sie verschwanden, ohne auf mich zu hören wie Schatten in den Nebeln. Endlich kamen drei Leute gerade auf mich zu. Ich erkannte in dem mittleren den Unteroffizier vom Tage vorher. Sie nahmen mich mit zu einer kleinen Hütte, die in der Nähe stand, vollgestopft von Verwundeten, die von zwei Sanitätern gepflegt wurden. Ich hatte 13 Stunden im Trichter gelegen.
In einer Ecke erkannte ich Bachmann, der, seinen Schmerz verbeißend, krampfhaft sein zerschossenes Knie hielt. Wir unterhielten uns abgebrochen; manchmal, wenn jemand ihn anstieß, stöhnte er leise.
Fortwährend arbeitete das gewaltige Feuer fort. Granate auf Granate schlug neben uns ein, häufig das Dach mit Sand und Erde überschüttend. Man verband mich, gab mir eine neue Gasmaske, ein Brot mit grober, roter Marmelade und ein wenig Wasser. Der Sanitäter sorgte für uns wie ein Vater.
Die Engländer begannen vorzudringen. Sprungweise näherten sie sich und verschwanden in den Trichtern, wie ich aus draußen erschallenden ängstlichen Ausrufen schloß.
Dann trat mein Kompagnieführer, der Leutnant Sandvoß ein, fragte mich, ob ich gehen könnte und verschwand, von einer Ordonnanz abberufen. Gleich darauf hörte ich seine befehlende Stimme, Maschinengewehre wurden umpostiert und begannen zu tacken.
Plötzlich stürzte von den Schuhen bis zum Stahlhelm mit Lehm beschmiert ein junger Offizier, mit dem E. K. I auf der Brust, herein. Es war mein Bruder, der unten schon am vorigen Tage totgesagt war. Wir begrüßten uns, ein wenig seltsam und gerührt lächelnd. Nach wenigen Minuten verließ er mich und brachte die letzten fünf Leute seiner Kompagnie herbei. Ich wurde auf eine Zeltbahn gelegt und unter dem Donner der Geschütze vom Schlachtfelde getragen. —
Am 4. Juli 1917 stiegen wir in dem berühmten Mars-la-tour aus. Die siebente und achte Kompagnie kam in Doncourt unter, wo wir einige Tage lang ein ganz beschauliches Leben führten. Nur brachten mich die knappen Verpflegungssätze in manchen Konflikt. Es war streng verboten, in den Feldern zu furagieren, trotzdem meldeten mir fast jeden Morgen die Feldgendarmen einige Leute, die sie beim nächtlichen Kartoffelroden angetroffen hatten und deren Bestrafung ich nicht umgehen konnte.
Am 9. wurde die Kompagnie durch den Divisionskommandeur, Generalmajor von Busse, besichtigt, der uns sein Lob für gutes Verhalten im Gefecht aussprach. Am nächsten Nachmittag wurden wir verladen und fuhren bis in die Nähe von Thiaucourt. Von dort marschierten wir gleich in unsere neue Stellung, die sich auf den waldreichen Höhen der Côte Lorraine gegenüber dem zerschossenen, aus manchem Tagesbefehl bekannten Dorfe Regniéville hinzog. Am ersten Morgen besah ich meinen Abschnitt, der mir reichlich lang für eine Kompagnie vorkam und aus einem unübersichtlichen Gewirre zum Teil halbverfallener Gräben bestand. Auch die vordere Linie war an vielen Stellen durch die in dieser Stellung üblichen schweren, dreibeinigen Flügelminen eingeebnet. Mein Stollen lag um 100 Meter zurück in dem sogen. Verkehrsgraben, nahe der aus Regniéville herausführenden Straße. Zum ersten Male seit langer Zeit lagen wir wieder Franzosen gegenüber.
Die Grabenwände bestanden aus Kalkstein, einem Material, das der Witterung bedeutend mehr widerstand als der gewohnte Lehmboden. Stellenweise war der Graben sogar sorgfältig ausgemauert und die Sohle auf lange Strecken betoniert, so daß selbst die stärksten Regenmassen leicht ablaufen konnten. Der rötlich-weiße Fels wimmelte von Fossilien. Jedesmal, wenn ich den Graben durchschritt, kam ich mit Taschen voll Muscheln, Seesternen und Ammonshörnern in den Unterstand zurück.
Mein Stollen war tief und tropfig. Er hatte eine Eigenschaft, die mir wenig Freude machte, trotzdem ich sonst leidenschaftlicher Entomologe bin. Es kamen nämlich in dieser Gegend statt der üblichen Läuse die viel beweglicheren Verwandten vor. Diese beiden Arten stehen anscheinend in demselben feindschaftlichen Verhältnis zueinander wie Wander- und Hausratte. Hier half nicht einmal der gewohnte Wäschewechsel, denn die sprunggewandten Schmarotzer lauerten tückisch im Stroh der Lagerstätte. Der zur Verzweiflung getriebene Schläfer riß endlich seine Decken heraus und konnte mit Mephisto sprechen:
Ich schüttle einmal noch den alten Flaus,
Noch einer flattert hier und dort hinaus,
Hinauf, umher in hunderttausend Ecken,
Eilt Euch, ihr Liebchen zu verstecken.
Auch die Verpflegung ließ viel zu wünschen übrig. Außer der dünnen Mittagssuppe gab es nur ein Drittel Brot mit einer lächerlich kleinen Beilage, die meist aus halbverdorbener Marmelade bestand. Die Hälfte davon fraß mir jedesmal eine fette Ratte auf, der ich oft vergeblich nachstellte.
Die Reserve- und Ruhekompagnie hielten sich in tief im Walde versteckten, romantisch gelegenen Blockhaus-Siedlungen auf. Besonders gefiel mir mein Quartier in der Reservestellung, dem Stumpflager, das im toten Winkel an den Hang einer engen Waldschlucht geklebt war. Ich hauste dort in einer winzig kleinen, halb in den Hang eingebauten Hütte, die dicht von Haselnußsträuchern und Kornelkirschen umfaßt war. Das Fenster bot einen Ausblick auf den gegenüberliegenden bewaldeten Bergrücken und einen schmalen bachdurchflossenen Wiesenstreifen im Grunde. Eine an der Rückwand aufgestapelte Kollektion von Flaschen aller Sorten verriet, daß hier schon mancher Einsiedler beschauliche Stunden verbracht haben mußte, und auch ich bemühte mich, des Ortes ehrwürdigen Brauch nicht zu vernachlässigen. Wenn abends die Nebel aus dem Grunde stiegen, sich mit dem schweren, weißen Qualm meines Holzfeuers mischten, und ich bei offener Türe im ersten Dämmer zwischen der frischen Herbstluft und der Wärme des Feuers hockte, schien mir nur ein Getränk dazu passend: Rotwein mit Eierkognak zur Hälfte in einem bauchigen Glase. Diese intimen Feiern trösteten mich auch über die Tatsache, daß ein vom Ersatz-Bataillon gekommener, dienstälterer Herr meine Kompagnie übernommen hatte, und ich als Zugführer wieder den langweiligen Grabendienst verrichtete. Ich suchte die endlosen Wachen nach alter Gewohnheit durch häufige Patrouillen zu umgehen.
Am 24. August wurde der tapfere Rittmeister Böckelmann durch einen Granatsplitter verwundet, der dritte Bataillons-Kommandeur, den das Regiment innerhalb kurzer Zeit verlor. — Am 29. stattete ich mit dem Unteroffizier Kloppmann, dem tüchtigsten Angehörigen der siebenten Kompagnie, der feindlichen Linie einen Besuch ab.
Wir krochen auf eine Lücke des feindlichen Hindernisses zu, die Kloppmann in der Nacht vorher geschnitten hatte. Zu unserer unangenehmen Überraschung war der Draht geflickt; trotzdem durchschnitten wir ihn wieder mit ziemlichem Geräusch und stiegen in den Graben. Wir kauerten uns hinter der nächsten Schulterwehr nieder und lauschten. Nach einer viertelstündigen Lauerpause schlichen wir weiter, einen Telephondraht verfolgend, der bei einem in die Erde gesteckten Seitengewehr endigte. Wir fanden die Stellung mehrfach durch Draht und einmal durch eine gitterförmige Tür versperrt, doch unbesetzt. Nachdem wir alles genau angesehen hatten, gingen wir denselben Weg zurück und verspannen die Lücke wieder sorgfältig, um unseren Besuch nicht zu verraten.
Am nächsten Abend spionierte Kloppmann wieder um die Stelle herum, wurde jedoch mit Gewehrschüssen und zitronenförmigen Handgranaten, den sogen. „Enteneiern“, empfangen, deren eine dicht neben seinem in den Boden gepreßten Kopf niederfiel ohne zu krepieren. Er mußte schleunigst Fersengeld geben.
Am 10. September begab ich mich vom Stumpflager zum Regiments-Gefechtsstand, um Urlaub einzureichen. „Ich habe schon an Sie gedacht,“ erwiderte mir der Oberst von Oppen, „das Regiment muß jedoch eine gewaltsame Patrouille machen, deren Führung Sie übernehmen sollen. Suchen Sie sich die geeigneten Leute aus und üben Sie mit ihnen unten im Souloeuvre-Lager.“
Wir sollten an zwei Stellen in den feindlichen Graben eindringen und versuchen, Gefangene zu machen. Die Patrouille zweigte sich in drei Teile, zwei Stoßtrupps und eine Sicherheitsbesatzung, die die erste Linie besetzen und uns den Rücken decken sollte. Ich übernahm die Führung des linken Trupps, den rechten bekam der Leutnant v. Kienitz. Die Leute setzten sich nur aus Freiwilligen zusammen; einige Überzählige weinten fast, als ich sie zurückwies. Mein Trupp bestand, mich eingerechnet, aus 14 Mann, darunter der Fähnrich v. Zglinitzky, Unteroffizier Kloppmann, Unteroffizier Mevius, Unteroffizier Dujesiefken und zwei Pioniere. Die tollsten Draufgänger des zweiten Bataillons hatten sich zusammengefunden.
Zehn Tage lang trainierten wir uns im Werfen von Handgranaten und führten unser Unternehmen an einem der Wirklichkeit nachgebildeten Sturmwerk aus. Es war ein Wunder, daß ich bei dem Übereifer meiner Leute nur drei schon vorher durch Splitter Verletzte hatte. Im übrigen taten wir keinen Dienst, so daß ich am Nachmittag des 22. Septembers als Meister einer verwilderten, aber brauchbaren Bande zur zweiten Stellung zog, in der wir für die Nacht untergebracht werden sollten.
Abends pilgerten v. Kienitz und ich durch den dunklen Wald zum Bataillons-Gefechtsstand, da wir vom Bataillons-Kommandeur, Rittmeister Schumacher, zu einer Henkersmahlzeit geladen waren. Dann legten wir uns in unserem Stollen schlafen. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn man weiß, daß man am nächsten Morgen einen Kampf auf Leben und Tod zu bestehen hat und vorm Einschlafen noch eine Zeit lang in sich hineinhorcht.
Um 3 Uhr wurden wir geweckt, standen auf, wuschen uns und ließen das Frühstück zurechtmachen. Ich hatte gleich einen tüchtigen Ärger, da mir mein Bursche die Spiegeleier, die ich mir zur Stärkung und Feier des Tages leisten wollte, vollkommen versalzen hatte.
Wir schoben die Teller zurück und sprachen zum hundertsten Male alle Einzelheiten durch, die uns begegnen konnten. Zwischendurch boten wir uns gegenseitig Cherry Brandies an, während v. Kienitz einige uralte Witze zum Besten gab. Zwanzig Minuten vor fünf nahmen wir die Leute zusammen und führten sie in die Bereitschaftsbunker der vorderen Linie. Es waren schon Lücken in den Draht geschnitten und lange, mit Kalkmehl gestreute Pfeile wiesen auf unsere Angriffspunkte. Wir trennten uns mit einem Händedruck und harrten der Dinge, die da kommen sollten.
Ich war vollkommen in Dreß: Vor der Brust zwei Sandsäcke mit je vier Stielhandgranaten, links mit Aufschlag-, rechts mit Brennzünder, in der rechten Rocktasche eine Pistole 08 am langen Bande, in der rechten Hosentasche eine kleine Mauserpistole, in der linken Rocktasche fünf Eier-Handgranaten, in der linken Hosentasche Leuchtkompaß und Trillerpfeife. Am Koppel Karabinerhaken zum Abreißen der Handgranaten, Dolch und Drahtschere. In der inneren Brusttasche steckte eine gefüllte Brieftasche und meine Heimatadresse, in der hinteren Rocktasche eine platte Flasche voll Cherry Brandy. Achselklappen und Gibraltarband hatten wir abgelegt, um dem Gegner keinen Aufschluß über unsere Herkunft zu geben. Als Erkennungszeichen trugen wir an jedem Arm eine weiße Binde.
Vier Minuten vor fünf setzte bei der linken Nachbardivision Ablenkungsfeuer ein. Punkt 5 Uhr brach schlagartig unser Artillerie- und Minenfeuer los. Ich stand mit dem Unteroffizier Kloppmann vorm Stolleneingang und rauchte eine letzte Zigarre; wir mußten jedoch wegen zahlreicher Kurzschüsse Deckung nehmen. Mit der Uhr in der Hand zählten wir die Minuten.
Punkt 5.05 Uhr ging es aus dem Stollen heraus und auf den vorbereiteten Wegen durchs Hindernis. Ich rannte, eine Handgranate hochhebend, voran und sah auch die rechte Patrouille in der ersten Dämmerung vorstürmen. Das feindliche Verhau war schwach; ich übersprang es in zwei Sätzen, stolperte aber über eine dahintergezogene Drahtwalze und stürzte in einen Trichter, aus dem mich die Unteroffiziere Kloppmann und Mevius hervorzogen. „Rin!“ Wir sprangen in die erste Linie, ohne auf Widerstand zu stoßen, während rechts ein krachender Handgranatenkampf begann. Ohne uns darum zu kümmern, setzten wir über die den nächsten Graben absperrende Sandsackbarrikade und sprangen von Trichter zu Trichter vor, bis wir zwei Reihen Spanischer Reiter erreichten, die uns von der zweiten Linie trennten. Da diese vollkommen zerstört war und keine Hoffnung auf Gefangene gab, eilten wir, ohne uns aufzuhalten, durch einen verbarrikadierten Laufgraben weiter vor.
Bei der Einmündung in die dritte Linie fiel vor mir ein glimmendes Zigarettenende zu Boden. Ich gab meinen Leuten ein Zeichen, faßte die Handgranate fester und schlich vorsichtig durch den gut ausgebauten Graben vor, an dessen Wänden zahlreiche verlassene Gewehre lehnten. In solchen Situationen registriert das Gedächtnis unbewußt auch das Nebensächlichste. So prägte sich mir an dem Grabenkreuz das Bild eines Kochgeschirres ein, in dem ein Löffel stand. Diese Beobachtung rettete mir 20 Minuten später das Leben.
Plötzlich verschwanden vor uns schattenhafte Gestalten. Wir rannten hinter ihnen her und gerieten in eine Sackgasse, in deren Wand ein Stolleneingang gebohrt war. Ich stellte mich davor und schrie: „Montez!“ Eine herausgeschleuderte Handgranate war die Antwort. Sie explodierte in Höhe meines Kopfes an der gegenüberliegenden Wand, zerfetzte meine seidene Mütze, verwundete meine linke Hand mehrfach und schlug mir die Kuppe des kleinen Fingers weg. Dem neben mir stehenden Pionier-Unteroffizier wurde die Nase durchbohrt. Wir zogen uns einige Schritte zurück und bombardierten den gefährlichen Platz mit Handgranaten. Ein übereifriger schleuderte eine Brandröhre in den Eingang und machte dadurch jeden weiteren Angriff unmöglich. Wir machten kehrt und verfolgten die dritte Linie in entgegengesetzter Richtung, um endlich einen Gegner zu fassen. Überall lagen fortgeworfene Waffen und Ausrüstungsstücke. Die Frage: „Wo mögen nur die Leute zu diesen vielen Gewehren sein?“ stieg immer unheimlicher in uns empor, doch hasteten wir entschlossen mit fertiger Handgranate und vorgehaltener Pistole weiter durch die öden, pulverdampfverhangenen Gräben.
Unser Weg von da an ist mir erst bei späterem Nachdenken klar geworden. Ohne es zu bemerken, bogen wir in einen dritten Laufgraben ein und näherten uns, bereits mitten im eigenen Absperrungsfeuer, der vierten Linie. Ab und zu rissen wir einen der in die Wände eingebauten Kästen auf und steckten uns zum Andenken eine Handgranate in die Tasche.
Nachdem wir einige Male durch Kreuz- und Quergräben gelaufen waren, wußte niemand mehr, wo wir uns befanden und in welcher Richtung die deutschen Stellungen lagen. Allmählich wurden alle aufgeregt. Die Nadeln der Leuchtkompasse tanzten in den fliegenden Händen, und beim Suchen des Polarsternes ließ uns in der Erregung unsere ganze Schulweisheit im Stich. Stimmengewirr in nahen Gräben verriet, daß der Gegner sich von der ersten Überraschung erholt hatte. Er mußte unsere Lage bald erraten.
Nachdem wir wieder einmal kehrt gemacht hatten, ging ich als Letzter und sah plötzlich vor mir über einer Sandsackschulterwehr die Mündung eines Maschinengewehres hin- und herpendeln. Ich sprang, über eine französische Leiche stolpernd, darauf zu und erblickte den Unteroffizier Kloppmann und den Fähnrich v. Zglinitzky, die sich mit dem Gewehre beschäftigten, während der Füsilier Haller mit blutbeschmutzten Händen einen zerfetzten Körper nach Papieren durchwühlte. Wir hantierten, ohne uns um die Umgebung zu kümmern, in fieberhafter Eile an der Waffe herum, um wenigstens eine Beute mitzubringen. Ich versuchte, die Halteschrauben zu lösen; ein anderer kniff mit der Drahtschere den Ladestreifen ab; endlich packten wir das auf einem Dreifuß stehende Ding, um es unzerlegt mitzunehmen. In diesem Augenblick ertönte aus einem Parallelgraben in der Richtung, in der wir unseren Graben vermuteten, eine Stimme: „Qu’est ce qu’il y a“ und ein schwarzer Ball flog, sich undeutlich vom dämmernden Himmel abhebend, auf uns zu. „Achtung!“ Zwischen Mevius und mir blitzte es auf; ein Splitter fuhr Mevius in die Hand. Wir stoben nach allen Seiten auseinander, uns immer tiefer in das Grabengewirre verstrickend. Bei mir befand sich nur noch der Pionier-Unteroffizier und Mevius. Unser Glück war nur die Angst der Franzosen, die sich immer noch nicht aus ihren Löchern herauswagten. Es konnte sich indes nur noch um Minuten handeln, bis wir auf eine stärkere Abteilung stoßen mußten, die uns mit Vergnügen den Garaus gemacht hätte. Pardonstimmung lag nicht in der Luft.
Als ich schon jede Hoffnung aufgegeben hatte, wieder heil aus diesem Kessel herauszukommen, entfuhr mir plötzlich ein Freudenschrei. Mein Blick war auf das Kochgeschirr mit dem Löffel gefallen; nun war ich orientiert. Da es schon ganz hell geworden war, hatten wir keine Sekunde zu verlieren. Wir sprangen über freies Gelände, von den ersten Gewehrkugeln umpfiffen, den eigenen Linien zu. Im vorderen französischen Graben stießen wir auf die Patrouille des Leutnants v. Kienitz. Als uns der Ruf „Lüttje Lage!“ entgegentönte, wußten wir, daß wir das Gröbste hinter uns hatten. Ich fiel von oben leider gerade auf einen schwer Blessierten, den sie zwischen sich liegen hatten. Kienitz erzählte mir hastig, daß er französische Schanzer im ersten Graben durch Handgranaten vertrieben und beim weiteren Vorgehen gleich zu Anfang durch eigene Artillerie Tote und Verwundete gehabt hätte.
Nach längerem Warten erschienen noch zwei meiner Leute, der Unteroffizier Dujesiefken und der Füsilier Haller, der mir wenigstens einen kleinen Trost mitbrachte. Er war beim Umherirren allein in einen kleinen Stichgraben geraten und hatte dort drei verlassene MG. entdeckt, von denen er eins vom Gestell geschraubt und mitgenommen hatte. Da es immer heller wurde, hasteten wir über das Niemandsland in unsere vordere Linie.
Von den vierzehn Mann, die mit mir ausgezogen waren, kamen nur vier zurück, und auch die Patrouille Kienitz hatte schwere Verluste. Meine Niedergeschlagenheit wurde etwas erhellt durch die Worte des biederen Oldenburgers Dujesiefken, der, als ich mir im Stollen die Hand verbinden ließ, vorm Eingang seinen Kameraden die Ereignisse berichtete und mit dem Satze schloß: „Vor Leutnant Jünger habe ich jetzt aber Respekt; Junge, Junge, der flitzte dich man so über die Barrikaden!“
Anschließend marschierten wir durch den Wald zum Regiments-Gefechtsstand. Der Oberst von Oppen begrüßte uns und ließ uns Kaffee einschenken. Er war zwar sehr betrübt über unseren Mißerfolg, sprach uns jedoch seine ganze Anerkennung über das Geleistete aus. Dann wurde ich in ein Auto gepackt und fuhr zur Division, die genauen Bericht haben wollte. Vor wenigen Stunden noch im wüsten Handgranatenkampf durch zerschossene Gräben stürmend, genoß ich in vollen Zügen die Wohltat, zurückgelehnt in schnellem Fluge über die Landstraße zu brausen.
Der Generalstabsoffizier empfing mich in seinem Arbeitszimmer und versuchte vergeblich, mir zu beweisen, daß ich durch übereiltes Vorgehen den Verlust meiner Leute verschuldet hätte. Ich dachte: „Du kannst mir hier, zwanzig Kilometer hinter dem vorderen Graben, viel erzählen,“ und gab zu verstehen, daß ich in der feindlichen Linie weder einen grünen Tisch, noch die Stöße von Karten darauf gehabt hätte. Außerdem hatte ich nur die Ehre des Kampfes gehabt, der Plan, an dem ich manches auszusetzen gefunden, war mir fertig in die Hand gedrückt worden. Ich hatte vorher gebeten, den Angriffspunkt an die markante Linie der Chaussee zu verlegen oder wenigstens farbige Leuchtkugeln aus dem eigenen Graben hochzuschießen, um den Verirrten den Weg zu weisen. Man hatte mir bedeutet, daß dadurch das feindliche Feuer angezogen würde. Zum Teufel, was schiert mich das feindliche Feuer? Das bin ich gewohnt. Aber ich bin keine Eule, die ihren Weg im Dunkeln findet!
Der Divisions-Kommandeur begrüßte mich sehr liebenswürdig und verscheuchte bald meine Mißstimmung. Beim Mittagessen saß ich im verschlissenen Feldrocke mit verbundener Hand neben ihm und bemühte mich, nach dem Worte: „Nur die Lumpe sind bescheiden!“ unsere Taten vom Morgen in das richtige Licht zu stellen.
Am nächsten Tage besichtigte der Oberst von Oppen die Patrouille noch einmal, verteilte Eiserne Kreuze und gab jedem Teilnehmer vierzehn Tage Urlaub. Am Nachmittag wurden die Gefallenen, deren Zurückschaffung gelungen war, auf dem Soldatenfriedhof Thiaucourt begraben. Zwischen den Gräbern dieses Krieges ruhten dort auch Kämpfer von 1870/71. Eins dieser alten Gräber schmückte ein bemooster Stein mit der schlichten Inschrift: „Dem Auge fern, dem Herzen ewig nah!“ In eine große Steintafel war gemeißelt:
„Heldentaten, Heldengräber reihen neu sich an die alten,
Künden wie das Reich erstanden, künden wie das Reich erhalten.“
Abends las ich im französischen Heeresbericht: „Ein deutsches Unternehmen bei Regniéville mißglückte; wir machten Gefangene.“ Daß die Gefangenen nur gemacht waren, weil unsere Leute sich bei der Suche nach dem ausgerissenen Gegner verirrt hatten, war nicht hinzugesetzt. Hätten die Franzosen ihre Gräben verteidigt, wie mutige Soldaten zu tun pflegen, so wäre es wohl anders gekommen.
Einige Monate später erhielt ich einen Brief von einem der Vermißten, dem Füsilier Meyer, der dort im Handgranatenkampfe ein Bein verloren hatte; er war mit drei Kameraden nach langem Umherirren in einen Kampf verwickelt und schwer verwundet gefangen genommen worden, nachdem die anderen, darunter auch der brave Unteroffizier Kloppmann, gefallen waren.
Ich habe im Kriege manches Abenteuer bestanden, doch keins war unheimlicher. Noch immer gerate ich in eine beklommene Stimmung, wenn ich an unseren Irrweg durch die unbekannten, vom kalten Frühlicht erhellten Gräben denke.
Einige Tage darauf sprangen die Leutnants Domeyer und Zürn mit mehreren Begleitern nach einigen Schrapnellschüssen in die erste französische Linie. Domeyer stieß auf einen französischen Landwehrmann mit mächtigem Vollbart, der seine Aufforderung: „Rendez-vous!“ mit grimmigem „Ah non!“ erwiderte und sich auf ihn stürzte. Im Verlauf eines erbitterten Ringkampfes schoß Domeyer ihn mit der Pistole durch den Hals und mußte wie ich ohne Gefangenen zurückkehren. Nur war bei meinem Unternehmen eine Artilleriemunition verpulvert, die 1870 für eine ganze Schlacht ausgereicht hätte.
Am gleichen Tage, als ich von meinem vierzehntägigen Urlaub zurückkehrte, wurden wir vom bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 5 abgelöst und zunächst in dem nahegelegenen Dorfe Labry, einem der typischen Drecknester jener Gegend, untergebracht. Am meisten frappierte mich in diesen lothringischen Dörfern die vergebliche Suche nach einer verschwiegenen Örtlichkeit. Eine Badewanne schien zu den unbekannten Dingen zu gehören. In dieser Beziehung habe ich in Frankreich überhaupt eigentümliche Erfahrungen gemacht. Selbst in den prunkvollen Schlössern mußte man gewisse Schattenseiten mit diskretem Lächeln ignorieren. So sehr ich den Franzosen schätze, halte ich doch diese Seite seines Wesens für eine bezeichnende.
„Was schadet’s, wenn die Senkgrube hinten rinnt und stinkt,
Wenn nur der Türknopf vorn blitzt und blinkt.“
Am 17. Oktober 1917 wurden wir verladen und betraten nach anderthalb Tagen wieder den Boden Flanderns, den wir erst vor zwei Monaten verlassen hatten. Wir übernachteten in dem Städtchen Iseghem und marschierten am nächsten Morgen nach Roulers oder, wie es flämisch heißt: Roselaire. Die Stadt befand sich im ersten Stadium der Zerstörung. Noch wurden in den Läden Waren feilgehalten, doch hauste die Bevölkerung schon in den Kellern, und die Bande des bürgerlichen Lebens waren durch häufige Beschießungen zerrissen. Ein Schaufenster mit Damenhüten gegenüber meinem Quartier machte auf mich in dem Kriegsgewühl einen merkwürdig deplacierten Eindruck. Nachts versuchten Plünderer, in die verlassenen Wohnungen einzubrechen.
In meinem in der Oststraat gelegenen Quartier war ich der einzige Bewohner der überirdischen Räume. Das Haus gehörte einem Tuchhändler, der zu Beginn des Krieges geflohen war und eine alte Wirtschafterin mit ihrer Tochter zur Bewachung zurückgelassen hatte. Die beiden sorgten für ein kleines, verwaistes Mädchen, das sie während unseres Vormarsches, von seinen Eltern verlassen, in den Straßen umherirrend aufgefunden hatten. Sie kannten nicht einmal Alter und Namen des Kindes. Sie hatten eine fabelhafte Angst vor Bomben und beschworen mich fast auf den Knien, oben kein Licht zu machen, um die bösen Flieger nicht anzulocken. Mir verging das Lachen allerdings auch, als, während ich neben Leutnant Reinhardt am Fenster stand und einen im Lichte der Scheinwerfer dicht über die Dächer fliegenden Engländer betrachtete, eine Riesenbombe in der Nähe des Hauses aufschlug und der Luftdruck uns die Splitter der Fensterscheiben um die Ohren warf.
Ich war für die bevorstehende Aktion zum Spähoffizier bestimmt und dem Regimentsstabe zugeteilt. Um mich zu orientieren, begab ich mich schon vor unserem Einsatz zum Gefechtsstand des bayerischen Reserve-Regiments 10, das wir ablösen sollten. Ich fand in dem Kommandeur einen sehr freundlichen Herrn vor, obgleich er zuerst beim Empfang etwas über mein „rotes Mützenbandl“ brummte. Ich legte damals schon längst keinen Wert mehr auf einen sortiert feldmäßigen Anzug. Am Fexentum erkennt man überall den Neuling.
Zwei Ordonnanzen führten mich zu dem sogenannten Meldekopf, der einen sehr guten Überblick bieten sollte. Wir hatten kaum den Gefechtsstand verlassen, als eine Granate bei uns einschlug. „Da bin ich schon, des Chaos vielgeliebter Sohn!“ Meine Führer wußten indes dem Feuer, das gegen Mittag in unaufhörliches Rollen überging, in dem durch zahlreiche kleine Pappelgehölze maskierten Gelände sehr geschickt auszuweichen.
Auf der Schwelle eines einsamen Gehöftes, das die Spuren frischer Einschläge aufwies, erblickten wir einen auf dem Bauch liegenden Toten. „Den hat’s a derwischt!“ äußerte der biedere Bayer. „Dicke Luft“, meinte der andere mit witterndem Umblick und schritt rasch weiter. Der Meldekopf lag jenseits der stark beschossenen Straße Paschendale—Westroosebeke und erwies sich als eine Meldesammelstelle, ähnlich der, die ich in Fresnoy geführt hatte. Er lag neben einem zum Schutthaufen zusammengeschossenen Hause und hatte so wenig Deckung, daß ihn der erste derbere Treffer vernichten mußte. Ich ließ mich von drei Offizieren, die dort ein geselliges Höhlendasein führten und über die baldige Ablösung sehr erfreut waren, über Feind, Stellung und Annäherung orientieren und ging dann über Roodkruis—Oostnieukerke nach Roulers zurück, wo ich dem Oberst Bericht erstattete.
Auf dem Wege durch die Straßen der Stadt las ich mit Vergnügen die gemütlichen Namen der zahlreichen kleinen Schenken, die so recht die flämische Behäbigkeit ausdrückten. Wer fühlt sich nicht angezogen durch ein Wirtschaftsschild, das den Titel „De Zalm“ (Salm), „De Reeper“ (Reiher), „De Nieuwe Trompette“, „De drie Koningen“ oder „Den Olifant“ führt? Klingt das nicht nach Teniers und De Coster? Schon der Empfang in der kräftigen unverwelschten Sprache mit dem traulichen Du versetzt in behagliche Stimmung. Gott gebe, daß dieses prächtige Land in seinem alten Wesen von den furchtbaren Wunden des Krieges wieder auferstehe.
Am Abend wurde die Stadt wieder mit Bomben beworfen. Ich stieg in den Keller, in dem sich die Frauen zitternd in eine Ecke gedrückt hatten und knipste meine Taschenlampe an, um das kleine Mädchen zu beruhigen, das im Dunkeln vor Angst schrie, da eine Explosion das Licht verlöscht hatte. Hier zeigte sich wieder, wie fest der Mensch mit seiner Heimat verwachsen ist. Trotz der gewaltigen Furcht, die diese Frauen vor der Gefahr hatten, klammerten sie sich fest an die Scholle, die jeden Augenblick zum Grabe werden konnte.
Am Morgen des 22. Oktober brach ich mit meinem Spähtrupp von vier Mann nach Kalve auf, wo der Regimentsstab im Laufe des Vormittags ablösen sollte. An der Front tobte ein gewaltiges Feuer, dessen Blitze dem Frühmorgennebel das Aussehen eines brodelnden, blutigroten Dampfes gaben. Am Eingange von Oostnieukerke stürzte neben uns ein Haus, von einer schweren Granate getroffen, krachend zusammen. Steintrümmer rollten über die Straße. Wir versuchten, den Ort zu umgehen, mußten aber doch hindurch, da wir die Richtung Roodkruis—Kalve nicht kannten. Im Vorbeieilen fragte ich einen bayerischen Unteroffizier, der im Eingange eines Kellers stand, nach dem Wege. Statt zu antworten, vergrub er seine Hände in die Taschen und zuckte die Achseln. Da ich infolge der dauernd einschlagenden Geschosse keine Zeit zu verlieren hatte, sprang ich auf dieses Produkt einer verfehlten militärischen Ausbildung zu und erzwang mir durch die ihm unter die Nase gehaltene Pistole Auskunft. Wenn der Mann inzwischen nicht gefallen oder desertiert ist, wird er sicher die Spartakusgruppe um ein würdiges Mitglied bereichert haben.
Bei Roodkruis, einem kleinen Gehöft an einer Straßengabel, wurde die Sache bedenklich. Protzen rasten über die beschossene Straße, Infanterietrupps schlängelten sich zu beiden Seiten durchs Gelände, und zahllose Verwundete schleppten sich von vorne zurück. Einem jungen Artilleristen, der uns begegnete, ragte ein langer, zackiger Splitter aus der Schulter. Wir bogen rechts von der Straße ab zum Regimentsgefechtsstand, der von einem starken Feuerkranze umgeben war. In der Nähe legten zwei Telephonisten Leitung über ein Kohlfeld. Unmittelbar neben dem einen schlug eine Granate ein; wir sahen ihn stürzen und hielten ihn für erledigt. Er erhob sich jedoch gleich wieder und zog seinen Draht mit anerkennenswerter Kaltblütigkeit weiter. Da der Gefechtsstand nur aus einem winzigen Betonblock bestand, der kaum für den Kommandeur mit Adjutanten und Ordonnanzoffizier Platz bot, mußte ich in der Nähe Unterkunft suchen. Ich zog mit dem Nachrichten-, Gasschutz- und Minenwerferoffizier in eine leichte Holzbaracke, die nicht gerade das Ideal einer bombensicheren Unterkunft darstellte.
Am Nachmittag ging ich in Stellung, da die Meldung eingelaufen war, daß der Feind am Morgen unsere fünfte Kompagnie angegriffen hätte. Mein Weg führte über den Meldekopf zum Nordhof, einem zur Unkenntlichkeit zerschossenen Gehöft, unter dessen Trümmern der Kommandeur des Bereitschaftsbataillons hauste. Von dort lief ein allerdings nur noch angedeuteter Pfad zum Kampftruppen-Kommandeur. Durch die starken Regenfälle der letzten Tage war das unübersehbare Trichterfeld in ein Meer von Schlamm verwandelt, das besonders im Paddebachgrunde eine lebensgefährliche Tiefe aufwies. Auf meinen Irrfahrten kam ich an manchem einsam oder vergessen liegenden Toten vorbei; oft ragte nur noch der Kopf oder eine Hand über den schmutzigen Spiegel der Trichter. Tausende schlummern so, ohne daß ein von Freundeshand errichtetes Kreuz die unbekannte Grabstätte schmückt.
Nach dem äußerst anstrengenden Überschreiten des Paddebaches, das nur durch einige von Granaten darübergeschleuderte Pappeln ermöglicht wurde, entdeckte ich in einem Riesentrichter den Führer der fünften Kompagnie, Leutnant Heins, inmitten eines Häufleins von Getreuen. Die Trichterstellung lag an einem Hange und konnte, da sie nicht völlig versoffen war, von anspruchslosen Frontsoldaten als bewohnbar bezeichnet werden. Heins erzählte mir, daß am Morgen eine englische Schützenlinie erschienen und auf Beschießung verschwunden wäre. Diese hatte wiederum einige verirrte 164er, die bei ihrer Annäherung fortgelaufen waren, erschossen. Sonst war alles in Ordnung; ich begab mich daher zum Gefechtsstand zurück, wo ich dem Oberst Bericht erstattete.
Am Tage darauf wurde unser Mittagessen in gröbster Weise durch einige uns vor die Tür gesetzte Granaten unterbrochen, deren Dreckfontänen in langsamem Wirbel auf unser Teerpappdach trommelten. Alles stürzte aus der Tür; ich flüchtete in ein nahes Gehöft, in das ich des Regens wegen hineinging. Am Abend wiederholte sich der Vorgang, nur blieb ich diesmal vor dem Hause stehen, da es trockenes Wetter war. Die nächste Granate schlug mitten in das zusammenbrechende Gebäude. So spielt der Zufall im Kriege. Mehr als anderswo gilt hier: „Kleine Ursachen, große Wirkungen.“ Sekunden und Millimeter entscheiden.
Am 25. wurden wir schon um 8 Uhr aus den Baracken getrieben, von denen die uns gegenüberliegende beim zweiten Schuß einen Volltreffer erhielt. Durch die Erfahrungen des vorigen Tages gewitzigt, suchte ich mir in dem großen Kohlfelde hinter dem Regimentsgefechtsstand einen einsamen, vertrauenerweckenden Granattrichter aus, von dem ich mich jedesmal erst nach einer angemessenen Sicherheitspause wieder trennte. Während dieses Tages bekam ich die mir sehr nahegehende Nachricht vom Tode des Leutnants Brecht, der als Spähoffizier der Division in dem Trichterfeld rechts vom Nordhof den Heldentod gefunden hatte. Ich hatte Brecht stets als Vorbild und lebenden Beweis des Spruches: „Fortes fortuna adjuvat“ bewundert. Er war einer der wenigen, die infolge ihres unermüdlichen Draufgängertums sogar in diesem prosaischsten aller Kriege von einem romantischen Nimbus umgeben waren.
Die Morgenstunden des 26. wurden durch ein Trommelfeuer von außergewöhnlicher Heftigkeit ausgefüllt. Auch unsere Artillerie verdoppelte auf die von vorn hochsteigenden Sperrfeuersignale hin ihre Wut. Jedes kleine Waldstück und jede Hecke war mit Geschützen gespickt, hinter denen halbtaube Kanoniere ihres Amtes walteten.
Da zurückkommende Verwundete unklare und übertriebene Angaben über einen englischen Angriff machten, wurde ich mit meinen vier Mann um 11 Uhr nach vorn geschickt, um dort Genaueres zu erkunden. Unser Weg führte durch scharfes Feuer. Zahlreiche Verwundete begegneten uns, darunter Leutnant Spitz, Führer der zwölften Kompagnie, mit einem Kinnschuß. Schon vor K. T. K. kamen wir in gezieltes Maschinengewehrfeuer, ein Beweis, daß der Feind unsere Linien eingedrückt haben mußte. Dieser Verdacht wurde mir durch den Major Dietlein, Führer des III. Bataillons bestätigt. Ich fand den alten Herrn gerade beschäftigt, aus dem Eingange seines dreiviertel unter Wasser stehenden Betonklotzes zu kriechen, eifrig nach seiner in den Schlamm gefallenen Meerschaumspitze fischend. Wenn doch jeder Deutsche sich ohne Rücksicht auf Alter und Gesundheit so eingesetzt hätte.
Der Feind war in die vordere Linie eingedrungen und hatte einen Höhenrücken genommen, von dem er den wichtigen Paddebachgrund, in dem der K. T. K. lag, unter Feuer nehmen konnte. Nachdem ich diese Veränderung der Lage mit einigen Blaustiftstrichen in meine Karte eingetragen hatte, setzte ich mit meinen Leuten zu neuem Dauerlauf durch den Schlamm an. Wir sprangen im schnellsten Tempo über die eingesehene Fläche bis hinter die nächste Bodenwelle, von dort langsamer zum Nordhof. Rechts und links schlugen Granaten in den Sumpf und schleuderten riesige, von unzähligen kleineren umgebene Schlammberge in die Höhe. Der Nordhof lag unter nervenerschütterndem Brisanzfeuer und mußte sprungweise überwunden werden. Ein Schrapnell warf seine Kugelladung mit vielfachem Klatschen zwischen uns. Einer meiner Begleiter wurde am hinteren Stahlhelmrand getroffen und zu Boden geschleudert. Nachdem er eine Zeitlang betäubt gelegen hatte, raffte er sich hoch und lief weiter. Das Gelände um den Nordhof war von einer Menge furchtbar zugerichteter Leichen bedeckt. Nachdem wir noch glücklich den stark beschossenen Grund hinter der Straße Paschendale—Westroosebeke durchschritten hatten, konnte ich dem Regiments-Kommandeur Meldung erstatten.
Am nächsten Morgen wurde ich schon um 6 Uhr mit dem Auftrage, festzustellen, ob und wo das Regiment Anschluß hätte, nach vorn geschickt. Unterwegs traf ich den Feldwebel-Leutnant Ferchland, der der achten Kompagnie den Befehl überbringen mußte, auf Goudberg vorzugehen und, falls eine bestehen sollte, die Lücke zwischen uns und dem linken Nachbar-Regiment auszufüllen. Um meinen Auftrag so schnell wie möglich auszuführen, konnte ich nichts besseres tun, als mich anzuschließen. Wir fanden nach längerem Suchen den mir befreundeten Führer der achten Kompagnie, Leutnant Tebbe, in einem unwirtlichen Teile der Trichterlandschaft nahe dem Meldekopf. Er zeigte sich über den Auftrag, eine derartig auffällige Bewegung bei hellem Tage auszuführen, wenig erfreut. Wir steckten uns während unserer kargen, durch die unsägliche Nüchternheit des morgenbeschienenen Trichterfeldes bedrückten Konversation eine Zigarre an und warteten, bis sich die Kompagnie gesammelt hatte. Schon nach wenigen Schritten erhielten wir von den gegenüberliegenden Höhen gezieltes Infanteriefeuer und mußten einzeln von Trichter zu Trichter vorspringen. Beim Überschreiten des nächsten Hanges konzentrierte sich das Feuer so, daß Tebbe eine Trichterstellung beziehen ließ, um den Schutz der Nacht abzuwarten. Er ging, eine Zigarre rauchend, mit großer Kaltblütigkeit den ganzen Abschnitt ab, um seine Gruppen einzuteilen.
Ich beschloß, weiter vorzugehen, um die Größe der Lücke festzustellen und ruhte mich noch einen Augenblick in Tebbes Trichter aus. Schon begann die feindliche Artillerie zur Strafe für das kühne Vorgehen der Kompagnie sich auf den Geländestreifen einzuschießen. Ein auf den Rand unseres Zufluchtsortes wuchtendes Sprengstück, das Karte und Augen voll Lehm spritzte, mahnte mich zum Aufbruch. Ich verabschiedete mich von Tebbe und wünschte ihm viel Glück für die nächsten Stunden. Er rief hinter mir her: „Lieber Gott, laß Abend werden, Morgen wird’s von selber!“
Wir schritten vorsichtig durch den eingesehenen Paddebachgrund, uns hinter den Laubmassen umgeschossener Pappeln verbergend und ihre Stämme als Brücke benutzend. Ab und zu verschwand einer bis über die Hüften im Schlamm und wäre ohne die helfend hingestreckten Gewehrkolben der Kameraden unfehlbar ertrunken. Ich wählte als Marschrichtungspunkt eine Gruppe von Leuten, die einen Betonblock umstanden. Vor uns bewegte sich eine von vier Sanitätern geschleppte Bahre in derselben Richtung. Durch die Beobachtung, daß ein Verwundeter nach vorn geschleppt wurde, stutzig gemacht, sah ich durchs Glas und erblickte eine Reihe von khakifarbenen Gestalten mit flachen Stahlhelmen. In diesem Augenblick knallten auch schon die ersten Schüsse. Da Deckungnehmen unmöglich war, rannten wir zurück, während die Geschosse rings um uns in den Schlamm spritzten. Die Hetze durch den Morast war wahnsinnig anstrengend; doch als wir, völlig ausgepumpt, uns eine Weile den Engländern als Zielscheibe hinstellten, verlieh uns eine Gruppe Brisanz-Granaten wieder die alte Frische. Sie hatte immerhin das Gute, uns durch ihren Qualm der feindlichen Sicht zu entziehen. Das unangenehmste bei diesem Lauf war das Bewußtsein, durch eine Verwundung unfehlbar zur Moorleiche verwandelt zu werden. Blutige Rinnsale aus einzelnen Trichtern verrieten, daß hier schon mancher verschwunden war.
Zu Tode erschöpft, erreichten wir den Regiments-Gefechtsstand, wo ich meine Skizzen abgab und Bericht über die Lage erstattete.
Am 28. Oktober wurden wir wieder durch das bayerische Reserve-Regiment 10 abgelöst und, zu stetem Eingreifen bereit, in den Dörfern hinter der Front untergebracht. Der Stab zog nach Most.
Am Abend saßen wir schon wieder äußerst vergnügt im Zimmer einer verlassenen Schenke beim Wein und feierten die Beförderung und Verlobung des Leutnants Zürn, der gerade vom Urlaub zurückgekommen war. Zur Strafe für diesen Leichtsinn wurden wir am folgenden Morgen durch ein Riesentrommelfeuer geweckt, das trotz der Entfernung noch meine Fensterscheiben sprengte. Gleich darauf wurde alarmiert. Es ging das Gerücht, daß der Gegner bei der immer noch bestehenden Lücke links der Regimentsstellung eingedrungen wäre. Ich verbrachte den Tag, auf Befehle wartend, beim Beobachtungsstande des A. O. K., dessen Umgebung unter schwachem Streufeuer lag. Eine leichte Granate fuhr durch das Fenster eines Häuschens, aus dem drei ziegelmehlbestäubte verwundete Artilleristen hervorstürzten. Drei andere lagen als Leichen unter den Trümmern.
Am Morgen darauf bekam ich von dem bayerischen Kommandeur folgenden Gefechtsauftrag: „Durch abermaligen Vorstoß des Gegners ist die Stellung des linken Nachbarregiments noch mehr zurückgedrängt und die Lücke zwischen beiden Regimentern sehr vergrößert. Da Gefahr bestand, daß die Stellung des Regiments von links umgangen wurde, trat gestern abend das I. Bataillon des Füsilier-Regiments Nr. 73 zum Gegenstoß an, wurde aber anscheinend vom Sperrfeuer zerfledert und kam nicht an den Feind. Heute morgen wurde das II. Bataillon gegen die Lücke vorgeschickt. Nachricht ist bislang nicht eingetroffen. Es ist die Stellung des I. und II. Bataillons zu erkunden.“
Ich machte mich auf den Weg und begegnete schon beim Nordhof dem Hauptmann von Brixen, Kommandeur des II. Bataillons, der die Aufstellungsskizze bereits in der Tasche hatte. Ich zeichnete sie ab und hatte meinen Auftrag damit eigentlich erledigt, begab mich jedoch noch zum Betonblock des K. T. K. um einen persönlichen Überblick zu gewinnen. Auf dem Wege lag eine Menge frischer Leichen, deren blasse Gesichter aus wassergefüllten Trichtern starrten oder bereits so von Schlamm überzogen waren, daß man die menschliche Gestalt kaum erkennen konnte. Leider leuchtete von den Ärmeln der meisten das blaue Gibraltarband. Kampftruppen-Kommandeur war der bayerische Hauptmann Rademeyer. Dieser äußerst energische Offizier teilte mir ausführlich mit, was mir der Hauptmann von Brixen bereits hastig erzählt hatte. Unser II. Bataillon hatte große Verluste erlitten, u. a. waren der Bataillons-Adjutant und der Führer der braven siebenten Kompagnie gefallen. Das Schicksal des Adjutanten, Leutnants Lemière, war besonders tragisch, da sein Bruder erst im April dieses Jahres bei Fresnoy als Führer der achten Kompagnie den Tod gefunden hatte. Die beiden Brüder waren Liechtensteinsche Staatsangehörige, trotzdem aus Begeisterung für die deutsche Sache in die Armee eingetreten. Es ist nicht gut, zwei Söhne im selben Regiment in den Krieg zu schicken. Wir hatten im Offizierkorps vier Brüderpaare. Von diesen acht jungen Leuten fielen fünf, und zwei, darunter mein Bruder, brachten schwere Schäden mit nach Hause. Ich bin der einzige, der einigermaßen heil herausgekommen ist. Dies kleine Beispiel illustriert die Verluste des Füsilier-Regiments.
Der Hauptmann zeigte auf einen Betonblock 200 Meter vor dem unsrigen, der gestern besonders heldenhaft verteidigt war. Kurz nach dem Angriff sah der Kommandant der kleinen Feste, ein Feldwebel, einen Engländer, der drei Deutsche abtransportierte. Er schoß den Engländer heraus und verstärkte mit den drei Leuten seine Besatzung. Helden schien er dem Vaterlande freilich nicht erhalten zu haben. Als sie ihre Munition verschossen hatten, setzten sie einen gut verbundenen Engländer als friedliches Aushängeschild vor die Tür, konnten sich jedoch nach Einbruch der Dunkelheit noch unbemerkt zurückziehen.
Ein anderer Betonklotz, den ein Leutnant kommandierte, wurde durch einen englischen Offizier zur Ergebung aufgefordert; statt einer Antwort sprang der Deutsche heraus, packte den Engländer und zog ihn vor den Augen seiner verdutzten Leute hinein.
An diesem Tage sah ich das einzige Mal im Kriege kleine Trupps von Krankenträgern mit erhobenen Roten-Kreuzflaggen sich offen in der Zone des Infanteriefeuers bewegen, ohne daß ein Schuß gegen sie fiel. Solche Bilder zeigten sich dem Frontkämpfer in diesem unterirdischen Kriege nur, wenn die Not bis zur Unerträglichkeit gestiegen war. Trotzdem erfuhr ich später, daß verborgene englische Schützen einige unserer Krankenträger niedergeschossen hatten.
Viele Leser werden diese Tat für den Gipfel der Vertierung halten, und doch kann ich mir erklären, daß schwache Naturen dem atavistischen Triebe, zu vernichten, erliegen, der den einödgewohnten Grabenkämpfer packt, wenn drüben Menschen erscheinen. Ich habe ihn selbst nur zu oft empfunden.
Mein Rückweg wurde durch unangenehmes, nach faulen Äpfeln riechendes Reizgas englischer Granaten, das sich im Boden festgesogen hatte und die Augen tränen machte, erschwert. Gleich darauf sollte ich einen schmerzlicheren Grund zum Vergießen von Tränen bekommen. Nachdem ich im Gefechtsstande meine Meldung erstattet hatte, begegnete ich kurz vorm Verbandsplatze Kalve den Bahren zweier befreundeter, schwer verwundeter Offiziere. Der eine war Leutnant Zürn, den wir zwei Abende zuvor in fröhlichem Kreise gefeiert hatten. Jetzt lag er, halb entkleidet, mit jener wachsgelben Gesichtsfarbe, die ein sicheres Vorzeichen des Todes ist, auf einer losgerissenen Tür und sah mich mit stieren Augen an, als ich herantrat, um ihm die Hand zu drücken. Dem anderen, Leutnant Haverkamp, waren Arm- und Beinknochen durch Granatsplitter so zerschmettert, daß eine Amputation sehr wahrscheinlich war. Er lag totenblaß mit in Fatalismus versteinerten Zügen auf seiner Bahre und rauchte eine Zigarette.
Wir hatten in diesen Tagen wieder erschreckende Verluste an jungen Offizieren aufzuweisen. Jedesmal, wenn ich heute das abfällige Urteil der Masse über den Kriegsleutnant höre, muß ich an diese Männer denken, die den alten Preußengeist von Pflicht und Ehre, den Geist von Kolin, hinaustrugen in Blut und Schlamm, aufrecht bis zum bitteren Ende.
Am 3. November wurden wir in dem uns von den ersten Flanderntagen her wohlbekannten Bahnhof Gits verladen. Wir konstatierten, daß die beiden Fläminnen nicht mehr die alte Frische zeigten. Auch sie schienen inzwischen manchen Groß-Kampftag erlebt zu haben.
Wir kamen für einige Tage nach Tourcoing, einer ansehnlichen Schwesterstadt von Lille, in Ruhe. Das erste und letzte Mal im Kriege schlief hier jeder Mann der siebenten Kompagnie in einem Federbett. Ich bewohnte ein prachtvoll eingerichtetes Zimmer im Hause eines Industriebarons in der Rue de Lille. Mit unsäglichem Behagen genoß ich den ersten Abend in einem Klubsessel vorm Feuer des unvermeidlichen Marmorkamins.
Die wenigen Tage wurden von allen benutzt, sich des hart errungenen Daseins zu freuen. Noch konnte man es kaum fassen, daß man dem Tode entronnen war. Man fühlte den Zwang, sich des Lebens zu vergewissern, es in all’ seinen Formen zu genießen.
Die schönen Tage von Tourcoing waren bald vorüber. Wir lagen noch kurze Zeit in Villers-au-tertre, wo wir durch neuen Ersatz aufgefüllt wurden, und fuhren am 15. November 1917 nach Lécluse, dem Aufenthaltsort des jeweiligen Ruhebataillons der uns zugewiesenen Stellung. Lécluse war ein größeres, von Seen umgebenes Dorf des Artois. Die ausgedehnten Schilfflächen bargen Enten und Wasserhühner, die Gewässer wimmelten von Fischen. Obwohl das Fischen streng verboten war, hörte man nachts auf dem Wasser oft rätselhafte Geräusche. Eines Tages bekam ich von der Ortskommandantur auch ein paar Soldbücher von Leuten meiner Kompagnie, die beim Fischen mit Handgranaten erwischt waren, zugestellt. Ich verlor indes kein Wort darüber, da mir die gute Stimmung der Mannschaft bedeutend mehr am Herzen lag als die Schonung der französischen Jagd oder die Mittagsmahlzeiten des Ortsgewaltigen. Seitdem wurde fast jeden Abend von unbekannter Hand ein Riesenhecht auf meinem Tische niedergelegt. Am nächsten Mittag gab ich dann meinen beiden Kompagnie-Offizieren ein Essen mit dem Hauptgange „Hecht à la Lohengrin“ (Nie sollst du mich befragen).
Am 19. besichtigte ich mit meinen Zugführern die Stellung, die wir in den nächsten Tagen besetzen sollten. Sie lag vor dem Dorfe Vis-en-Artois. Wir kamen jedoch nicht so rasch in die Gräben, wie wir gedacht hatten, da fast jede Nacht alarmiert und wir wegen eines vermuteten englischen Angriffes abwechselnd in der Wotanstellung, dem Artillerieschutzriegel oder dem Dorfe Dury bereitgestellt wurden. Erfahrenen Kriegern war klar, daß das nicht lange gut gehen konnte.
Wirklich erfuhren wir am 29. November durch unseren Bataillons-Kommandeur, Hauptmann von Brixen, daß wir an einem groß angelegten Gegenangriff auf den Stellungsbogen teilnehmen sollten, den die Tankschlacht von Cambrai in unsere Front gedrückt hatte. Obwohl wir froh waren, endlich einmal die Rolle des Ambosses mit der des Hammers vertauschen zu können, hegten wir unserer noch von Flandern her ausgepumpten Leute wegen Bedenken. Trotzdem setzte ich festes Vertrauen in den Geist meiner Kompagnie und deren eisernes Rückgrat, die erfahrenen Zugführer und vorzüglichen Unteroffiziere.
In der Nacht vom 30. November zum 1. Dezember wurden wir in Lastautomobile verladen. Dabei erlitt meine Kompagnie die ersten Verluste dadurch, daß ein Mann eine Handgranate fallen ließ, die auf rätselhafte Weise explodierte und ihn nebst einem Kameraden schwer verwundete. Ein anderer versuchte sich wahnsinnig zu stellen, um der Schlacht zu entgehen. Ich wußte nicht, ob ich lachen oder wütend werden sollte. Endlich wurde er durch den kräftigen Rippenstoß eines Unteroffiziers wieder vernünftig und wir konnten endlich einsteigen. Wir fuhren, eng zusammengepökelt, bis dicht vor Baralle, wo wir in einem Straßengraben stundenlang auf Befehle warteten. Ich legte mich trotz der Kälte auf eine Wiese und schlief bis zum Morgengrauen. Wir erfuhren mit einer gewissen Enttäuschung, daß das Regiment 225, dem wir unterstellt waren, auf unsere Mitwirkung beim Sturm verzichtet hatte. Wir sollten währenddessen im Schloßpark von Baralle in Reserve liegen.
Um 9 Uhr setzte unsere Artillerie in wuchtigen Feuerstößen ein, die sich von 11.45 Uhr bis 11.50 Uhr zum Trommelfeuer verdichteten. Der Bourlon-Wald, der wegen seiner starken Befestigungen nicht frontal angegriffen, sondern ausgespart wurde, verschwand unter gelbgrünen Gaswolken. Um 11.50 sahen wir durch unsere Gläser Schützenlinien aus dem leeren Trichterfelde tauchen, während im Hintergelände Batterien anspannten und zum Stellungswechsel vorjagten. Ein deutscher Flieger schoß einen englischen Fesselballon in Brand, dessen Beobachter mit Fallschirm absprang.
Nach dem Genuß dieses Schlachtenpanoramas, das wir von der Höhe des Schloßparkes betrachtet hatten, leerten wir ein Kochgeschirr Nudeln, legten uns trotz der Kälte zu einem Nachmittagsschlaf auf den Boden und bekamen um 3 Uhr den Befehl, bis zum Regiments-Gefechtsstand vorzurücken, der in der Schleusenkammer eines ausgetrockneten Kanalbeckens versteckt war. Wir legten diesen Weg zugweise unter schwachem Streufeuer zurück. Von dort wurde die siebente und achte Kompagnie zum Bereitschaftskommandeur vorgeschickt, um zwei Kompagnien von 225 abzulösen. Die 500 Meter, die im Kanalbett zu überwinden waren, lagen unter dichtem Feuerriegel. Wir rannten ohne Verluste, in einem Klumpen zusammengeballt, zum Ziel. Zahlreiche Tote verrieten, daß hier schon manche Kompagnie blutigen Zoll gezahlt hatte. Reserven lagen dicht an die Böschungen gepreßt und waren beschäftigt, in fieberhafter Hast Deckungslöcher in die ausgemauerten Wände zu schlagen. Da alle Plätze besetzt waren und der Ort als Geländemarke das Feuer auf sich zog, führte ich die Kompagnie in ein Trichterfeld rechts daneben und überließ jedem einzelnen, sich dort einzurichten. Ein Splitter flog klirrend gegen mein Seitengewehr. Ich suchte mir mit dem Leutnant Tebbe, der mit seiner achten Kompagnie unserem Beispiel gefolgt war, einen passenden Trichter aus, den wir mit einer Zeltbahn überspannten. Wir steckten eine Kerze an, aßen zu Abend, rauchten unsere Pfeifen und unterhielten uns fröstelnd. Um 11 Uhr bekam ich Befehl, in die ehemalige vordere Linie einzurücken und mich bei dem K. T. K. zu melden, dem die siebente Kompagnie unterstellt war. Ich ließ sammeln und führte die Leute vor. Es schlugen nur noch vereinzelte, mächtige Granaten ein, von denen eine gleich einem Gruß der Hölle vor uns zerschellte, das ganze Kanalbett mit finsterem Qualm füllend. Die Mannschaft verstummte wie von einer eisigen Faust in den Nacken gepackt und stolperte hastig über Stacheldraht und Steintrümmer hinter mir her. Ein unbeschreiblich unangenehmes Gefühl beschleicht die Nerven beim Durchschreiten einer unbekannten Stellung zur Nachtzeit, auch wenn das Feuer nicht sonderlich stark ist. Auge und Ohr des Kriegers werden durch die sonderbarsten Täuschungen gereizt; er fühlt sich zwischen den drohenden Wänden des Grabens einsam wie ein Kind, das sich in dunkler Heide verirrt hat.
Endlich fanden wir die enge Mündung der vorderen Linie in den Kanal und wanden uns durch menschenüberfüllte Gräben zum Bataillons-Gefechtsstand. Ich trat ein und fand einen Haufen von Offizieren und Ordonnanzen inmitten einer pantagruelschen Atmosphäre vor. Ich erfuhr, daß der Angriff an dieser Stelle nicht viel erreicht hätte und am nächsten Morgen weiter vorgetrieben werden sollte. Die Stimmung im Raum hatte wenig Zuversichtliches. Zwei Bataillonskommandeure begannen eine lange Verhandlung mit ihren Adjutanten. Ab und zu warfen Offiziere der Spezialwaffen einige Brocken von der Höhe ihrer Pritschen, die wie Hühnerkörbe bevölkert waren, in die Debatte. Der Zigarrenqualm wurde erstickend. Burschen versuchten in dem Gedränge für ihre Herren Brote zu schneiden. Ein hereinstürzender Verwundeter rief durch die Meldung eines feindlichen Handgranatenangriffes vorübergehenden Alarm hervor.
Endlich konnte ich meinen Angriffsbefehl niederschreiben. Ich sollte mit der Kompagnie um 6 Uhr morgens den Drachenweg und von dort so weit als möglich die Siegfried-Linie aufrollen. Die beiden Bataillone des Stellungs-Regiments sollten um 7 Uhr rechts von uns angreifen. Diese Zeitdifferenz erweckte in mir sofort einen ganz bestimmten Verdacht. Ich erhob entschiedenen Einspruch gegen den zersplitterten Angriff und erreichte, daß auch wir erst um 7 Uhr antreten sollten. Der nächste Morgen zeigte, daß diese Änderung von großer Bedeutung war. Der kriegserfahrene Führer kann in solchen Fällen seiner Truppe viel unnützes Blut sparen.
Eine aus ihrem Verbande gerissene Kompagnie wird unter fremdem Befehle nicht verwöhnt. Da mir die Lage des Drachenweges äußerst schleierhaft war, bat ich beim Abschied um eine Karte, die aber angeblich nicht entbehrt werden konnte. Ich dachte mir mein Teil und ging.
Nachdem ich mit den schwerbepackten Leuten lange Zeit in der Stellung umhergeirrt war, entdeckte ein Mann an einem kleinen, nach vorn abzweigenden Graben, der durch spanische Reiter gesperrt war, ein Schild mit der halbverwischten Aufschrift „Drachenweg“. Als ich hineinging, hörte ich schon nach wenigen Schritten fremdartiges Stimmengewirr. Ich war äußerst überrascht, den Gegner so nahe, beinahe in der eigenen Stellung zu finden, ohne daß Sicherungsmaßregeln getroffen waren, und sperrte den Graben sofort durch eine Gruppe ab.
Dicht neben dem Drachenweg lag ein riesiges Erdloch, anscheinend eine Tankfalle, in der ich die ganze Kompagnie zusammenzog, um den Gefechtsauftrag zu erklären und die Züge zum Angriff einzuteilen. Meine Ansprache wurde mehrere Male durch leichte Granaten unterbrochen. Einmal sauste sogar ein Blindgänger in die rückwärtige Wand der Grube. Ich stand oben auf dem Rande und sah bei jedem Einschlag eine tiefe, gleichmäßige Verneigung der mondbeglänzten Stahlhelme unter mir.
Aus Sorge vor einem großen Unglückstreffer schickte ich den ersten und zweiten Zug in die Stellung zurück und blieb mit dem dritten in der Grube. Mannschaften einer Abteilung, die am vorigen Mittag im Drachenweg abgeschmiert war, machten meine Leute kopfscheu, indem sie erzählten, daß nach 50 Metern ein englisches Maschinengewehr den Graben als unüberwindliches Hindernis sperrte. Ich kam daraufhin mit den Zugführern überein, beim ersten Widerstand rechts und links auf Deckung zu springen und konzentrisch mit Handgranaten anzugreifen. Inmitten des fremden Verbandes galt es besonders, die Waffenehre des Regiments hochzuhalten. Die endlos langen Stunden verbrachte ich, eng an den Leutnant Hopf gekauert, in einem Erdloch. Um 6 Uhr erhob ich mich und traf in der eigentümlichen Stimmung, die jedem Angriff vorausgeht, die letzten Anordnungen. Man hat ein seltsames, flaues Gefühl im Magen, redet mit den Gruppenführern, versucht Scherze zu machen, läuft hin und her wie vor einer Parade vor dem kommandierenden General; kurz, man sucht sich möglichst zu beschäftigen, um den bohrenden Gedanken zu entgehen. Ein Mann bot mir eine auf Hartspiritus erwärmte Tasse Kaffee an, die Wärme und Zuversicht ins Mark zauberte.
Punkt 7 Uhr traten wir in der bestimmten Reihenfolge in langer Schlange an. Wir fanden den Drachenweg unbesetzt; eine Reihe leerer Trommeln hinter einer Barrikade verriet, daß das MG. zurückgenommen sein mußte. Unser Angriffsgeist wurde dadurch entfacht. Wir betraten einen kleinen Hohlweg, nachdem ich einen rechts abzweigenden, gut ausgebauten Graben durch ein paar Mann abgeriegelt hatte. Der Hohlweg wurde immer flacher, und zuletzt fanden wir uns im grauenden Morgen auf freiem Felde. Wir machten kehrt und betraten den rechten Graben, der gestopft voll Kriegsgerät und englischer Toter lag. Es war die Siegfried-Stellung. Plötzlich riß der Führer der Stoßgruppen, Leutnant Hoppenrath, einem Manne das Gewehr aus der Hand und schoß. Er war auf einen englischen Posten gestoßen, der nach einigen Handgranatenwürfen die Flucht ergriff. Es ging weiter, bis gleich darauf von neuem Widerstand geleistet wurde. Handgranaten flogen von beiden Seiten und barsten mit vielfachem Krachen. Die Stoßtrupp-Technik trat in Funktion. Wurfgeschosse wanderten von Mann zu Mann durch die Kette der Hände; Scharfschützen nisteten sich hinter Schulterwehren ein, um die feindlichen Werfer aufs Korn zu nehmen, die Zugführer spähten über Deckung, um einen Gegenstoß rechtzeitig zu erkennen und die Bedienungen der leichten MG. bauten ihre Waffen an schußfeldbietenden Stellen auf.
Nach kurzem Kampfe erschollen drüben aufgeregte Stimmen, und ehe wir recht begriffen, was geschehen, kamen uns die ersten Engländer mit hochgereckten Händen entgegen. Einer nach dem anderen bog um die Schulterwehr und schnallte ab, während unsere Gewehre und Pistolen drohend auf ihn gerichtet waren. Es waren lauter junge, stramme Kerle in neuen Uniformen. Ich ließ sie mit der Aufforderung: „Hands down!“ passieren und beauftragte eine Gruppe mit dem Abtransport. Die Meisten zeigten durch ihr zuversichtliches Lächeln, daß sie uns nichts Unmenschliches zutrauten. Andere suchten mit vorgehaltenen Zigarettenschachteln und Schokoladentafeln uns zur Milde zu stimmen. Mit der gesteigerten Freude eines Weidmannes sah ich, daß wir einen gewaltigen Fang gemacht hatten; der Zug wollte gar kein Ende nehmen. Schon hatten wir 150 Mann gezählt, und immer noch erschienen neue mit erhobenen Armen. Ich hielt einen Offizier an und fragte ihn nach dem weiteren Verlauf und der Besetzung der Stellung. Er antwortete sehr höflich, beeinträchtigte indes den guten Eindruck, den er auf mich machte, dadurch, daß er stramm stand. Er geleitete mich dann zu dem Führer der Kompagnie, einem verwundeten Captain, der sich in einem nahen Stollen aufhielt. Ich fand einen jungen Mann von ungefähr 26 Jahren mit feingeschnittenem Gesicht, der mit durchschossener Wade an dem Stollenrahmen lehnte. Als ich mich vorstellte, hob er seine Hand, von der eine goldene Kette blitzte, an die Mütze, nannte seinen Namen und übergab mir seine Pistole. Seine ersten Worte zeigten, daß ich einen Mann vor mir hatte. „We were surroundet about.“ Es drängte ihn, seinem Gegner zu erklären, warum sich seine Kompagnie so rasch ergeben hätte. Wir unterhielten uns in französischer Sprache über verschiedenes. Er erzählte mir, daß eine Reihe deutscher Verwundeter, die von seinen Leuten verbunden und verpflegt wären, in einem nahen Unterstande lägen. Als ich mich erkundigte, wie stark die Siegfriedstellung weiter hinten besetzt wäre, verweigerte er die Auskunft. Nachdem ich versprochen hatte, ihn und die anderen Verwundeten zurückschaffen zu lassen, verabschiedeten wir uns durch einen Händedruck.
Vorm Stollen standen meine Leute und meldeten, daß wir an 200 Gefangene gemacht hätten. Für eine Kompagnie von 80 Köpfen eine schöne Leistung. Nachdem ich Postierungen ausgestellt hatte, sahen wir uns in dem eroberten Graben um, der von Waffen und Ausrüstungsstücken starrte. Auf den Postenständen lagen MG., Minenwerfer, Hand- und Gewehrgranaten, Feldflaschen, Pelzwesten, Gummimäntel, Zeltbahnen, Dosen voll Fleisch, Marmelade, Tee, Kaffee, Kakao und Tabak, Kognak-Flaschen, Handwerkszeug, Pistolen, Leuchtpistolen, Wäsche, Handschuhe, kurz alles, was man sich nur denken konnte. Ich legte eine kleine Pause ein, um den Leuten Zeit zu geben, sich auszuruhen und die guten Sachen etwas näher zu untersuchen. Auch ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, mir von meinem Burschen in einem Stolleneingang ein kleines Frühstück zusammenstellen zu lassen und eine Pfeife des langentbehrten navy cut zu entzünden, während ich meinen Bericht an den Kampftruppen-Kommandeur kritzelte. Als vorsichtiger Mann schickte ich ein Duplikat an unseren Bataillons-Kommandeur.
Nach einer halben Stunde traten wir in gehobener Stimmung (ich will nicht ableugnen, daß die englischen Kognakflaschen ein wenig dazu beigetragen haben mochten) wieder an und pirschten uns von Schulterwehr zu Schulterwehr die Siegfriedstellung entlang.
Aus einem in dem Graben eingebauten Blockhaus erhielten wir Feuer und stiegen, um uns zu orientieren, auf den nächsten Postenstand. Während wir mit den Insassen einige Kugeln wechselten, wurde ein Mann wie durch eine unsichtbare Faust zu Boden gestoßen. Ein Geschoß hatte den Scheitel seines Stahlhelms durchbohrt und eine lange Rille in die Schädeldecke gerissen. Das Gehirn hob und senkte sich in der Wunde unter jedem Schlage des Blutes, trotzdem konnte er noch allein zurückgehen.
Ich rief Freiwillige auf, um den Widerstand durch einen Angriff über freies Feld zu brechen. Die Leute sahen sich zögernd an; nur ein unbeholfener Pole, den ich immer für blödsinnig gehalten hatte, kletterte aus dem Graben und stapfte schwerfällig auf das Blockhaus los. Nun sprang auch der Fähnrich Neupert mit seiner Gruppe auf Deckung, während wir gleichzeitig im Graben vorgingen. Die Engländer gaben einige Schüsse ab und rissen aus, das Blockhaus uns überlassend. Einer der Leute des Fähnrichs war mitten im Anlauf tot zusammengebrochen und lag wenige Schritte vorm Ziel mit dem Gesicht auf dem Boden.
Beim weiteren Vorgehen stießen wir auf die erbitterte Gegenwehr unsichtbarer Handgranatenwerfer und wurden im Verlaufe eines längeren Gemetzels wieder bis zum Blockhaus zurückgedrängt. Dort verbarrikadierten wir uns. Sowohl wir als die Engländer ließen in dem umkämpften Grabenstück eine Anzahl von Leichen zurück. Leider befand sich darunter auch der Unteroffizier Mevius, den ich in der Nacht von Regniéville als tollkühnen Kämpfer schätzen gelernt hatte. Er lag mit dem Gesicht in einer großen Blutlache. Als ich ihn umdrehte, sah ich an einem großen Loch in der Stirn, daß hier keine Hilfe mehr not tat.
Nachdem sich auch der Gegner etwas zurückgezogen hatte, begann ein hartnäckiges Feuergefecht, währenddessen ein 50 Meter von uns postiertes Lewis-Gewehr unsere Köpfe niederzwang. Ein leichtes Maschinengewehr von uns nahm das Duell auf. Eine halbe Minute lang knatterten die beiden Mordwaffen, von Geschossen umspritzt, gegen einander los. Dann brach unser Richtschütze, der Gefreite Motullo, mit einem Kopfschuß zusammen. Obwohl ihm das Gehirn bis zum Kinn über das Gesicht lief, war er noch bei klarem Verstande, als wir ihn in den nächsten Stollen trugen. Allmählich wurde es etwas ruhiger, da auch die Engländer an einer Barrikade arbeiteten. Um 12 Uhr erschienen Hauptmann von Brixen, Leutnant Tebbe und Leutnant Vogt und beglückwünschten mich zu den Erfolgen der Kompagnie. Wir setzten uns in das Blockhaus, frühstückten von den englischen Vorräten und besprachen die Lage. Zwischendurch unterhandelte ich schreiend mit ungefähr 25 Engländern, deren Köpfe 100 Meter vor uns aus dem Graben tauchten, und die sich anscheinend ergeben wollten. Sowie ich mich aber über Deckung erhob, wurde ich von weiter hinten beschossen.
Plötzlich entstand bei der Barrikade Bewegung. Handgranaten flogen. Gewehre knallten, MG. ratterten. „Sie kommen! Sie kommen!“ Wir sprangen hinter die Sandsäcke und schossen. Einer meiner Leute, der Gefreite Kimpenhaus, sprang in der Hitze des Kampfes oben auf die Barrikade und schoß so lange in den Graben, bis ihn zwei schwere Armschüsse herunterfegten. Ich merkte mir diesen Helden des Augenblicks und hatte die Freude, ihm 14 Tage später zum E. K. I gratulieren zu können.
Kaum waren wir von diesem kleinen Intermezzo zum Frühstück zurückgekehrt, als von neuem ein Heidenlärm losbrach. Es trat einer jener merkwürdigen Zwischenfälle ein, an denen die Kriegsgeschichte im großen und kleinen so reich ist. Das Geschrei rührte von einem Offizier-Stellvertreter des linken Nachbar-Regiments, der mit uns Verbindung aufnehmen wollte und von gewaltiger Rauflust beseelt war. Alkoholgenuß schien seine angeborene Tapferkeit zur Raserei entfacht zu haben. „Wo ist der Tommy? Ran an die Hunde! Los, wer kommt mit?“ In seiner Wut riß er unsere schöne Barrikade ein und stürzte vor, sich den Weg mit krachenden Handgranaten bahnend. Vor ihm glitt seine Ordonnanz durch den Graben und erledigte mit Gewehrschüssen die dem Sprengstoff Entronnenen.
Mut, tollkühner Einsatz der eigenen Person wirken immer begeisternd. Auch wir wurden vom Draufgängertum gepackt und beeilten uns, einige Handgranaten aufraffend, an dem improvisierten Sturm teilzunehmen. Bald befand ich mich neben dem Offizier-Stellvertreter, und auch die anderen Offiziere, gefolgt von Leuten meiner Kompagnie, ließen sich nicht lange bitten. Selbst der Bataillons-Kommandeur, Hauptmann von Brixen, befand sich mit einem Gewehre in der Hand unter den Vordersten und streckte über unsere Köpfe hinweg mehrere feindliche Werfer nieder.
Die Engländer wehrten sich wacker. Es wurde um jede Schulterwehr gerungen. Die schwarzen Bälle der Mill-Handgranaten kreuzten sich in der Luft mit unseren Gestielten. Hinter jeder genommenen Schulterwehr fanden wir Leichen oder noch zuckende Körper. Man tötete sich, ohne sich zu sehen. Auch wir hatten Verluste. Neben der Ordonnanz fiel ein Stück Eisen zu Boden, dem der Mann nicht mehr ausweichen konnte; er brach zusammen, während sein Blut aus vielen Wunden auf den Lehm sickerte.
Über seinen Körper hinweg sprangen wir weiter. Donnerkrachen zeichnete unseren Weg. Hunderte von Augen lauerten in dem toten Gelände hinter Gewehr und Maschinengewehr auf Ziel. Wir waren schon weit vor den eigenen Linien. Von allen Seiten pfiffen uns Geschosse um die Stahlhelme oder zerschellten mit hartem Knall am Grabenrand.
Ein rechts abzweigender Graben wurde von uns folgenden Leuten des Regiments 225 ausgeräumt. In die Zwickmühle geratene Engländer versuchten, über freies Feld zu entkommen und wurden niedergeschossen wie bei einer Treibjagd.
Dann kam der Höhepunkt; der atemlose Gegner, dem wir hart auf den Fersen geblieben waren, machte Anstalten, durch einen rechts abbiegenden Verbindungsgraben zu entweichen. Ich sprang auf einen Postenauftritt und sah, daß dieser Graben eine ganze Strecke lang dem unsrigen in einer Entfernung von 20 m parallel lief. Der Feind mußte also noch einmal an uns vorbei. Wir konnten von unserem erhöhten Standpunkt den Engländern, die vor Eile und Aufregung stolperten, direkt auf die Stahlhelme sehen. Ich schleuderte den Vordersten eine Handgranate vor die Füße, so daß sie stutzend stehen blieben, und die ihnen Folgenden eingekeilt wurden. Nun entstand eine unbeschreibliche Vernichtung; Handgranaten flogen wie Schneebälle durch die Luft, alles in weißlichen Qualm hüllend. Zwei Leute reichten mir ununterbrochen fertige Wurfgeschosse zu. Zwischen den zusammengeballten Engländern zuckten Blitze auf, Fetzen und Stahlhelme hochschleudernd. Wut- und Angstgebrüll mischte sich. Feuer vor den Augen, sprangen wir schreiend auf den Grabenrand.
Mitten in diesem Taumel wurde ich durch einen furchtbaren Schlag zu Boden geworfen. Ernüchtert riß ich meinen Stahlhelm herunter und erblickte zu meinem Schrecken zwei große Löcher darin. Der Fahnenjunker-Unteroffizier Mohrmann, der mir beisprang, beruhigte mich durch die Versicherung, daß an meinem Hinterkopfe nur ein blutender Riß zu sehen wäre. Das Geschoß eines weiter entfernten Schützen hatte meinen Stahlhelm durchschlagen und den Kopf gestreift. Halb betäubt, wankte ich mit verbundenem Kopfe zurück, um mich aus diesem Brennpunkte des Kampfes zu entfernen. Kaum hatte ich die nächste Schulterwehr passiert, als ein Mann hinter mir herstürzte und hervorstieß, daß Leutnant Tebbe an derselben Stelle soeben durch Kopfschuß gefallen wäre.
Diese Nachricht gab mir den Rest. Ich sträubte mich, die Tatsache zu fassen, daß ein Freund, mit dem ich jahrelang Freud, Leid und Gefahr geteilt, und der mir vor wenigen Minuten noch ein Scherzwort zugerufen hatte, durch ein sinnloses Stück Blei sein Ende gefunden haben sollte. Es war leider nur zu wahr.
Gleichzeitig verbluteten in diesem mörderischen Grabenstückchen sämtliche hervorragenden Unteroffiziere und ein Drittel meiner Kompagnie. Auch der Leutnant Hopf fiel, ein bereits älterer Mann, Lehrer von Beruf, deutscher Ideal-Schulmeister im besten Sinne des Wortes. Meine beiden Fähnriche und viele andere wurden verwundet. Trotzdem hielt die siebente Kompagnie die glorreich eroberte Stellung unter Führung des Leutnants Hoppenrath, des letzten Kompagnieoffizieres, bis zur Ablösung.
Auch das moderne Gefecht hat seine großen Augenblicke. Man hört so oft die irrige Ansicht, daß der Infanteriekampf zu einer uninteressanten Massenschlächterei herabgesunken ist. Im Gegenteil, heute mehr denn je entscheidet der einzelne. Das weiß jeder, der sie in ihrem Reich gesehen hat, die Fürsten des Grabens mit den harten, entschlossenen Gesichtern, tollkühn, so sehnig, geschmeidig vor- und zurückspringend, mit scharfen, blutdürstigen Augen, Helden, die kein Bericht nennt. Der Grabenkampf ist der blutigste, wildeste, brutalste von allen, doch auch er hat seine Männer gehabt, Männer, die ihrer Stunde gewachsen waren, unbekannte, verwegene Kämpfer. Unter allen nervenerregenden Momenten des Krieges ist keiner so stark, wie die Begegnung zweier Stoßtruppführer zwischen den engen Lehmwänden des Grabens. Da gibt es kein Zurück und kein Erbarmen. Blut klingt aus dem schrillen Erkennungsschrei, der sich wie Alpdruck von der Brust ringt.
Auf dem Rückweg blieb ich neben dem Hauptmann von Brixen stehen, der, mit einigen Leuten einen Feuerkampf gegen eine Reihe von Köpfen führte, die aus einem nahen Parallelgraben ragten. Ich stellte mich zwischen ihn und einen anderen Schützen und beobachtete die Geschoßeinschläge.
Plötzlich warf mich wieder ein Prall vor die Stirne auf die Grabensohle, während meine Augen durch herabströmendes Blut geblendet wurden. Der Mann neben mir stürzte zu gleicher Zeit und begann zu jammern. Kopfsteckschuß durch Stahlhelm und Schläfe. Der Hauptmann fürchtete, seinen zweiten Kompagnieführer an diesem Tage verloren zu haben, stellte indes bei näherem Hinsehen nur zwei oberflächliche Löcher an der Haargrenze fest; wahrscheinlich durch das zerschellende Geschoß oder Stahlhelmsplitter des Verwundeten verursacht.
Durch den erneuten Blutverlust geschwächt, schloß ich mich dem Hauptmann an, der zu seiner Befehlsstelle zurückging. Den hart beschossenen Dorfrand von Moeuvres im Laufschritt überwindend, gewannen wir den Unterstand im Kanalbett, wo ich Verband und Tetanusspritze erhielt. — Am Nachmittag setzte ich mich in ein Lastauto und fuhr nach Lécluse, wo ich dem begeisterten Oberst von Oppen beim Abendessen Bericht erstattete. Nachdem ich halb im Schlaf, aber in vorzüglicher Stimmung, eine Flasche Wein geleert hatte, verabschiedete ich mich und warf mich nach diesem gewaltigen Tage mit einem Feierabendgefühl in das Bett, das mir mein treuer, freudestrahlender Vinke bereitet hatte. Am übernächsten Tage rückte das Bataillon in Lécluse ein. Am 4. Dezember hielt der Divisions-Kommandeur, Generalmajor von Busse, eine Ansprache an die beteiligten Bataillone, in der die Verdienste der siebenten Kompagnie besonders hervorgehoben wurden.
Ich konnte mit Recht stolz auf meine Leute sein. Kaum 80 Mann hatten ein langes Grabenstück erobert; eine Menge Maschinengewehre, Minenwerfer und Material erbeutet und 200 Gefangene gemacht. Leider hatten wir auch eine Verlustziffer von 50 Prozent, darunter besonders viele Chargen. Ich hatte die Freude, eine lange Reihe von Beförderungen und Auszeichnungen verkünden zu können. Verdientermaßen erhielten der Leutnant Hoppenrath, Führer der Stoßtruppen, Fähnrich Neupert, der Blockhausstürmer und last not least, der kühne Barrikadenverteidiger Kimpenhaus das E. K. I. Ich bekam als Pflaster auf meine fünfte Verwundung einen vierzehntägigen Weihnachtssurlaub, währenddessen mir das Ritterkreuz des Hausordens von Hohenzollern mit Schwertern ins Haus geschickt wurde. Ich habe mir im Verlaufe des Krieges über Orden eine eigentümliche Anschauung erworben, indes gestehe ich, daß ich mir das goldgerandete Emaillekreuz mit Stolz an die Brust heftete. Dieses Kreuz, mein durchschossener Stahlhelm und ein silberner Pokal mit der Inschrift „Dem Sieger von Moeuvres“, den mir die drei anderen Kompagnieführer des Bataillons schenkten, sind meine Erinnerungszeichen an den Tag von Cambrai.
Nach wenigen Tagen der Ruhe lösten wir am 9. Dezember 1917 die zehnte Kompagnie in vorderer Linie ab. Die Stellung lag, wie ich schon berichtete, vor dem Dorfe Vis-en-Artois. Mein Kompagnieabschnitt wurde rechts durch die Straße Arras—Cambrai, links durch das versumpfte Bett des Cojeul-Baches begrenzt, über das wir die Verbindung mit der Nebenkompagnie durch nächtliche Patrouillen aufrechterhielten. Die feindliche Stellung wurde durch eine zwischen den vorderen Gräben liegende Erhebung der Sicht entzogen. Außer ein paar Patrouillen, die sich nachts an unserem Draht zu schaffen machten, und dem Surren eines in der nahen Hubertus-Ferme aufgestellten Lichtmotors nahmen wir nichts von der feindlichen Infanterie wahr.
Mein Unterstand war in die steile Wand einer hinter der Stellung gähnenden Kiesgrube getrieben, die fast jeden Tag stark beschossen wurde. Dahinter ragte in grotesker Wüstheit das Eisengerüst einer zerstörten Zuckerfabrik.
Die Kiesgrube war ein unheimlicher Aufenthaltsort. Zwischen den mit verbrauchtem Kriegsmaterial gefüllten Trichtern steckten die windschiefen Kreuze verfallener Gräber. Nachts konnte man nicht die Hand vor Augen sehen und mußte von dem Erlöschen der einen Leuchtkugel auf das Hochsteigen der anderen warten, um nicht vom sicheren Pfade der Laufrosten in den Schlamm des Cojeul-Grundes zu geraten.
Die Tage verbrachte ich, wenn ich nicht bei dem im Bau befindlichen Postengraben zu tun hatte, in dem eisigkalten Stollen, las ein Buch und trommelte mit den Füßen zur Erwärmung gegen die Stollenrahmen. Demselben Zweck diente auch die in einer Nische des Kalkfelsens verborgene Flasche, der von meinen Ordonnanzen und mir stark zugesprochen wurde.
Hätten wir indes aus der Kiesgrube den Dampf eines Feuerchens zum trüben Dezemberhimmel emporsteigen lassen, so wäre der Platz gänzlich unbewohnbar geworden, da der Feind bislang die Zuckerfabrik für den Sitz der Befehlsstelle zu halten schien und demgemäß bedachte. So kam erst zur Stunde der Dämmerung Leben in unsere erstarrten Glieder. Der kleine Ofen wurde in Brand gesetzt und verbreitete neben dichtem Qualm auch eine behagliche Wärme. Bald klapperten auf der Stollentreppe die Kochgeschirre der aus Vis zurückkehrenden Essenholer, die bereits sehnsüchtig erwartet wurden. Wenn dann die ewige Folge von Steckrüben, Graupen und Dörrgemüse durch Bohnen oder Nudeln unterbrochen wurde, ließ die Stimmung nichts mehr zu wünschen übrig. Ich freute mich manchmal, an meinem kleinen Tische sitzend, über die urwüchsige Unterhaltung der Leute, die, in Tabakswolken gehüllt, um den Ofen hockten, von dem ein Kochgeschirr voll Grog kräftige Gerüche ausströmte. Krieg und Frieden, Kampf und Heimat, Ruheort und Urlaub wurden in trockener niedersächsischer Art besprochen, auch die Erotik spielte eine Hauptrolle.
Am 17. Dezember trat ich meinen Urlaub an, von dem ich am 2. Januar zurückkehrte.
Am 19. Januar wurden wir um 4 Uhr morgens abgelöst und marschierten durch dichtes Schneegestöber nach Gouy, wo wir längere Zeit bleiben sollten, um uns für die Aufgaben der großen Offensive zu schulen. Die wunderbar klaren Ausbildungsbefehle Ludendorffs, die bis zu den Kompagnieführern verteilt wurden, stellten den Angriff für die nächste Zeit in Aussicht.
Wir übten die fast vergessenen Formen des Schützengefechts und Bewegungskrieges, auch wurde eifrig mit Gewehr und Maschinengewehr geschossen. Da alle Dörfer hinter der Front bis zur letzten Dachkammer belegt waren, wurde jede Böschung als Scheibenstand benutzt, so daß die Geschosse manchmal wie bei einem Gefecht über das Gelände flirrten. Ein Richtschütze meiner Kompagnie schoß mit seinem leichten Maschinengewehr den Kommandeur eines fremden Regiments mitten in einer Kritik aus dem Sattel. Zum Glück war die Verwundung eine leichte und unsere Täterschaft nicht klar erweislich.
Einige Male unternahm ich mit der Kompagnie Übungsangriffe mit scharfen Handgranaten auf verwickelte Grabensysteme, um die Erfahrungen der Cambraischlacht auszuwerten. Auch dabei gab es Verwundete. Wo Holz gehauen wird, fallen Späne.
Am 24. Januar verabschiedete sich unser von allen verehrter Oberst v. Oppen, um im fernen Südosten eine Brigade zu übernehmen. Das Scheiden dieses hervorragenden, während der langen Jahre des Krieges fest mit seiner Truppe verwachsenen Führers war dem ganzen Regiment ein schmerzlicher Verlust. Neben einer warmen Teilnahme am Geschick seiner Untergebenen besaß er die bei im eintönigen Friedensdienst alt gewordenen Offizieren nicht häufige Eigenschaft, sich den gewaltigen Neuerungen des Krieges mit Leichtigkeit anpassen zu können. Ein solcher Mann kann im Kriege Unermeßliches leisten. Leider gingen seine Abschiedsworte: „Auf Wiedersehen in Hannover!“ nicht in Erfüllung. Unser lieber Oberst hat weder die Heimat noch sein stolzes Regiment wiedergesehen. Er ruht in fremder Erde, fern von der Heimat, von tückischer Seuche dahingerafft.
Am 6. Februar siedelten wir wieder nach Lécluse über und wurden am 22. für vier Tage im Trichterfelde links der Straße Dury—Hendecourt untergebracht, um nachts in vorderer Linie zu schanzen. Bei der Besichtigung der Stellung, die dem Trümmerhaufen des ehemaligen Dorfes Bullecourt gegenüberlag, wurde mir klar, daß ein Teil des gewaltigen Angriffs, von dem an der ganzen Westfront erwartungsvoll geraunt wurde, an dieser Stelle stattfinden mußte.
Überall wurde mit fieberhafter Hast gebaut, Stollen getrieben und neue Wege angelegt. Das Trichterfeld wimmelte von mitten im Gelände stehenden Schildchen, auf denen unverständliche Ziffern standen, die anscheinend die Plätze für Batterien und Befehlsstellen bezeichneten. Dauernd flogen unsere Flugzeuge Sperre, um den feindlichen den Einblick zu verwehren. Eine interessante Neuerscheinung an der Front war, daß jeden Mittag punkt 12 Uhr von den Fesselballons ein schwarzer Ball heruntergelassen wurde, der um 12.10 Uhr verschwand. Es geschah dies, um die Truppe mit genauer Uhrzeit zu versorgen.
Gegen Ende des Monats marschierten wir wieder nach Gouy in unsere alten Quartiere. Nach mehreren Übungen im Bataillons- und Regimentsverbande exerzierten wir zweimal an einer großen tracierten Stellung einen Durchbruch der ganzen Division. Anschließend hielt der Divisionskommandeur eine Ansprache an seine Offiziere, bei der jedem klar wurde, daß der Sturm in den nächsten Tagen losbrechen sollte. Der eherne Geist des Angriffs, der Geist der preußischen Infanterie, schwebte über den Massen, die sich hier auf nordfranzösischem Felde beim Frühlingserwachen zur Kampfprobe versammelt hatten.
Wenn das Ziel nicht erreicht wurde, das die Führung sich gesteckt hatte, so war es nicht die Schuld der Offiziere und der Leute, die nach 44 Monaten schwerster Kämpfe sich dem Feinde mit einer Begeisterung entgegenwarfen, wie je im August 1914. Fürwahr, es mußte sich die ganze Welt in die Bresche stemmen, um solcher Sturmflut standzuhalten. Wenn sich im Laufe der Jahre einst die Wogen des Hasses geglättet haben, wird die Geschichte anerkennen, daß wir gekämpft haben wie nie ein Volk zuvor.
Mit Vergnügen erinnere ich mich auch jener Abendstunden, wo wir am runden Tisch zusammensaßen und uns mit heißen Köpfen über den bevorstehenden frisch-fröhlichen Bewegungskrieg unterhielten. Ging auch in der Begeisterung der letzte Taler für Wein drauf, was brauchten wir noch Geld jenseits der feindlichen Linien oder gar im besseren Jenseits?
Wer weiß, ob nicht die Welt
Morgen in Schutt zerfällt,
Wenn sie nur heut noch hält,
Heute ist heut!
Nur durch die Vorstellung, daß die Etappe doch auch leben wollte, konnte uns der Hauptmann v. Brixen am letzten Abend davon abhalten, Gläser, Flaschen und Porzellan gegen die Wände zu feuern. Auch die Leute waren gut in Form. Hörte man sie in ihrer trockenen niedersächsischen Weise von dem bevorstehenden „Hindenburg-Flachrennen“ reden, so wußte man, daß sie anpacken würden wie immer, zäh, zuverlässig und ohne unnötiges Geschrei. Wie hätte man hinten sein können, wenn sie ins Gefecht gingen, diese stillen Söhne alter, eichenumrauschter Höfe? Viel schimmernde Ideale, die über unseren Zielen hingen, hat mir der Krieg zerschlagen, eins blieb für immer: diese unerschütterliche Treue.
Am 17. März marschierten wir nach Dunkelwerden von den uns bereits liebgewordenen Quartieren nach Brunemont. Alle Straßen waren überfüllt von rastlos sich vorwälzenden Marschkolonnen, unzähligen Geschützen und endlosen Trains. Trotzdem herrschte genaue Ordnung nach einem von Generalstabsoffizieren ausgearbeiteten Mobilmachungsplan. Wehe der Truppe, die nicht peinlich Weg- und Marschzeit innehielt; sie wurde rücksichtslos in den Straßengraben gedrängt und mußte stundenlang warten, ehe sie sich in eine Lücke zwängen konnte. Einmal gerieten wir doch ins Gedränge, wobei sich das Reitpferd des Hauptmanns v. Brixen auf eine beschlagene Wagendeichsel spießte und verendete.
Das Bataillon wurde im Schloß von Brunemont untergebracht. Wir erfuhren, daß wir in der Nacht vom 19. zum 20. März 1918 nach vorn marschieren sollten, um in der Nähe von Cagnicourt in Stollen des Trichterfeldes bereitgestellt zu werden, und daß der große Angriff am Morgen des 21. beginnen sollte. Das Regiment hatte den Auftrag, zwischen den uns von 1915/16 her wohlbekannten Dörfern Ecoust-St. Mein und Noreuil durchzustoßen und womöglich am ersten Tage Mory zu erreichen.
Ich schickte den Leutnant Schmidt, den wir seines netten Wesen wegen gar nicht anders nennen konnten als „Schmidtchen“, voraus, um die Unterkunft der Kompagnie zu sichern.
Zur bestimmten Stunde marschierte das Bataillon aus Brunemont ab. Trotz strömenden Regens war die Stimmung gut. Einen Betrunkenen, der gröhlend zwischen den Gliedern meiner Kompagnie taumelte, übersah ich. Jetzt mußte jedes scharfe Wort schaden. Die Ausbildung war vorüber, nun kam die Sache selbst. Man mußte jedes Rädchen laufen lassen.
Von einer Straßenkreuzung, an der uns unsere Führerkommandos erwarteten, marschierten die Kompagnien selbständig nach vorn. Als wir in der Höhe der zweiten Linie waren, in der wir untergebracht werden sollten, stellte sich heraus, daß sich unsere Führer verlaufen hatten. Es begann ein Umherirren in dem schwach beleuchteten, aufgeweichten Trichtergelände und ein Fragen bei unzähligen, ebensowenig orientierten Trupps. Um meine Leute nicht völlig zu erschöpfen, ließ ich halten und schickte die Führer in verschiedenen Richtungen aus.
Die Gruppen setzten die Gewehre zusammen und drängten sich in einen gewaltigen Trichter, während ich mit dem Leutnant Sprenger auf dem Rande eines kleineren saß. Schon seit einiger Zeit waren ungefähr 100 Meter vor uns einzelne Einschläge aufgeflammt. Ein neues Projektil schlug in geringerer Entfernung ein; Splitter klatschten in die Lehmwände des Trichters. Ein Mann schrie auf und behauptete, am Fuße getroffen zu sein. Ich rief den Leuten zu, sich in die umliegenden Löcher zu verteilen, während ich mit den Händen den schlammigen Stiefel des Getroffenen nach einem Einschuß untersuchte.
Da pfiff es wieder hoch in der Luft; jeder hatte das zusammenschnürende Gefühl: die kommt hierher! Dann schmetterte ein betäubender, ungeheurer Krach; — die Granate war mitten zwischen uns geschlagen. . . .
Halb ohnmächtig richtete ich mich auf. Aus dem großen Trichter strahlte unsere in Brand gesetzte Maschinengewehrmunition ein intensives rosa Licht. Es beleuchtete den schwelenden Qualm des Einschlages, in dem sich schwarze Körper wälzten und die Schatten der nach allen Seiten auseinanderstiebenden Überlebenden. Gleichzeitig ertönte ein vielfaches, grauenhaftes Gebrüll und Hilfegeschrei.
Ich will nicht verheimlichen, daß ich zunächst, wie alle anderen, nach einem Augenblick starren Entsetzens aufsprang und planlos in die Nacht rannte. Erst in einem kleinen Granatloch, in das ich kopfüber gestürzt war, wurde mir der Vorgang klar. Nichts mehr hören und sehen! Fort, weit weg, verkriechen! Und doch meldete sich sofort die andere Stimme: „Mensch, du bist doch der Kompagnieführer!“ Genau so. Ich sage es nicht, um mich zu rühmen; ich möchte eher sagen: wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand dazu. Ich habe an mir und anderen oft erfahren, daß das Verantwortlichkeitsgefühl des Führers die persönliche Angst übertäubte. Man hatte einen Halt, etwas, an das man denken mußte. Ich zwang mich also an den schrecklichen Ort zurück; unterwegs stieß ich auf den Füsilier Haller, der während meiner November-Patrouille das Maschinengewehr erbeutet hatte, und nahm ihn mit.
Die Verwundeten stießen noch immer ihre furchtbaren Schreie aus. Einige kamen auf mich zugekrochen und winselten, meine Stimme erkennend: „Herr Leutnant! Herr Leutnant!“ Einer meiner liebsten Rekruten, dem ein Splitter den Schenkel zerknickt hatte, klammerte sich an meinen Beinen fest. Meinem Unvermögen zu helfen, fluchend, klopfte ich ihm ratlos auf die Schulter. Solche Augenblicke vergißt man nie.
Ich mußte die Unglücklichen dem einzig überlebenden Krankenträger überlassen, um das Häuflein Getreuer, das sich um mich gesammelt hatte, aus dem gefährdeten Bereich zu führen. Vor einer halben Stunde noch an der Spitze einer kriegsstarken, ausgezeichneten Kompagnie, irrte ich nun mit wenigen, seelisch vollkommen deprimierten Leuten durch das Grabengewirre. Ein blutjunges Milchgesicht, das vor einigen Tagen noch, von seinen Kameraden verspottet, beim Exerzieren der schweren Munitionskästen wegen geweint hatte, schleppte nun diese Last, die es aus der furchtbaren Szene gerettet hatte, getreulich auf unserem mühsamen Wege mit. Diese Beobachtung gab mir den Rest. Ich warf mich zu Boden und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus, während die Leute düster um mich herumstanden.
Nachdem wir einige Stunden lang erfolglos, oft von einschlagenden Granaten bedroht, durch Gräben gehastet waren, in denen Schlamm und Wasser fußhoch standen, verkrochen wir uns, zu Tode erschöpft, in einige in die Wände eingebaute Munitionsnischen. Mein Bursche breitete seine Decke über mich; trotzdem konnte ich infolge der furchtbaren Nervenerregung kein Auge schließen und erwartete, Zigarren rauchend, die Dämmerung.
Das erste Tageslicht entschleierte ein ganz unglaubliches Leben im Trichterfelde. Zahllose Trupps Infanterie suchten noch ihre Deckungen zu erreichen. Artilleristen schleppten Munition, Minenwerfer zogen ihre Fahrzeuge; Fernsprecher und Lichtsignalisten bauten Leitungen. Es war der reinste Jahrmarktstrubel tausend Meter vorm Feinde, der unbegreiflicherweise nichts zu merken schien.
Zum Glück stieß ich auf den Führer der zweiten Maschinengewehrkompagnie, Leutnant Fallenstein, einen alten Frontoffizier, der mir unsere Unterkunft zeigen konnte. Sein erstes Wort war: „Mensch, wie sehen Sie denn aus?“ Ich führte meine Leute in einen großen Stollen, an dem wir in der Nacht wohl ein dutzendmal vorbeigelaufen waren, und in dem ich Schmidtchen vorfand, der von unserem Unglück noch nichts wußte. Auch die Führer fand ich hier wieder. Seit diesem Tage habe ich, wenn wir eine neue Stellung bezogen, die Auswahl der Führer stets selbst und mit der größten Sorgfalt getroffen. Im Kriege lernt man gründlich, aber das Lehrgeld ist teuer.
Nachdem ich meine Begleiter untergebracht hatte, machte ich mich auf den Weg nach der Schreckensstelle der vergangenen Nacht. Der Platz sah schaurig aus. Rings um die verbrannte Einschlagsstelle lagen über 20 geschwärzte Leichen, fast alle bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt. Einige der Gefallenen mußten wir später als vermißt führen, da nichts von ihnen vorzufinden war.
Einige Soldaten fremder Truppenteile fand ich beschäftigt, aus dem gräßlichen Gewirr die blutbesudelten Sachen der Toten hervorzuziehen und nach Beute zu durchsuchen. Angeekelt jagte ich das Hyänengelichter fort und gab meiner Ordonnanz den Auftrag, soweit möglich, die Brieftaschen und Wertsachen an sich zu nehmen, um sie für die Hinterbliebenen zu retten. Wir mußten sie allerdings am folgenden Tage beim Sturm zurücklassen.
Zu meiner Freude kann aus einem nahen Stollen der Leutnant Sprenger mit einer Schar von Leuten, die dort die Nacht verbracht hatten. Ich ließ die Gruppenführer melden und stellte fest, daß mir noch 63 Mann zur Verfügung standen. Mit über 150 war ich am Abend zuvor in bester Stimmung ausgezogen! Es gelang mir, über 20 Tote und über 60 Verwundete, von denen später noch viele ihren Verletzungen erlagen, zu ermitteln.
Der einzige schwache Trost war, daß es noch schlimmer hätte kommen können. So stand z. B. der Füsilier Rust so dicht neben dem Einschlag, daß die Tragegurte seiner Munitionskästen anfingen zu brennen. Der Unteroffizier Peggau, der allerdings am nächsten Tage sein Leben lassen mußte, stand zwischen zwei Leuten, die vollkommen zerrissen wurden, ohne auch nur geritzt zu werden.
Wir verbrachten den Tag in gedrückter Stimmung, meist schlafend. Ich mußte häufig zum Bataillonskommandeur, da immer wieder etwas über den Angriff zu besprechen war. Sonst führte ich mit meinen beiden Offizieren, auf einer Pritsche liegend, eine Unterhaltung über die nebensächlichsten Dinge, um den marternden Gedanken zu entgehen. Der stete Refrain war: „Mehr als totgeschossen können wir Gott sei Dank nicht werden!“ Eine kleine Ansprache, mit der ich die Leute zu ermuntern suchte, die wortlos auf der Stollentreppe zusammenkauerten, schien wenig Wirkung zu haben. Ich war auch zum Ermutigen nicht disponiert.
Um 10 Uhr abends brachte eine Ordonnanz den Befehl zum Abmarsch in vordere Linie. Wenn ein Tier der Wildnis aus seiner Höhle hervorgezerrt wird, oder ein Seemann die rettende Planke unter seinen Füßen sinken sieht, mögen sie ähnliche Gefühle haben wie wir, als wir uns von dem sicheren, warmen Stollen trennen mußten. Jedoch kam nicht einem meiner Leute der Gedanke, unbemerkt zurückzubleiben.
Wir eilten in scharfem Schrapnellfeuer durch den Felixgraben und kamen ohne Verluste vorn an. Dem Bataillon war ein ganz schmaler Abschnitt zugewiesen. Sämtliche Stollen waren im Nu gestopft voll Menschen. Die übrigen gruben sich Löcher in die Grabenwände, um während des dem Angriff vorausgehenden Artilleriefeuers wenigstens etwas Schutz zu haben. Nach vielem Hin und Her hatte jeder sein Plätzlein gefunden. Noch einmal versammelte der Hauptmann von Brixen die Kompagnieführer zur Besprechung. Nachdem zum letzten Mal die Uhren verglichen waren, trennten wir uns mit einem Händedruck.
Ich setzte mich neben meine beiden Offiziere auf eine Stollentreppe, um den Zeitpunkt 5.05 Uhr zu erwarten, mit dem die Feuervorbereitung beginnen sollte. Die Stimmung hatte sich etwas aufgeheitert, da der Regen aufgehört hatte und die sternklare Nacht einen trockenen Morgen versprach. Wir verbrachten die Zeit mit Erzählen und Essen; es wurde stark geraucht, und die gefüllte Feldflasche machte stetig die Runde. In den ersten Morgenstunden war die feindliche Artillerie so lebhaft, daß wir fürchteten, der Engländer hätte Lunte gerochen.
Kurz vor Beginn wurde folgender Funkspruch bekanntgegeben: „S. M. der Kaiser und Hindenburg haben sich an den Schauplatz der Operationen begeben.“ Er wurde mit Beifall begrüßt.
Immer weiter rückte der Zeiger; wir zählten die letzten Minuten mit. Endlich stand er auf 5.05 Uhr. Der Orkan brach los. Ein rasender Donner, der auch die schwersten Abschüsse in seinem gewaltigen Rollen verschlang, ließ die Erde erzittern. Das gigantische Vernichtungsgebrüll der unzähligen Geschütze hinter uns war so furchtbar, daß auch die größten der überstandenen Schlachten dagegen ein Kinderspiel schienen. Was wir nicht gewagt hatten zu hoffen, geschah: Die feindliche Artillerie blieb stumm; sie war mit einem einzigen Riesenschlage niedergeschmettert. Wir hielten es im Stollen nicht länger aus. Auf Deckung stehend, bewunderten wir die über den englischen Gräben flammende Feuerwand, die sich hinter wallenden, blutroten Wolken verschleierte.
Unsere Freude wurde durch Augentränen und Brennen der Schleimhäute gestört, verursacht durch die vom Winde zurückgetriebenen Dünste unserer Gasgranaten. Die unangenehmen Wirkungen des Blaukreuzgases zwangen viele Leute durch Würge- und Hustenreiz, die Masken abzureißen. Ich war sehr besorgt; doch vertraute ich fest darauf, daß unsere Führung unmöglich eine Berechnung gemacht haben könnte, die unser Verderben werden mußte. Trotzdem zwang ich mit Aufbietung aller Energie den ersten Husten zurück, um den Reiz nicht zu fördern. Nach einer Stunde konnten wir die Masken absetzen. Es war Tag geworden. Hinter uns wuchs das ungeheure Getöse fortwährend. Vor uns war eine dem Blick undurchdringliche Wand von Rauch, Staub und Gas entstanden. Leute liefen durch den Graben und brüllten sich freudige Zurufe ins Ohr. Infanteristen und Artilleristen, Pioniere und Fernsprecher, Preußen und Bayern, Offiziere und Mannschaften, alle waren überwältigt, begeistert durch diese elementare Äußerung deutscher Kraft und brannten darauf, um 9.40 Uhr zum Sturm anzutreten. Um 8.25 griffen unsere schweren Minenwerfer ein, die in engen Zwischenräumen hinter dem vorderen Graben standen. Wir sahen die gewaltigen Zweizentner-Minen im hohen Bogen durch die Luft fliegen und drüben mit vulkanartigen Explosionen zu Boden fallen.
Selbst die Naturgesetze schienen ihre Gültigkeit verloren zu haben; die Luft flimmerte wie an heißen Sommertagen. Der wechselnde Brechungsexponent ließ feste Gegenstände hin und her tanzen. Schwarze Schattenstriche huschten durch das Gewölk.
Die letzte Stunde der Vorbereitung wurde gefährlicher als die vier anderen, während deren wir uns ruhig auf Deckung bewegt hatten. Der Feind brachte eine schwere Batterie ins Feuer, die Schuß um Schuß in unseren gedrängt vollen Graben warf. Um auszuweichen, begab ich mich nach links und stieß auf den Adjutanten, Leutnant Heins, der mich nach dem Leutnant Freiherrn v. Solemacher fragte: „Der muß sofort das Bataillon übernehmen, Hauptmann v. Brixen ist eben gefallen.“ Erschüttert von dieser Schreckensnachricht ging ich zurück und setzte mich in ein tiefes Erdloch. Auf dem kurzen Wege hatte ich die Tatsache schon wieder vergessen. Mein Gehirn klammerte sich nur noch durch die Zahl 9.40 Uhr an die Wirklichkeit. Ich schien mich indes sehr kouragiert zu benehmen, denn alle Leute lächelten mir beifällig zu.
Vor meinem Erdloch stand der Unteroffizier Dujesiefken, mein Begleiter bei Regniéville, und bat mich, in den Graben zu kommen, da beim kleinsten Einschlage die Erdmassen über mir zusammenstürzen könnten. Eine Explosion riß ihm das Wort vom Munde: mit einem abgerissenen Bein stürzte er zu Boden. Ich sprang über ihn hinweg und hastete nach rechts, wo ich in ein Fuchsloch kroch, das bereits von zwei Pionieren besetzt war. Im engen Kreise um uns setzten die schweren Geschosse ihr Wüten fort. Man sah plötzlich schwarze Erdklumpen aus einer weißen Wolke wirbeln; die Detonation ging im allgemeinen Tosen unter. Man hörte eigentlich überhaupt nichts mehr. Im Grabenstückchen links neben uns wurden drei Leute meiner Kompagnie zerrissen. Einer der letzten Treffer, ein Blindgänger, tötete das arme Schmidtchen, das noch auf der Stollentreppe saß.
Ich stand zusammen mit Sprenger, die Uhr in der Hand, vor meinem Fuchsloch und erwartete den großen Augenblick. Um uns hatten sich die Reste der Kompagnie geschart. Es gelang uns, sie durch Scherzworte von einer Derbheit, die sich hier leider nicht wiedergeben läßt, aufzuheitern und abzulenken. Der Leutnant Meyer, der einen Augenblick um die Schulterwehr lugte, erzählte mir später, daß er uns für wahnsinnig gehalten hätte.
Um 9.10 Uhr verließen die Offizier-Patrouillen, die unsere Aufstellung sichern sollten, den Graben. Da die vorderen Linien über 800 Meter auseinanderlagen, mußten wir noch während der Vorbereitung antreten und uns im Niemandslande derart bereitlegen, daß wir um 9.40 in die erste feindliche Linie springen konnten. Auch Sprenger und ich kletterten nach einigen Minuten, gefolgt von unseren Leuten, auf Deckung.
„Nun wollen wir mal zeigen, was die siebte Kompagnie kann!“ „Jetzt ist mir alles ejal!“ „Rache für die siebte Kompagnie!“ „Rache für Hauptmann von Brixen!“ Wir zogen die Pistolen und überschritten unseren Draht, durch den sich schon die ersten Verwundeten zurückschleppten.
Ich blickte nach rechts und links. Die Völkerscheide bot ein seltsames Bild. In den Trichtern vor dem feindlichen Graben, der in höchster Feuersteigerung wieder und wieder umgewühlt wurde, harrten in unübersehbar breiter Front, kompagnieweise zusammengeklumpt, die Angriffsbataillone. Beim Anblick dieser aufgestauten gewaltigen Massen schien mir der Durchbruch gewiß. Ob aber auch die Kraft in uns steckte, die feindlichen Reserven zu zersplittern und vernichtend auseinanderzureißen? Ich erwartete es mit Bestimmtheit. Der Endkampf, der letzte Anlauf schien gekommen. Die Stimmung war sonderbar, geladen von höchster Spannung. Offiziere standen aufrecht und riefen sich nervöse Scherzworte zu. Oft ging eine schwere Mine zu kurz, warf eine kirchturmhohe Fontäne hoch und überschüttete uns mit Erde, ohne daß einer auch nur den Kopf beugte. Der Schlachtendonner war so fürchterlich geworden, daß keiner mehr bei klarem Verstande war. Die Nerven konnten keine Angst mehr empfinden.
Drei Minuten vor dem Angriff winkte mir mein Bursche, der treue Vinke, mit einer gefüllten Feldflasche. Sein einfacher Horizont erkannte das Gebot der Stunde. Ich tat einen tiefen Zug. Es war, als ob ich Wasser tränke. Nun fehlte noch die Offensiv-Zigarre. Dreimal löschte der Luftdruck mein Streichholz aus.
Der große Augenblick war gekommen. Die Feuerwalze rollte über die ersten Gräben hinweg. Wir traten an.
In einer Mischung von Gefühlen, hervorgerufen durch Blutdurst, Wut und Alkoholgenuß gingen wir im Schritt auf die feindlichen Linien los. Ich war weit vor der Kompagnie, gefolgt von meinem Burschen und einem Einjährigen. Die rechte Hand umklammerte den Pistolenschaft, die linke einen Reitstock aus Bambusrohr. Ich kochte vor einem mir jetzt unbegreiflichen Grimm. Der übermächtige Wunsch zu töten, beflügelte meine Schritte. Die Wut entpreßte mir bittere Tränen.
Der ungeheure Vernichtungswille, der über der Walstatt lastete, konzentrierte sich in den Gehirnen. So mögen die Männer der Renaissance von ihren Leidenschaften gepackt sein, so mag ein Cellini gerast haben, Werwölfe, die heulend durch die Nacht hetzen, um Blut zu trinken.
Ohne Schwierigkeiten durchschritten wir ein zerfetztes Drahtgewirre und setzten in einem Sprunge über den ersten Graben. Die Sturmwelle tanzte wie eine Reihe von Gespenstern durch weiße, wallende Dämpfe.
Wider Erwarten knatterte uns aus der zweiten Linie Maschinengewehrfeuer entgegen. Ich sprang mit meinen Begleitern in einen Trichter. Eine Sekunde später gab es einen furchtbaren Krach und ich sackte vorn über. Vinke packte mich am Kragen und drehte mich auf den Rücken: „Sind Herr Leutnant verwundet?“ Es war nichts zu finden. Der Einjährige hatte ein Loch im Oberarme und versicherte stöhnend, daß ihm eine Kugel in den Rücken geschlagen wäre. Wir rissen ihm die Uniform vom Leibe und verbanden ihn. Die aufgewühlte Erde zeigte, daß ein Schrapnell in Höhe unserer Gesichter auf den Trichterrand geschlagen war. Ein Wunder, daß wir noch lebten.
Währenddessen waren die anderen an uns vorbeigeschritten. Wir stürzten ihnen nach, den Verwundeten seinem Schicksal überlassend. Halb links vor uns tauchte der mächtige Eisenbahndamm Ecoust-Croisilles, den wir überschreiten mußten, aus dem Dunst. Aus eingebauten Schießscharten und Stollenfenstern prasselte Gewehr- und Maschinengewehrfeuer.
Auch Vinke war abhanden gekommen. Ich folgte einem Hohlweg, aus dessen Böschung eingedrückte Unterstände gähnten. Wütend schritt ich voran, über den schwarzen, aufgerissenen Boden, dem noch die stickigen Gase unserer Granaten entschwelten.
Da erblickte ich den ersten Feind. Eine Gestalt kauerte etwa drei Meter vor mir, anscheinend verwundet, in der Mitte der zertrommelten Mulde. Ich sah sie bei meinem Erscheinen zusammenfahren und mich mit weit geöffneten Augen anstarren, als ich ganz langsam, die Pistole vorstreckend, auf sie zuschritt. Zähneknirschend setzte ich die Mündung an die Schläfe des vor Angst Gelähmten; mit einem Klagelaut griff er in seine Tasche und hielt mir eine Karte vor Augen. Es war das Bild von ihm, umgeben von einer zahlreichen Familie . . .
Nach sekundenlangem inneren Kampfe hatte ich mich in der Hand. Ich schritt vorüber.
Von oben sprangen Leute meiner Kompagnie in den Hohlweg. Mir war glühend heiß. Ich riß den Mantel herunter und schleuderte ihn fort. Ich weiß noch, daß ich einigemale sehr energisch rief: „Jetzt zieht Leutnant Jünger seinen Mantel aus“, und die Füsiliere dazu lachten, als ob ich den köstlichsten Witz gemacht hätte. Oben lief alles über Deckung, ohne der höchstens 400 Meter entfernten Maschinengewehre zu achten. Auch mich zwang der Vernichtungstrieb in die Feuergarben. Ich rannte den feuerspeienden Bahndamm frontal an. In irgend einem Trichter sprang ich auf eine pistolenschießende Gestalt in braunem Manchester. Es war Kius, der sich in ähnlicher Stimmung befand und mir zur Begrüßung eine Hand voll Munition zusteckte.
Wir müssen nun eine ganze Zeit lang kreuz und quer durch die Trichter gerannt sein und auf verschiedene Ziele geschossen haben. Jedenfalls befand ich mich auf einmal am Fuße des Bahndammes und merkte, daß aus einem mit Sackleinewand verhüllten Stollenfenster dicht neben mir gefeuert wurde. Ich schoß durch das Tuch; ein Mann neben mir riß es fort und warf eine Handgranate in die Öffnung. Ein Stoß und eine entquellende weißliche Wolke verrieten die Wirkung. Das Mittel war rauh, doch probat. Wir beiden rannten an der Böschung entlang und bearbeiteten die nächsten Luken in ähnlicher Weise. Ich hob die Hand, um unsere Leute, deren Geschosse uns aus nächster Entfernung um die Ohren schellten, zu verständigen. Sie winkten freudig zurück. Danach erklommen wir mit hundert anderen zugleich den Damm. Zum ersten Male im Kriege sah ich Massen aufeinanderprallen. Die Engländer hielten auf der hinteren Böschung zwei terrassenartig eingehauene Gräben besetzt. Geschosse wurden auf wenige Meter gewechselt, Handgranaten flogen im Bogen hinunter.
Ich sprang in den ersten Graben; um die nächste Schulterwehr stürzend, stieß ich mit einem englischen Offizier in offener Jacke und herabhängender Halsbinde zusammen. Auf den Gebrauch der Pistole verzichtend, packte ich ihn an der Gurgel und schleuderte ihn gegen eine Sandsackpackung, vor der er zusammenbrach. Hinter mir tauchte der Kopf eines alten Majors auf, der mir zuschrie: „Schlagen Sie den Hund tot!“
Ich überließ diese Arbeit den Folgenden, wandte mich dem unteren Graben zu, der von Engländern wimmelte und schoß meine Pistolenkugeln mit solchem Eifer darauf ab, daß ich nach dem letzten Schuß wohl noch zehnmal abdrückte. Ein Mann neben mir warf Handgranaten unter die Davonhastenden. Ein tellerförmiger Stahlhelm stieg kreiselnd hoch in die Luft.
In einer Minute war der Kampf entschieden. Die Engländer sprangen aus ihren Gräben und flohen zu Bataillonen über das freie Feld. Von der Dammkrone raste tolles Verfolgungsfeuer los. Die Fliehenden überschlugen sich im Laufen, und in einigen Sekunden war der Boden mit Leichen bedeckt. Nur wenige entkamen.
Ich riß einem Unteroffizier, der dieses Schauspiel mit offenem Munde beglotzte, das Gewehr aus der Hand. Mein erstes Opfer war ein Engländer, den ich auf 150 Meter zwischen zwei Deutschen herausschoß. Er klappte wie ein Messer zusammen und blieb liegen.
Nachdem so ganze Arbeit geschafft war, ging es weiter. Der Erfolg hatte Angriffsgeist und Draufgängertum jedes Einzelnen zur Weißglut entfacht. Von der Führung einheitlicher Verbände war keine Rede mehr. Trotzdem kannte jeder Mann nur noch eine Parole: „Vor!“ Jeder rannte geradeaus los.
Als Ziel wählte ich mir eine kleine Anhöhe, auf der die Trümmer eines Häuschens, ein Grabkreuz und ein zerstörtes Flugzeug zu sehen waren. Mein stures Vorstürmen führte mich mitten in die Flammenwand der eigenen Feuerwalze. Ich mußte mich in einen Trichter werfen, um Deckung zu nehmen und das weitere Vorschreiten des Feuers abzuwarten. Neben mir entdeckte ich einen jungen Offizier eines anderen Regiments, der sich gleich mir ganz allein über das gute Gelingen des ersten Ansturmes freute. Die gemeinsame Begeisterung brachte uns in den wenigen Augenblicken so nahe, als ob wir uns schon jahrelang gekannt hätten. Der nächste Sprung trennte uns auf Nimmerwiedersehen.
Neben der Hausruine lag ein kleines Grabenstück, das vom jenseitigen Grunde mit Maschinengewehren abgekämmt wurde. Ich sprang in einem Anlauf hinein und fand es unbesetzt. Gleich darauf erschienen die Leutnants Kius und von Wedelstädt. Eine Ordonnanz Wedelstädts, die als letzter kam, brach mitten im Sprunge zusammen und blieb, durchs Auge getroffen, tot liegen. Als Wedelstädt diesen Letzten seiner Kompagnie stürzen sah, stützte er seinen Kopf auf die Grabenwand und weinte. Auch er sollte den Tag nicht überleben.
Im Grunde lag eine stark befestigte Hohlwegstellung, davor an den beiden Rändern einer Mulde zwei Maschinengewehrnester. Die Feuerwalze war schon über diese Stellung hinweggerollt, der Gegner schien sich erholt zu haben und schoß, was aus den Läufen wollte. Wir waren von ihm durch einen 500 Meter breiten Geländestreifen getrennt, über den die Geschoßgarben wie Bienenschwärme surrten.
Nach kurzer Atempause sprangen wir mit wenigen Leuten aus unserem Grabenstück auf den Feind zu. Es ging um Leben und Tod. Nach ein paar Sprüngen lag ich mit einem Begleitmann allein dem linken Maschinengewehrnest gegenüber. Deutlich sah ich hinter einem kleinen Erdaufwurf einen flach behelmten Kopf neben einer emporsteigenden feinen Wasserdampfsäule. Ich näherte mich durch ganz kurze Sprünge, um keine Zeit zum Zielen zu geben. Jedesmal, wenn ich lag, schleuderte mir der Mann einen Rahmen Patronen zu, mit denen ich eine Reihe wohlgezielter Schüsse abgab. „Patronen, Patronen!“ Ich wandte mich um und sah ihn zuckend auf der Seite liegen. — —
Wenn ich heute an diesen blinden Anlauf über freies Feld gegen eine gespickte Stellung zurückdenke, muß ich gestehen, daß wir von einer ganz unwahrscheinlichen Verwegenheit besessen waren. Und doch, wo wäre der Erfolg im Kriege, wenn nicht der Rausch zur Tat einzelne packte und vorwärtswürfe in unwiderstehlichem Schwung? Manchmal schien es mir, als ob selbst der Tod sich scheute, ihnen in den Weg zu treten. — — —
Von links, wo der Widerstand nicht so stark war, erschienen einige Leute, welche die Verteidiger fast mit Handgranaten erreichen konnten. Ich setzte zum letzten Sprunge an und stolperte über ein Drahtverhau in das Grabenstück. Die Engländer rannten, von allen Seiten beschossen, zum rechten Maschinengewehrnest hinüber, ihre Waffe zurücklassend. Das Maschinengewehr war halb unter einem riesigen Haufen abgeschossener Hülsen verborgen. Es war noch glühendheiß und dampfte. Davor lag ein athletischer Leichnam, dem ein Kopfschuß, der auf meine Rechnung kam, ein Auge herausgetrieben hatte. Der Riesenkerl mit dem großen weißen Augapfel vorm Schädel sah schaurig aus. Da ich vor Durst fast verschmachtete, hielt ich mich nicht weiter auf, sondern suchte nach Wasser. Ein Stolleneingang zog mich an. Ich blickte hinein und sah unten einen Mann sitzen, der Munitionsgurte über seine Knie zog und ordnete. Anstatt ihn sofort zu erledigen, wie es die Vorsicht gebot, rief ich ihm zuvor zu: „Come here, hands up!“ Er sprang hoch, starrte mich entgeistert an und verschwand im Dunkel des Stollens. Wahrscheinlich ist er der Handgranate zum Opfer gefallen, die ich ihm nachschleuderte.
Endlich entdeckte ich einen Blechkasten voll Kühlwasser. Ich stürzte die ölige Flüssigkeit in langen Zügen hinunter, füllte mir eine englische Feldflasche und gab auch den anderen Leuten zu trinken, die plötzlich das Grabenstück füllten.
Währenddessen leistete das rechte Maschinengewehrnest und der 60 Meter vor uns liegende Hohlweg noch immer erbitterten Widerstand. Wir versuchten, das englische Maschinenegewehr darauf einzurichten, hatten aber keinen Erfolg damit, vielmehr sauste mir bei diesem Bemühen ein Geschoß am Kopfe vorbei, streifte einen hinter mir stehenden Jägerleutnant und verwundete einen Mann sehr bedenklich am Oberschenkel. Mit mehr Glück brachte die Bedienung eines leichten Maschinengewehrs ihre Waffe am Rande unseres kleinen Grabenhalbmondes in Stellung und jagte den Engländern eine Reihe von Geschossen in die Flanke.
Diesen Moment der Überraschung benutzten die Stürmer rechts und liefen frontal auf den Hohlweg los, voran unsere noch ganz intakte neunte Kompagnie unter Führung den Leutnants Gipkens. Aus allen Trichtern erhoben sich nun gewehrschwingende Gestalten und rannten mit rollenden Augen und schäumendem Munde unter furchtbarem Hurragebrüll gegen die feindliche Stellung an, aus der die Verteidiger zu Hunderten mit hochgehobenen Händen hervorkamen.
Pardon wurde nicht gegeben. Die Engländer eilten mit hochgereckten Armen durch die erste Sturmwelle nach hinten, wo die Kampfeswut noch nicht zu solcher Siedehitze gestiegen war. Eine Ordonnanz von Gipkens legte mit seiner 32schüssigen Repetierpistole wohl ein Dutzend von ihnen um.
Ich kann unseren Leuten dies blutdürstige Gebaren nicht verübeln. Einen Wehrlosen umzubringen, ist eine Gemeinheit. Mir war im Kriege niemand widerlicher, als die Stammtischhelden, die mit fettigem Lachen die bekannte Geschichte von den Bayern und dem Gefangenentransport erzählten: „Haben Sie schon gehört, die Sache von dem Schlaganfall? Köstlich!“
Andererseits muß ein Verteidiger, der dem Angreifer bis auf fünf Schritt seine Geschosse durch den Leib jagt, die Konsequenzen tragen. Der Kämpfer, dem während des Anlaufs ein blutiger Schleier vor den Augen wallte, kann seine Gefühle nicht mehr umstellen. Er will nicht gefangennehmen; er will töten. Er hat jedes Ziel aus den Augen verloren und steht im Banne gewaltiger Urtriebe. Erst, wenn Blut geflossen ist, weichen die Nebel aus seinem Hirn; er sieht sich um wie aus schwerem Traum erwachend. Erst dann ist er wieder moderner Soldat, imstande, eine neue taktische Aufgabe zu lösen.
In diesem Zustande befanden wir uns nach der Eroberung der Hohlweges. Eine Menge Leute waren zusammengekommen und standen, durcheinanderschreiend, auf einem Klumpen. Offiziere zeigten ihnen die Verlängerung der Mulde, und der gewaltige Kampfhaufen setzte sich mit erstaunlicher Gleichgültigkeit, schwerfällig in Bewegung.
Die Mulde lief in eine Höhe aus, auf der feindliche Kolonnen auftauchten. Wir gingen, ab und zu stehenbleibend und schießend, vor, bis wir durch heftiges Feuer aufgehalten wurden. Es war ein äußerst peinliches Gefühl, die Kugeln neben dem Kopf in den Boden knallen zu hören. Kius, der wieder herangekommen war, hob ein abgeplattetes Geschoß auf, das einen halben Meter vor seiner Nase liegen geblieben war. Wir benutzten eine kleine Pause, um einen der hier bereits selten gewordenen Trichter zu erreichen. Dort fanden sich eine Menge von Offizieren unseres Bataillons zusammen, das jetzt von dem Leutnant Lindenberg geführt wurde, da leider auch der Freiherr von Solemacher eine tödliche Verwundung erhalten hatte. Am rechten Hange der Schlucht spazierte zur allgemeinen Heiterkeit der von den 10. Jägern zu uns kommandierte Leutnant Breyer, den Spazierstock in der Hand und eine lange grüne Jägerpfeife im Munde, mit umgehängter Flinte durch das Maschinengewehrfeuer, als ob es zur Hasenjagd ginge.
Wir erzählten uns in kurzen Worten unsere bisherigen Abenteuer und boten uns Feldflasche und Schokolade an, dann ging es „auf allgemeinen Wunsch“ wieder vor. Die Maschinengewehre, anscheinend in der Flanke bedroht, waren verschwunden. Wir mochten bislang drei bis vier Kilometer gewonnen haben. Die Mulde wimmelte von Angriffstruppen. Soweit das Auge nach hinten blicken konnte, rückten Truppen in Schützenlinie, Reihe und Gruppenkolonne heran. Wir waren leider viel zu dicht, wieviele wir liegen ließen, wurde uns zum Glück im Sturm nicht klar.
Ohne Widerstand zu finden, erreichten wir die Höhe. Rechts von uns sprangen einige khakifarbige Gestalten aus einem Grabenstück, hinter denen wir stehend freihändig herknallten. Die meisten wurden umgelegt. Die Höhe war durch eine Reihe von Unterständen befestigt. Teils zeigten aufquellende Dampfwolken, daß mit Handgranaten kurzer Prozeß gemacht wurde, teils kamen die Insassen mit hochgehobenen Armen und schlotternden Knien heraus. Es wurden ihnen Feldflasche und Zigaretten abgenommen und die Richtung nach hinten gezeigt, in der sie mit großer Geschwindigkeit enteilten. Ein junger Engländer hatte sich mir bereits ergeben, als er sich plötzlich umdrehte und wieder in seinem Unterstand verschwand. Da er trotz meiner Aufforderung, herauszukommen, sich unten versteckt hielt, machten wir seinem Zögern mit einigen Handgranaten ein Ende und gingen weiter. Ein schmaler Fußpfad verschwand jenseits der Höhe. Ein Wegweiser besagte, daß er nach Vraucourt führte. Während sich die anderen noch bei den Unterständen aufhielten, überschritt ich mit dem Leutnant Heins die Höhe.
Jenseits dem Grunde lagen die Ruinen des Dorfes Vraucourt. Davor blitzten die Abschüsse einer feuernden Batterie auf, deren Bedienung bei dem Erscheinen der ersten Sturmwelle ins Dorf flüchtete. Auch die Besatzung einer Reihe in einen Hohlweg eingebauter Unterstände stürzte heraus und entfloh. Ich schoß einen davon in dem Augenblick, als er aus dem Eingange des ersten sprang, nieder.
Mit zwei Leuten meiner Kompagnie, die sich inzwischen bei mir gemeldet hatten, ging ich in dem Hohlweg vor. Rechts davon lag eine besetzte Stellung, aus der wir starkes Feuer erhielten. Wir zogen uns in den ersten Unterstand zurück, über dem sich bald die Geschosse beider Parteien kreuzten. Davor lag mein Engländer, ein blutjunges Kerlchen, den mein Schuß quer durch den Schädel getroffen hatte. Ein merkwürdiges Gefühl, einem Menschen ins Auge zu sehen, den man selbst getötet.
Wir ließen uns durch das zunehmende Feuer nicht stören, sondern richteten uns in dem Unterstande ein und räumten unter den zurückgelassenen Lebensmitteln auf, da unser Magen uns daran erinnerte, daß wir während des ganzen Angriffs noch nichts genossen hatten. Wir fanden Schinken, Weißbrot, Marmelade und einen Steinkrug voll Ingwer-Likör. Nachdem ich mich gestärkt hatte, setzte ich mich auf eine leere Biskuitdose und las einige englische Zeitschriften, die von recht geschmacklosen Ausfällen gegen „the Huns“ wimmelten. Allmählich wurde uns die Lage doch zu langweilig, und wir kehrten in Sprüngen zum Anfange des Hohlweges zurück, wo sich eine Menge von Leuten angesammelt hatte. . . Von dort sahen wir schon ein Bataillon 164er links neben Vraucourt. Wir beschlossen, das Dorf zu stürmen, und eilten wieder durch den Hohlweg vor. Kurz vor dem Dorfrande setzte uns die eigene Artillerie, die stumpfsinnig bis zum Morgen auf denselben Fleck weiterschoß, ein Ziel. Eine schwere Granate schlug mitten auf dem Wege ein und zerriß vier Leute. Die anderen liefen zurück.
Wie ich später erfuhr, hatte die Artillerie Befehl, mit höchster Entfernung weiterzuschießen. Diese unverständliche Anordnung riß uns die schönsten Früchte des Sieges aus der Hand. Zähneknirschend mußten wir vor der Feuerwand Halt machen.
Um eine Lücke des Feuers zu suchen, wandten wir uns weiter nach rechts, wo gerade ein Kompagnieführer des Infanterie-Rgts. 76 zum Sturm auf die Vraucourt-Stellung ansetzte. Wir beteiligten uns mit Hurra, aber kaum waren wir eingedrungen, als uns die eigene Artillerie wieder herausschoß. Dreimal stürmten wir und dreimal mußten wir wieder zurück. Fluchend besetzten wir einige Trichter, in denen uns ein durch die Granaten verursachter Wiesenbrand, bei dem viele Verwundete umkamen, außerordentlich lästig wurde. Auch töteten englische Gewehrgeschosse einige Leute.
Langsam brach die Dämmerung herein. Stellenweise lohte das Gewehrfeuer noch einmal gewaltig auf, um allmählich zu erlöschen. Die erschöpften Kämpfer suchten sich einen Ort, wo sie die Nacht verbringen konnten. Offiziere schrieen ununterbrochen ihren Namen, um die zersplitterten Kompagnien zu sammeln.
Zwölf Mann der siebenten Kompagnie hatten sich während der letzten Stunde um mich geschart; da es kalt zu werden begann, führte ich sie zu dem kleinen Unterstande, vor dem mein Engländer lag und schickte sie aus, um Decken und Mäntel von Gefallenen zu suchen. Als ich alle untergebracht hatte, gab ich meiner Neugier nach, die mich in die vor uns liegende Artilleriemulde trieb. Ich nahm den Füsilier Haller mit, dem ich den größten Sportsgeist zutraute. Wir schritten mit schußbereitem Gewehr gegen die Mulde vor, auf der noch immer unser Artilleriefeuer wuchtete und untersuchten zunächst einen Unterstand, der anscheinend vor kurzem von englischen Artillerieoffizieren verlassen war. Auf einem Tische stand ein riesiges Grammophon, das Haller sofort in Bewegung setzte. Das lustige Couplet, das von der Walze schnurrte, machte einen geisterhaften Eindruck. Ich warf den Kasten auf den Boden, wo er wie ein Erschlagener noch ein paar schnarrende Töne von sich gab und verstummte. Der Unterstand war äußerst behaglich eingerichtet; sogar ein kleiner Kamin, auf dessen Sims Pfeifen und Tabak lagen, mit im Kreise herumgestellten Sesseln fehlte nicht. Merry old England! Wir legten uns natürlich keinen Zwang auf, sondern nahmen, was uns gefiel. Ich suchte mir einen Brotbeutel, Wäsche, eine kleine Metallflasche voll Whisky, eine Kartentasche und einige wundernette Toiletteartikel von Roger und Gallet aus, vermutlich zärtliche Erinnerungen an einen Pariser Fronturlaub.
Ein nebenan liegender Raum enthielt eine Küche, deren Vorräte wir ehrfurchtsvoll bestaunten. Da war eine ganze Kiste voll roher Eier, von denen wir uns gleich eine erhebliche Zahl einverleibten, da wir sie kaum noch dem Namen nach kannten. Auf den Wandborden stapelten Büchsen voll Fleisch, Dosen köstlicher eingedickter Marmelade, ferner Flaschen voll Kaffee-Essenz, Tomaten und Zwiebeln; kurz alles, was der Gourmet sich wünschen konnte.
Dieser Anblick trat mir später noch oft vors Gedächtnis, wenn wir wochenlang bei schmaler Brotportion, wässrigen Suppen und dünner Marmelade im Schützengraben lagen. Der deutsche Feldsoldat eilte in verschlissenem Rock, schlechter verpflegt als ein chinesischer Kuli, vier Jahre lang von Schlachtfeld zu Schlachtfeld, um die an Zahl vielfach überlegenen, wohlausgerüsteten und -genährten Gegner immer wieder seine Eisenfaust spüren zu lassen. Es gibt kein größeres Zeichen für die Macht der Idee, die uns trieb. Dem Tode entgegenschreiten, sterben in Augenblicken der Begeisterung, ist viel; für seine Sache hungern und darben, ist mehr. — — —
Nach diesem kleinen Einblick in die wirtschaftlichen Verhältnisse des Gegners verließen wir den Unterstand und schritten in die Mulde, in der wir zwei funkelneue verlassene Geschütze vorfanden. Ich nahm einen Kreidestein und zeichnete sie mit der Nummer meiner Kompagnie. Dann kehrten wir, da die eigene Artillerie uns noch fortwährend Eisen um die Ohren schmiß, zu den anderen zurück.
Unsere vordere Linie, inzwischen von nachrückenden Truppen gebildet, war 200 Meter hinter uns. Ich stellte einen Doppelposten vor den Unterstand und befahl den anderen, das Gewehr im Arm zu behalten. Nachdem ich die Ablösung geregelt, noch etwas gegessen und die Tageserlebnisse in kurzen Stichworten notiert hatte, schlief ich ein.
Um 1 Uhr wurden wir durch Hurrageschrei und lebhaftes Feuer rechts von uns geweckt. Wir packten die Gewehre, stürzten aus dem Raum und postierten uns in einem großen Granattrichter. Von vorn kamen einige versprengte Deutsche zurück, auf die von unserer Linie geschossen wurde. Zwei von ihnen blieben auf dem Wege liegen. Durch diesen Zwischenfall gewitzigt, warteten wir, bis sich hinter uns die erste Aufregung gelegt hatte, machten uns durch Zurufe verständlich und gingen in die eigene Linie zurück. Dort saß der Führer der zweiten Kompagnie, Leutnant Kosik, der vor Erkältung kein Wort sprechen konnte und am Arm verwundet war, mit ungefähr sechzig 73ern. Da er sich zum Sanitätsplatze zurückbegeben mußte, übernahm ich das Kommando über seine Schar, bei der sich drei Offiziere befanden. Außerdem bestanden vom Regiment noch die beiden ebenso zusammengewürfelten Kompagnien Gipkens und Vorbeck.
Bataillonsführer war Hauptmann Freiherr von Ledebour, Regimentskommandeur Major Dietlein, da Major v. Bardeleben bereits am Morgen durch Verwundung ausgeschieden war.
Den Rest der Nacht verbrachte ich mit einigen Unteroffizieren der zweiten Kompagnie zusammen in einem kleinen Erdloch, in dem wir vor Kälte erstarrten. Am Morgen frühstückte ich von den erbeuteten Beständen und schickte Leute nach Quéant, um von der Küche Kaffee und Essen zu holen. Die eigene Artillerie begann wieder mit ihrer verfluchten Schießerei und setzte uns als ersten Morgengruß einen Volltreffer in einen Trichter, der vier Leute der MG.-Kompagnie beherbergte. In der ersten Dämmerung stieß noch ein Zugführer meiner Kompagnie, der Vizefeldwebel Kumpart, mit einigen Leuten zu mir.
Kaum hatte ich mir die Nachtkälte etwas aus den Gliedern gestampft, als ich Befehl bekam, weiter rechts mit den Resten des Regiments 76 zusammen die Vraucourt-Stellung zu stürmen, die bei uns schon teilweise genommen war. Wir zogen im dichten Morgennebel zum Bereitstellungsraum, einer Höhe südlich von Ecoust, auf der viele Tote des vorigen Tages lagen. Es gab wie meist vor unklar gefaßten Angriffsbefehlen ein gewaltiges Palaver der Sturmführer, das erst durch die Garbe eines feindlichen Maschinengewehres beendet wurde. Alles sprang in die nächsten Trichter bis auf den Feldwebel Kumpart, der jammernd liegen blieb. Ich eilte mit einem Sanitäter zu ihm und verband ihn. Er hatte einen schweren Knieschuß erhalten. Wir entfernten mit einer Zange mehrere Knochenbrocken aus der Wunde. Er ist einige Tage später gestorben. Mir ging der Fall besonders nahe, weil Kumpart vor drei Jahren in Recouvrence mein Exerziermeister gewesen war.
In einer Besprechung mit dem Hauptmann von Ledebour legte ich das Sinnlose eines Frontalsturmes dar, da die zum Teil schon in unserem Besitz befindliche Vraucourt-Stellung mit viel geringeren Verlusten von links her aufgerollt werden konnte. Wir beschlossen, den Angriff nicht auszuführen, und die Folge zeigte, daß wir recht gehandelt hatten.
Bei solchen Gelegenheiten rächte sich die Einrichtung der weit zurückliegenden Befehlsstellen der höheren Führung, deren Notwendigkeit mir natürlich klar ist. Jedoch verrieten derartige Befehle deutlich einen Mangel an Fronterfahrung. Die Zeiten des unvorbereiteten Frontalangriffes sind für immer vorüber. Der einfache Mann, dem die feindlichen Gewehre das Gesetz des Handelns vorschrieben, konnte auf solche Irrtümer nicht verfallen. Er kam nur da vor, wo der Gegner schwach war. Die starken Stellungsteile fielen dann von selbst . . . . . .
Vorläufig richteten wir uns in den Trichtern auf der Höhe ein. Allmählich brach die Sonne durch, und es erschienen englische Flugzeuge, die mit Maschinengewehren unsere Löcher abstreuten, indes bald von den unsrigen vertrieben wurden. Im Grunde von Ecoust fuhr eine Batterie auf, ein ungewöhnliches Bild für alte Grabenkrieger; sie wurde auch bald zusammengeschossen. Ein einzelnes Pferd riß sich los und galoppierte durch das Gelände; ein gespenstischer Anblick, dieses rasend gewordene Tier auf weiter, einsamer Fläche, vom wechselnden Gewölk der Geschosse behangen. Die feindlichen Flieger waren noch nicht lange verschwunden, als wir das erste Feuer bekamen. Zuerst platzten einige Schrapnells, dann zahlreiche leichte und schwere Granaten. Wir lagen wie auf dem Präsentierteller. Mehrere ängstliche Gemüter vermehrten das Feuer noch, indem sie kopflos hin und her liefen, anstatt in ihre Trichter geduckt, den Segen über sich ergehen zu lassen. In solchen Lagen muß man Fatalist sein. Diesen Grundsatz beherzigte ich, indem ich den geradezu großartigen Inhalt einer erbeuteten Büchse voll Stachelbeer-Marmelade verspeiste. So wurde es langsam Mittag.
Schon seit längerer Zeit war links in der Vraucourtstellung Bewegung zu beobachten. Jetzt sahen wir gerade vor uns die bogenförmige Flugbahn und den weißen Einschlag deutscher Stielhandgranaten. Das war der gegebene Augenblick.
Ich ließ antreten. Ohne stärkeres Feuer zu bekommen, gelangten wir an den feindlichen Graben und sprangen hinein, freudig begrüßt von einem Sturmtrupp des Regiments 76. Im aufrollenden Handgranatenangriff ging es, ähnlich wie bei Cambrai, langsam vor. Der feindlichen Artillerie blieb es leider nicht verborgen, daß wir uns langsam in ihren Linien vorfraßen. Ein scharfer Feuerüberfall von Schrapnells und leichten Granaten faßte uns vorne noch gerade, in der Hauptsache jedoch die Reserven, die hinter uns über freies Feld dem Graben zuströmten. Wir bemühten uns, möglichst schnell mit dem Gegner fertig zu werden, um das Feuer zu unterlaufen.
Die Vraucourt-Stellung schien noch im Bau gewesen zu sein, denn manche Grabenstücke waren nur durch Abheben der Rasenschicht angedeutet. Wenn wir ein solches Stück übersprangen, konzentrierte sich das ganze Feuer des Umkreises auf uns. Ebenso nahmen wir den über diese Stellen vor uns her hastenden Gegner unter Feuer, so daß die kurzen tracierten Stücke bald mit Leichen behäuft waren. Es war eine nervenpeitschende Hetzjagd. Wir eilten an noch warmen, stämmigen Gestalten vorüber, unter deren kurzen Röckchen kräftige Knie glänzten, oder krochen über sie hinweg. Es waren Hochländer, und die Art des Widerstandes zeigte, daß wir keine Feiglinge vor uns hatten.
Nachdem wir so einige hundert Meter gewonnen hatten, geboten uns immer dichter fallende Hand- und Gewehrgranaten Halt. Die Leute begannen zu weichen.
„Der Tommy macht einen Gegenstoß!“
„Bliew stahn!“ „Ich will bloß Verbindung aufnehmen!“
„Handgranaten nach vorn; Handgranaten, Handgranaten!“
„Achtung, Herr Leutnant!“
Gerade im Grabenkampf, wo am brutalsten gefochten wird, sind solche Rückschläge am häufigsten. Die Mutigsten stürzen, schießend und werfend, an der Spitze vor. Die Masse folgt als willenlose Herde auf den Fersen. Beim Aufeinanderprall springen die Kämpfer hin und her, um den vernichtenden Würfen auszuweichen und stoßen dabei auf die Nachdrängenden. Nur die vordersten übersehen die Lage; weiter hinten bricht unter der im engen Graben zusammengekeilten Menge wilde Panik aus. Erkennt der Gegner den Augenblick, ist alles verloren; jetzt muß der Führer zeigen, ob er die Achselstücke zu Recht trägt, obgleich ihn selbst das bekannte „mulmige“ Gefühl beschleicht.
Es gelang mir, eine Handvoll Leute zusammenzuraffen, mit denen ich hinter einer breiten Schulterwehr ein Widerstandsnest bildete. Auf wenige Meter tauschten wir mit einem unsichtbaren Gegner Geschosse. Es gehörte Mut dazu, bei den knallenden Aufschlägen den Kopf hochzuhalten, während der Sand der Schulterwehr aufgepeitscht wurde. Ein 76er neben mir schoß mit wildem Gesichtsausdruck, ohne an Deckung zu denken, eine Patrone nach der anderen ab, bis er blutüberströmt zusammenbrach. Ein Geschoß hatte ihm mit dem Knall eines aufschlagenden Brettes die Stirn durchbohrt. Er knickte in seiner Grabenecke zusammen und blieb, den Kopf gegen die Wand gelehnt, in kauernder Stellung stehen. Sein Blut floß, wie aus einem Eimer gegossen, auf die Grabensohle. Sein schnarchendes Röcheln ertönte in immer längeren Abständen und hörte endlich ganz auf. Ich ergriff sein Gewehr und feuerte weiter. Endlich trat eine kleine Pause ein. Zwei Mann, die noch vor uns gelegen hatten, machten den Versuch, über Deckung zurückzuspringen. Einer fiel mit einem Kopfschuß in den Graben, der andere konnte ihn eines Bauchschusses wegen nur mehr kriechend erreichen.
Wir setzten uns abwartend auf die Grabensohle und rauchten englische Zigaretten. Ab und zu pfeilten sich gut gezielte Gewehrgranaten herüber. Der Verwundete mit dem Bauchschuß, ein blutjunger Mensch, lag zwischen uns und dehnte sich fast wohlig wie eine Katze in den warmen Strahlen der untergehenden Sonne. Er schlief mit einem kindlichen Lächeln in den Tod hinüber. Es war ein Anblick, bei dem nichts Trübes und Unangenehmes, sondern nur ein klares Gefühl der Zuneigung zu dem Sterbenden mich berührte. Auch das Stöhnen seines Kameraden verstummte allmählich.
Mehrere Male versuchten wir, tief geduckt an den tracierten Stellen über die Leichen der Hochländer vorkriechend, uns weiter vorzuarbeiten, wurden aber immer wieder durch Maschinengewehrfeuer und Gewehrgranaten zurückgetrieben. Jeder Treffer, den ich sah, war tödlich. So füllte sich der vordere Teil des Grabens allmählich mit Leichen; dafür bekamen wir von hinten dauernd Verstärkung. Bald stand hinter jeder Schulterwehr ein leichtes oder schweres Maschinengewehr. Ich stellte mich hinter eine dieser Kugelspritzen und schoß, bis der Zeigefinger von Rauch geschwärzt war. Wenn das Kühlwasser verdunstet war, wurden die Kästen herumgereicht und unter wenig feinen Scherzen durch ein sehr einfaches Verfahren wieder gefüllt.
Die Sonne stand tief am Horizonte. Der zweite Kampftag schien vorüber. Ich sah mir zum erstenmale genau die Umgebung an und schickte Meldung und Skizze nach hinten. Unser Graben schnitt in 500 Meter Entfernung die Straße Vraucourt—Mory, die durch an den Bäumen befestigte Stoffblenden verschleiert war. Auf einem Hange dahinter eilten feindliche Trupps über das geschoßbestreute Gelände. Den blauen, unbewölkten Abendhimmel durchschnitt ein schwarz-weiß-rot bewimpeltes Geschwader. Die scheidenden Strahlen der Sonne tauchten es gleich einer Kette von Flamingos in zartes Rosenrot. Wir entfalteten unsere Stellungskarten und legten die weiße Rückseite aus, um zu zeigen, wie weit wir uns in den Feind hineingebohrt hatten.
Ein kühler Abendwind kündete eine scharfe Nacht an. Ich lehnte, in einen englischen Mantel gehüllt, an der Grabenwand und unterhielt mich mit dem kleinen Schultz, dem Gefährten meiner Inderpatrouille, der mit vier schweren MG. nach altem kameradschaftlichen Brauche dort erschienen war, wo die Sache am brenzlichsten stand. Auf den Postenständen saßen Leute aller Kompagnien mit jungen, scharfgeschnittenen Gesichtern unterm Stahlhelm. Ihre Führer waren gefallen; sie standen aus eigenem Antrieb am rechten Orte.
Da ertönte von rechts erneut Handgranatenkrachen und links stiegen deutsche Leuchtzeichen hoch. Von irgendwo flatterte mit dem Winde ein dünnes, vielstimmiges Hurra herüber. Das zündete. „Sie sind umgangen, sie sind umgangen!“ In einem jener Augenblicke der Begeisterung, die großen Taten vorangehen, griff alles zu den Gewehren und stürmte in dem Graben vor. Nach kurzem Handgranatengefecht eilte ein Trupp Hochländer der Straße zu. Nun gab es kein Halten mehr. Trotz warnender Zurufe: „Vorsicht, das Maschinengewehr links schießt noch!“ sprangen wir aus dem Graben und hatten im Nu die Straße erreicht, die von verstörten Hochländern wimmelte. Ein langes dichtes Drahtverhau verhinderte ihr Entweichen nach hinten, so daß sie unter tosendem Hurragebrüll und rasendem Schnellfeuer in einer Entfernung von 50 Metern wie eingelapptes Hochwild an uns vorüberlaufen mußten. Rasch aufgebaute Maschinengewehre machten das Gemetzel vernichtend.
Fluchend mit einer Ladehemmung beschäftigt, die mich am Schießen hinderte, wandte ich mich infolge eines Schlages auf die Schulter um, und blickte in das wutverzerrte Gesicht des kleinen Schultz: „Da schießen sie noch, die verfluchten Schweine!“ Ich folgte seiner Handbewegung und sah in einem kleinen Grabengewirre, von uns durch die Straße getrennt, eine Reihe von Gestalten, teils ladend, teils das Gewehr an der Backe. Schon flogen von rechts die ersten Handgranaten, den Oberkörper eines von ihnen hoch in die Luft schleudernd.
Die Vernunft gebot, an meinem Platze zu bleiben und die Gegner in aller Ruhe mit einigen Schüssen zu erledigen. Statt dessen warf ich mein Gewehr fort und stürzte mit geballten Fäusten zwischen beide Parteien auf die Straße. Zum Unglück trug ich noch immer den englischen Mantel und meine rot berandete Feldmütze. Mitten im Hochgefühl des Sieges verspürte ich einen scharfen Schlag an der linken Brustseite; es wurde Nacht um mich. Vorbei! Ich glaubte bestimmt, ins Herz getroffen zu sein, doch empfand ich bei der Erwartung meines sofortigen Todes weder Schmerz noch Angst. Da ich indes zu meinem Erstaunen nicht zusammenbrach und auch kein Loch in der Bluse entdeckte, wandte ich mich wieder dem Feinde zu. Ein Mann meiner Kompagnie stürzte heran: „Herr Leutnant, den Mantel ’runter!“ und riß mir das gefährliche Kleidungsstück von der Schulter.
Ein neues Hurra zerriß die Luft. Von rechts, wo auch schon den ganzen Nachmittag mit Handgranaten gearbeitet worden war, sprang eine Anzahl Deutscher über die Chaussee zur Hilfe herbei, voran ein junger Offizier in braunem Manchester. Es war Kius. Die Schotten wurden in wenigen Augenblicken der Wut durch Gewehr und Handgranaten vernichtet. Die Straße war mit Leichen bedeckt, während die wenigen Überlebenden mit Feuer verfolgt wurden.
Als ich, mich mit Kius unterhaltend, in dem eroberten Grabenstück stand, verspürte ich ein feuchtes Gefühl auf der Brust. Die Bluse herunterreißend, sah ich, daß ich einen Schuß quer über dem Herzen bekommen hatte. Das Geschoß war gerade unter dem E. K. I durchgeflogen, zwei Löcher in der Bluse und zwei im Körper hinterlassend. Ohne Zweifel hatte mich einer der Unseren (ich hatte den, der mir den Mantel abriß, in starkem Verdacht) für einen Engländer gehalten und auf eine Entfernung von wenigen Schritten angeschossen.
Kius legte mir einen Verband um und konnte mich nur mit Mühe bewegen, in diesem interessanten Augenblick das Schlachtfeld zu verlassen. Wir trennten uns mit einem: „Auf Wiedersehen in Hannover!“
Ich wählte mir einen Begleiter, suchte auf der scharf beschossenen Chaussee meine Kartentasche, in der mein Tagebuch steckte und ging durch den Graben, in dem wir uns vorgekämpft hatten, zurück.
Unser Angriffsgeschrei war so gewaltig gewesen, daß die feindliche Artillerie schlagartig eingesetzt hatte. Auf dem Gelände hinter der Straße und vor allem auf dem Graben selbst lag ein Sperrfeuer von seltener Dichte. Ein heiles Durchkommen war wenig wahrscheinlich. Wir bewegten uns sprungweise von Schulterwehr zu Schultermehr zurück.
Plötzlich gab es neben mir am Grabenrande einen schmettern den Krach. Ich bekam einen Schlag auf den Hinterschädel und fiel betäubt vornüber. Als ich erwachte, hing ich mit dem Kopfe nach unten über dem Schlitten eines schweren Maschinengewehrs und starrte auf die Grabensohle in eine sich beängstigend schnell vergrößernde rote Lache. Das Blut sprudelte so unaufhaltsam hervor, daß ich ein Davonkommen für ausgeschlossen hielt. Da mein Begleiter indes behauptete, noch kein Hirn zu sehen, raffte ich mich hoch und lief weiter. Hier hatte ich die Quittung für meinen Leichtsinn, ohne Stahlhelm ins Gefecht zu gehen.
Trotz des doppelten Blutverlustes war ich gewaltig aufgeregt und beschwor jeden, der mir im Graben begegnete, wie von einer fixen Idee besessen, nach vorne zu eilen und sich am Kampfe zu beteiligen. Bald waren wir der Zone der leichten Feldgeschütze entronnen und verlangsamten unser Tempo.
Im Hohlwege von Noreuil kam ich am Brigade-Gefechtsstand vorbei, ließ mich beim Generalmajor Höbel melden, dem ich über unseren Erfolg Bericht erstattete, und bat, den Stürmern mit Reserven zu Hilfe zu kommen. Der General erzählte mir, daß ich bei den Gefechtsständen schon seit gestern tot gesagt wäre. Es war nicht das erste Mal im Kriege.
In Noreuil stand dicht am Wege ein hoher Stapel von Handgranatenkisten in hellen Flammen. Wir eilten mit sehr gemischten Gefühlen daran vorüber. Hinter dem Dorfe nahm mich ein Fahrer mit auf seinen leeren Munitionswagen. Ich geriet scharf mit dem führenden Trainoffizier zusammen, der zwei verwundete Engländer, die mich während des letzten Teiles meines Weges gestützt hatten, vom Wagen werfen lassen wollte.
Auf der Straße Noreuil—Quéant herrschte ein unglaublicher Verkehr. Wer es nicht gesehen hat, kann sich kein Bild von den endlosen Kolonnen machen, die zu einer großen Offensive gehören. Hinter Quéant steigerte sich das Gewühl ins Fabelhafte. Ich wandte mich an einen der durch weiße Binden kenntlichen Verkehrsoffiziere, der mir einen Platz in einem Personenauto zum Feldlazarett Sauchy-Cauchy anwies. Wir mußten oft halbe Stunden warten, wenn ineinandergeschachtelte Wagen und Automobile den Weg sperrten. Die Ärzte im Operationsraum des Feldlazaretts waren fieberhaft beschäftigt; trotzdem wunderte sich der Chirurg über die glückliche Art meiner Verletzungen. Auch die Kopfwunde hatte Ein- und Ausschuß, ohne daß die Schädeldecke beschädigt war.
Nachdem ich während der Nacht vorzüglich geschlafen hatte, wurde ich am nächsten Morgen zur Kranken-Sammelstelle Cantin transportiert, wo ich zu meiner Freude den Leutnant Sprenger antraf, den ich seit Beginn des Sturmes nicht mehr gesehen hatte. Er war durch Infanteriegeschoß am Oberschenkel verwundet.
Nach einem kurzen Aufenthalt im bayrischen Feldlazarett 14 (Montigny) wurden wir in Douai in einen Lazarettzug geladen und fuhren bis Berlin. Dort heilte diese sechste Doppelverwundung bei vierzehntägiger Pflege ebenso gut wie alle vorhergehenden.
Leider erfuhr ich in Hannover, daß unter vielen anderen Bekannten während des Handgemenges auch der kleine Schultz gefallen war. Kius war mit einer harmlosen Bauchwunde abgekommen. Wer unsere Wiedersehensfeier in einer kleinen hannoverschen Bar beobachtete, kam wohl schwerlich auf den Gedanken, daß wir uns erst vor vierzehn Tagen bei einer anderen Musik als dem friedlichen Knalle von Pfropfen getrennt hatten.
Am 4. Juni 1918 kam ich wieder beim Regiment an, das ganz in der Nähe des jetzt weit hinter der Front befindlichen Dorfes Vraucourt in Ruhe lag. Der neue Kommandeur, Major von Lüttichau, übergab mir die Führung meiner alten siebenten Kompagnie.
Als ich mich den Quartieren näherte, liefen mir die Leute entgegen, nahmen mir meine Sachen ab und empfingen mich im Triumph. Es war, als ob ich in den Kreis einer Familie zurückkehrte.
Wir bewohnten ein Häuflein von Wellblechbaracken inmitten einer verwilderten Wiesenlandschaft, aus deren Grün unzählige gelbe Blümchen schimmerten. Das wüste Gelände, das wir „Die Wallachei“ getauft hatten, war durch Herden weidender Pferde bevölkert. Trat man vor die Tür der Hütten, so empfand man jenes beängstigende Gefühl der Leere, von dem der Cowboy, der Beduine und jeder andere Einödbewohner zuweilen gepackt wird. Des Abends machten wir lange Spaziergänge im Umkreise der Baracken und suchten Rebhuhngelege oder im Rasen verborgenes Kriegsmaterial. Eines Nachmittags ritt ich nach dem vor zwei Monaten so hart umkämpften Hohlweg bei Vraucourt, dessen Ränder mit Grabkreuzen besät waren. Ich fand manchen bekannten Namen.
Bald bekam das Regiment Befehl, die vordere Linie der vorm Dorfe Puisieux-au-Mont liegenden Stellung zu besetzen. Wir machten auf Lastautomobilen eine Nachtfahrt bis Achiet-le-Grand. Oft mußten wir halten, wenn die Strahlenkegel der Fallschirm-Leuchtkugeln nächtlicher Bombenflieger das weiße Band der Straße aus dem Dunkel hoben. Nah oder fern wurde das vielfache Pfeifen der schweren Sprengpfeile von den rollenden Stößen der Einschläge verschlungen. Dann tasteten die unsicheren Arme der Scheinwerfer den dunklen Himmel nach den tückischen Nachtvögeln ab, Schrapnells zersprühten wie zierliches Spielzeug, und Leuchtgeschosse jagten in langer Kette gleich feurigen Wölfen hintereinander her.
Ein widriger Geruch nach Leichen lagerte über der eroberten Gegend, bald mehr, bald weniger intensiv, immer aber die Nerven erregend und in eine Stimmung phantastischer und ahnungsvoller Unheimlichkeit hüllend.
„Offensiv-Parfüm“ erscholl neben mir die Stimme eines cynischen alten Kriegers, als wir einige Minuten lang eine Allee von Massengräbern zu passieren schienen.
Von Achiet-le-Grand schritten wir an dem nach Bapaume führenden Bahndamm entlang und dann querbeet auf die Stellung zu. Der Feuerbetrieb war lebhaft. Als wir einen Augenblick rasteten, schlugen zwei mittlere Granaten neben uns ein. Die Erinnerung an die unvergeßliche Schreckensnacht des 19. März trieb uns vorwärts. Dicht hinter der vorderen Linie stand eine abgelöste, lärmende Kompagnie, an der uns das Fatum gerade vorüberführte, als ihr der Mund durch einige Dutzend Schrapnells gestopft wurde. Mit einem Hagel von Schimpfworten stürzten sich meine Leute kopfüber in den nächsten Laufgraben. Drei mußten blutend zum Sanitätsunterstand zurückkehren.
Um 3 Uhr kam ich völlig erschöpft in meinem Unterstande an, dessen drangsalsvolle Enge mir eine Reihe wenig genußreicher Tage in Aussicht stellte.
Das rötliche Licht einer Kerze glühte inmitten einer unbeschreiblichen Dunstwolke. Ich stolperte über ein Gewirr von Beinen und brachte durch die Zauberformel „Ablösung!“ Leben in die Bude. Einem backofenförmigen Loch entstieg eine Kette von Flüchen, dann erschienen nach und nach ein unrasiertes Gesicht, ein Paar ramponierte Achselstücke, eine verwitterte Uniform und zwei Lehmklötze, in denen wahrscheinlich die Stiefel steckten. Wir setzten uns zusammen an den sogenannten Tisch und erledigten das Geschäft der Übergabe, bei dem jeder versuchte, den anderen um ein Dutzend eiserne Portionen und einige Leuchtpistolen zu prellen. Dann würgte sich mein Vorgänger durch den engen Stollenhals ins Freie mit der Prophezeiung, daß das Dreckloch keine drei Tage mehr stehen würde. Ich blieb zurück als neuer Kapitän des Abschnitts A.
Die Stellung, die ich am nächsten Morgen besichtigte, bot wenig Erfreuliches. Gleich vorm Unterstande kamen mir zwei blutende Kaffeeholer entgegen, die im Annäherungswege durch eine Schrapnellladung getroffen waren. Einige Schritte weiter meldete sich der Füsilier A. mit einem Prellschuß ab.
Wir hatten das Dorf Bucquoy vor uns und Puisieux-au-Mont im Rücken. Die Kompagnie lag ungestaffelt in der flachen, schmalen, vorderen Linie und war rechts vom Infanterie-Regiment 76 durch eine große, unbesetzte Lücke getrennt. Der linke Flügel des Regiments-Abschnitts schloß ein zerhacktes Gehölz, das Wäldchen 125, ein. Befehlsgemäß waren keine Stollen ausgeschachtet. Je zwei Mann hausten in kleinen Erdlöchern, die durch sogenannte Siegfriedbleche gestützt waren.
Da mein Unterstand hinter einem ganz anderen Abschnitt lag, suchte ich mir zunächst eine neue Behausung. Ein hüttenartiges Gebilde in einem verfallenen Grabenstück schien mir ganz geeignet, nachdem ich es durch zusammengeschleppte Mordinstrumente in einen verteidigungsfähigen Zustand versetzt hatte. Ich führte dort mit meinem Burschen zusammen ein Leben wie ein Einsiedler im Grünen, das nur zuweilen durch Meldegänger und Ordonnanzen gestört wurde, die den umständlichen Papierkrieg selbst in diese entlegene Höhle trugen. Kopfschüttelnd konnte man dann zwischen den Einschlägen zweier Granaten neben anderen wichtigen Sachen die Neuigkeit lesen, daß dem Ortskommandanten von X. ein schwarzgefleckter Terrier, auf den Namen Zippi hörend, entlaufen wäre; wenn man sich nicht gerade mit grimmigem Humor in die Alimentationsklage der Dienstmagd Makeben gegen den Gefreiten Meyer vertieft hatte. Auch sorgten Zeichnungen und häufige Terminmeldungen für die nötige Abwechslung. Stets hatte man soviel mit der inneren Organisation zu tun, daß man sich um die taktischen Kleinigkeiten kaum noch kümmern konnte. Man wurde auch wenig danach gefragt. Oft schien die fortgeworfene Patronenhülse weit wichtiger. Ich lief jedesmal, wenn mir ein revidierender Vorgesetzter angemeldet wurde, durch den Graben, las Papier und Hülsen auf und instruierte die Posten, wie sie zu melden und die Hacken zusammenzuklappen hätten. Auch daß sie nicht etwa das Verbrechen begingen, dabei das Gesicht vom feindlichen Graben abzuwenden, aus dem sich schon seit drei Monaten kein Nasenzipfel mehr gezeigt hatte, oder gar das Gewehr aus der Hand zu stellen. Dafür waren drei Tage Mittelarrest unbedingte Taxe.
Diese für uns typischen Dinge haben sehr geschadet. Die Form erstickte den Geist. Der Krieg wurde bürokratisiert. Indes hatte der Frontleutnant viel zu viel Disziplin in den Knochen, um das, worüber in jedem Zugführerunterstande vor und nach dem Besuchsschnaps in allen Tonarten geflucht wurde, zur Sprache zu bringen. Trotzdem war er der Berufene, den altpreußischen Geist mit den Formen des neuen Krieges zu verschmelzen.
Doch zurück zu meinem Unterstand, dem ich den schönen Namen „Haus Wahnfried“ verliehen hatte. Den einzigen Kummer machte mir die Deckung, die nur als relativ bombensicher anzusprechen war, das heißt nur solange, wie kein Schuß daraufging. Jedoch tröstete ich mich mit dem Gedanken, in keiner besseren Lage als meine Leute zu sein. Jeden Mittag legte mein Bursche mir eine Decke in einen Riesentrichter, zu dem wir einen Gang gewühlt hatten, um ihn als Sonnenbad einzurichten. Öfters wurde meine Siesta allerdings durch in der Nähe einschlagende Granaten oder die herabsurrenden Sprengstücke von Fliegerbeschießungen gestört.
Die vordere Linie hatte unter feindlichem Feuer verhältnismäßig wenig zu leiden, sie wäre sonst auch bald unhaltbar geworden. Hauptsächlich lagen Puisieux und die benachbarten Mulden unter dauernder Beschießung, die sich in den Abendstunden zu Überfällen von außerordentlicher Dichte steigerte. Essenholen und Ablösung wurden dadurch sehr gefährdet.
Am 14. Juni wurde ich um 2 Uhr morgens von Kius, der auch zurückgekehrt war und die zweite Kompagnie führte, abgelöst. Wir verbrachten unsere Ruhezeit am Bahndamm bei Achiet-le-Grand, unter dessen Schutze unsere Baracken und Unterstände lagen. Der Engländer belegte uns häufig mit schwerem Flachbahnfeuer, dem unter anderen der etatsmäßige Feldwebel der dritten Kompagnie, Rackebrand, zum Opfer fiel. Einige Tage zuvor hatte sich bereits ein furchtbares Unglück ereignet. Ein Flieger hatte seine Bombe mitten in die von einem Zuhörerkranze umringte Kapelle des Infanterie-Regiments 76 geworfen. Unter den Getroffenen befanden sich auch viele 73er.
In der näheren Umgebung des Bahndammes lag eine Reihe zerschossener Tanks, die ich auf meinen Spaziergängen mit Interesse besichtigte. Sie trugen zum Teil spöttische, drohende oder glückbringende Namen und Kriegsbemalungen, waren aber alle übel zugerichtet. Der enge, von Geschossen zerschmetterte Panzerraum mit seinem Gewirr von Rohren, Stangen und Drähten mußte beim Sturm ein äußerst ungemütlicher Aufenthaltsort sein, wenn die Kolosse, um den Flammenschlägen der Artillerie zu entgehen, gleich unbeholfenen Riesenkäfern sich in Bogenlinien über die Walstatt wälzten. Ich dachte lebhaft an die Männer im feurigen Ofen.
Am Morgen des 18. Juni mußte die siebente Kompagnie der unsicheren Lage wegen schon wieder nach Puisieux, um dort dem K. T. K. zum Materialtragen und taktischer Verwendung zur Verfügung zu stehen. Wir bezogen am Ausgang nach Bucquoy liegende Keller und Stollen. Gerade als wir ankamen, hieb eine Gruppe schwerer Granaten in die umliegenden Gärten. Trotzdem ließ ich mich nicht abhalten, in einer kleinen Laube vorm Eingang meines Stollens zu frühstücken. Nach einer Weile brauste es wieder heran. Ich warf mich hin. Neben mir flammte es auf. Ein in der Nähe stehender Sanitäter meiner Kompagnie, der mit einigen Kochgeschirren voll Wasser vorbeikam, brach durch den Unterleib getroffen, zusammen. Wir verbanden ihn, während große Schweißtropfen auf seine Stirne traten. Als ich versuchte, ihn zu trösten, stöhnte er hervor: „Der Schuß ist tödlich, ich fühle es ganz genau.“ Trotz dieser Prophezeiung konnte ich ihm nach einem halben Jahre beim Einzuge in Hannover die Hand schütteln.
Am Nachmittage machte ich einen einsamen Spaziergang durch das völlig zerstörte Puisieux. Das Dorf war schon während der Sommeschlachten zu einem Trümmerhaufen zusammengehämmert. Trichter und Mauerreste waren mit dichtem Grün überzogen, aus dem überall die weißen Scheiben des ruinenfreundlichen Hollunders leuchteten. Zahlreiche frische Geschoßeinschläge hatten das hüllende Gewebe zerrissen und die schon so oft umgewühlte Erde der Gärten von neuem bloßgelegt.
Die Dorfstraße war mit dem Kriegsschutt des zum Stillstand gekommenen Vormarsches besäumt. Zerschossene Wagen, weggeworfene Munition, Nahkampfmittel und die Umrisse halbverwester Pferde, von blitzenden Fliegenwolken umbraust, verkündeten die Nichtigkeit aller Dinge im Kampfe ums Leben. Die auf dem höchsten Punkt ragende Kirche bestand nur noch aus einem wüsten Steinhaufen. Während ich einen Strauß wundervoller verwilderter Rosen pflückte, mahnten mich einschlagende Granaten zur Vorsicht auf diesem Tanzplatz des Todes.
Nach einigen Tagen lösten wir die neunte Kompagnie in der Hauptwiderstandslinie, die ungefähr 500 Meter hinter der vorderen lag, ab. Dabei wurden drei Leute meiner Kompagnie verwundet. Am folgenden Morgen wurde in der Nähe meines Unterstandes der Hauptmann von Ledebour durch eine Schrapnellkugel am Fuß verletzt. Obwohl schwer lungenkrank, fühlte er doch im Kampfe seine Bestimmung. So mußte er der geringen Wunde erliegen. Er starb kurze Zeit darauf im Lazarett. Am 28. wurde der Führer meiner Essenholer durch einen Granatsplitter getroffen. Dies war der neunte Verlust in der Kompagnie binnen kurzer Zeit.
Nachdem wir eine Woche in vorderer Linie gelegen hatten, mußten wir nochmals die Hauptwiderstandslinie besetzen, da unser Ablösungsbataillon durch die spanische Krankheit fast aufgelöst war. Auch von unseren Leuten meldeten sich täglich mehrere krank. Bei der Nachbardivision wütete die Grippe so stark, daß ein feindlicher Flieger Zettel abwarf, auf denen stand, daß der Engländer die Ablösung übernehmen würde, wenn die Truppe nicht bald zurückgezogen würde. Doch erfuhren wir, daß sich die Seuche auch auf der Gegenseite mehr und mehr ausbreitete. Bei uns traten noch verschärfend die schlechten Verpflegungsverhältnisse hinzu. Dabei standen wir dauernd in höchster Gefechtsbereitschaft, da das Wäldchen 125 durch fortwährende Höchstbeschießung dauernd bedroht war. Infolge der Explosionsgase war dort ein Teil der sechsten Kompagnie an Kohlenoxydvergiftung erkrankt. Wir mußten viele Leute mit Sauerstoffapparaten herausholen.
Eines Nachmittags fand ich beim Durchschreiten meines Abschnittes mehrere vergrabene Kästen voll englischer Munition und sprengte mir in meinem Leichtsinn beim Auseinandernehmen einer Gewehrgranate die Kuppe des rechten Zeigefingers ab. Am selben Abend platzte, als ich mit dem Leutnant Sprenger auf der Deckung meines Unterstandes stand, eine schwere Granate in der Nähe. Wir stritten uns über die Entfernung, die Sprenger auf 10, ich auf 30 Meter schätzte. Um zu sehen, wie weit ich meinen Angaben in dieser Beziehung trauen könnte, maß ich nach und fand den Trichter 22 Meter von unserem Standorte entfernt. Man ist leicht geneigt, die Entfernung zu unterschätzen.
Am 20. Juli lag ich mit meiner Kompagnie wieder in Puisieux. Den ganzen Nachmittag stand ich auf einem Mauerrest und beobachtete das Gefechtsbild, das einen sehr verdächtigen Eindruck machte.
Das Wäldchen 125 wurde oft durch mächtige Feuerstöße in dichten Qualm gehüllt, während grüne und rote Leuchtkugeln auf- und niederstiegen. Manchmal schwieg das Artilleriefeuer, dann hörte man das Tacken einiger Maschinengewehre und den matten Knall entfernter Handgranaten. Das Ganze sah sich von meinem Standorte fast wie ein zierliches Spiel an. Es fehlte das Gewaltige des Großkampfes, und doch spürte man das erbitterte Ringen zwischen zwei ehernen Kräften. . . . . .
Aus dem leeren, weiten Gelände starren die Augen tausend Verborgener nach dem kleinen Waldstück, aus dem in wechselndem Reigen braune Erdbrunnen die Gipfel der stürzenden Eichbäume umtanzen. In der Tiefe des Umkreises staffeln in Gräben, Trichtern, Höhlen und Ruinen Menschen und Material, des Einsatzes gegen das von zerhackten Strünken bedeckte Stück Erde harrend.
Weit hinten an zwei Gegenpolen sitzen zwei Generale an kartenverdeckten Tischen. Eine Meldung, ein kurzer Vortrag, einige Sätze an einen Ordonnanzoffizier, ein Telephongespräch. Eine Stunde später umflammen die Blitze eines neuen Feuerstoßes die alten Trichter, eine frische Menschenhekatombe verblutet in stickigem Qualm. . . . . .
Gegen Abend wurde ich zum Bereitschaftskommandeur berufen, wo ich erfuhr, daß der Gegner am linken Flügel in unser Grabensystem eingedrungen wäre. Um uns wieder etwas Vorfeld zu schaffen, war befohlen, daß der Leutnant Petersen mit der Sturmkompagnie den Heckengraben, ich mit meinen Leuten einen ihm in einer Mulde parallel laufenden Annäherungsweg aufräumen sollte. Wir zogen im Morgengrauen los, bekamen aber schon in unserer Sturmausgangsstellung so starkes Infanteriefeuer, daß wir vorläufig auf die Ausführung verzichteten. Ich ließ den Elbinger Weg besetzen und holte in einem riesigen Höhlenstollen den versäumten Nachtschlaf nach. Um 11 Uhr vormittags weckte mich Handgranatenkrachen vom linken Flügel, wo wir eine Barrikade besetzt hielten. Ich eilte hin und fand das übliche Bild des Barrikadenkampfes. Bei der Verschanzung wirbelten weiße Handgranatenwolken, einige Schulterwehren zurück rasselte auf jeder Seite ein Maschinengewehr. Dazwischen Leute geduckt vor und zurückspringend. Der kleine Handstreich der Engländer war bereits abgeschlagen, hatte uns jedoch einen Mann gekostet, der, von Handgranatensplittern zerrissen, hinter der Barrikade lag.
Gegen Abend bekam ich Befehl, die Kompagnie nach Puisieux zurückzuführen, wo ich bei der Ankunft die Order vorfand, mich am nächsten Morgen mit zwei Gruppen an dem Aufrollen des Grabens in der Mulde zu beteiligen. Um 3.40 Uhr brachen wir, das heißt der Leutnant Voigt von der Sturmkompagnie mit einem Stoßtrupp und ich mit meinen beiden Gruppen zur Ausgangsstellung auf. Wir hatten Befehl, den Graben nach einer fünfminutigen Artillerie- und Minenvorbereitung vom Rotpunkt K bis zum Rotpunkt Z1 aufzuteilen.
Ich darf nicht verschweigen, daß wir beide die Feuervorbereitung und überhaupt das Nehmen und Besetzen des tief in der Mulde liegenden, von allen Seiten eingesehenen Grabens für unnötig und verkehrt hielten. Der entscheidende Punkt war der Heckengraben; wollte man angreifen, so mußte man ihn nehmen und war dann auch im Besitze der Mulde. Ich hegte den bestimmten Verdacht, daß der Angriff von hinten nach der Karte befohlen war, denn wer das Gelände vor Augen hatte, konnte keine derartigen Anordnungen treffen.
Nach der Vorbereitung, bei der einer unserer Leute verwundet wurde, traten wir an und rollten den Graben auf. Kurz vor Z1 stießen wir auf Widerstand, der durch Handgranaten gebrochen wurde. Da wir unser Ziel erreicht hatten und auf weiteren Kampf nicht erpicht waren, bauten wir eine Barrikade und ließen eine Gruppe mit einem Maschinengewehr dahinter zurück.
Das einzige Vergnügen an der Sache bereitete mir das Benehmen der Leute vom Sturmtrupp, die mich lebhaft an Grimmelshausens Simplizissimus erinnerten. Diese jungen Krieger mit gewaltigen Haarschöpfen und Wickelgamaschen gerieten 20 Meter vorm Feinde in einen heftigen Streit, weil einer den anderen Schlappsack geschimpft hatte und fluchten dabei wie die Landsknechte. „Mensch, alle haben doch nicht so’n Schiß wie du!“, schrie zuletzt einer und rollte allein noch 50 Meter Graben auf.
Schon am Nachmittag kam die Barrikadengruppe zurück. Sie hatte Verluste gehabt und sich nicht länger halten können. Ich hatte die Leute bereits aufgegeben und wunderte mich, daß überhaupt jemand lebend bei Licht den langen Schlauch des Muldengrabens hatte passieren können. Das sind die Folgen des Papierkrieges.
Trotz unserer Gegenstöße saß der Feind fest im linken Flügel unserer vorderen Linie und in den verbarrikadierten Verbindungswegen, die Hauptwiderstandslinie bedrohend.
Am 24. Juli begab ich mich zur Orientierung in den neuen Abschnitt C der Hauptwiderstandslinie, den ich am nächsten Tage übernehmen sollte. Ich ließ mir von dem Kompagnieführer, Leutnant Gipkens, die Barrikade am Heckengraben zeigen und setzte mich neben ihn auf einen Postenstand. Plötzlich packte mich Gipkens und riß mich zur Seite. Im nächsten Augenblick spritzte ein Geschoß auf dem Sand meines Sitzplatzes auseinander. Durch einen glücklichen Zufall hatte er beobachtet, wie ein Gewehr langsam aus einer Schießscharte der 40 Meter entfernten feindlichen Barrikade geschoben wurde und mir so durch seine scharfen Künstleraugen das Leben gerettet. Wie mir nachher erzählt wurde, waren an dieser so harmlos aussehenden Stelle schon drei Mann der neunten Kompagnie durch Kopfschuß gefallen. Am Nachmittag wurde ich durch eine nicht sonderlich starke Schießerei aus meinem Bunker gelockt, in dem ich gerade gemütlich lesend am Kaffeetische saß. Vorn stiegen beständig Sperrfeuerzeichen hoch. Zurückhumpelnde Verwundete erzählten, daß die Engländer in den Abschnitten B und C in die Hauptwiderstandslinie, in A ins Vorfeld eingedrungen wären. Gleich darauf kam die Unglücksbotschaft, daß die Leutnants Vorbeck und Grieshaber bei der Verteidigung ihrer Abschnitte gefallen, Leutnant Kastner schwer verwundet wäre. Um 8 Uhr kam auch der Leutnant Sprenger, der stellvertretend die fünfte Kompagnie geführt hatte, mit einem Splitter im Rücken in meinen Unterstand, kräftigte sich durch einen „Blick in die Röhre“ und begab sich mit dem Zitat: „Rückwärts, rückwärts, Don Rodrigo“ zum Verbandplatze. Ihm folgte sein Freund, Leutnant Domeyer, mit blutender Hand.
Am nächsten Morgen lösten wir die Besatzung des Abschnittes C ab, der inzwischen wieder vom Feinde geräumt war. Ich fand dort Pioniere Boje und Kius mit einem Teile der zweiten, Gipkens mit den Resten der neunten Kompagnie vor. Im Graben lagen acht tote Deutsche und zwei Engländer (Mützenschild: South-Africa, Otago-Rifles). Alle waren durch Handgranatentreffer übel zugerichtet. Ihre angstverzerrten Gesichter wiesen furchtbare Verletzungen auf. Zweien waren beide Augen ausgeschossen.
Als ich mich mit Boje und Kius in unserem gewöhnlichen pessimistisch-ironischen Ton begrüßte, fühlte ich die entsetzten Augen eines meiner Rekruten, eines Seminaristen, auf mir ruhen. Ich durchschaute seinen Gedankengang und erschrak zum erstenmale über die abstumpfende Wirkung des Krieges. Man kam dazu, den Menschen nur noch als Sache zu betrachten.
Ich ließ die Barrikade besetzen und den Graben aufräumen. Um 11.45 Uhr eröffnete, ohne daß wir zuvor benachrichtigt wurden, die eigene Artillerie ein wildes Feuer auf die vor uns liegende Stellung, bei dem wir jedoch mehr Treffer bekamen als die Engländer. Das Unglück ließ nicht lange auf sich warten. Der Ruf „Sanitäter!“ flog von links durch den Graben. Hineilend, fand ich vor der Barrikade im Heckengraben eine unförmliche Leichenmasse, die Überreste meines besten Zugführers. Er hatte den Volltreffer einer eignen Granate mitten ins Kreuz bekommen. Uniform- und Wäschefetzen, die ihm der Druck der Explosion vom Leibe gerissen hatte, hingen über ihm im zerhackten Gezweig einer Weißdornhecke. Ich ließ eine Zeltbahn über ihn werfen, um den Leuten den Anblick zu ersparen. Gleich darauf wurden an derselben Stelle noch drei Mann verwundet, einem von ihnen beide Hände am Gelenk durchschlagen. Er taumelte mit totbleichem Gesicht, die Arme auf die Schultern einen Krankenträgers gelegt, blutüberspritzt zurück. Der Gefreite Ehlers wand sich, vom Luftdruck betäubt, auf der Erde.
Ich sandte einen Protest nach dem andern an die Befehlsstellen und forderte dringend Einstellung des Feuers oder die Anwesenheit von Artillerieoffizieren im Graben. Statt aller Antwort setzte noch ein schwerer Minenwerfer ein und machte mir den Graben vollends zur Fleischbank. Überall lagen Blut, Hirn und Fleischfetzen, auf denen sich Schwärme von Fliegen sammelten.
Um 7.15 Uhr (!) bekam ich einen Befehl, demzufolge 7.30 Uhr starkes Artilleriefeuer einsetzen und um 8 Uhr zwei Gruppen der Sturmkompagnie unter Leutnant Voigt über die Barrikade des Heckengrabens vorbrechen sollten, um bis zum Rotpunkt A aufzurollen und nach rechts Verbindung mit einer parallel vorgehenden Stoßtruppe herzustellen. Zwei Gruppen meiner Kompagnie sollten zur Besetzung des eroberten Grabenstückes folgen.
Ich traf in aller Eile, während schon das Artilleriefeuer einsetzte, die nötigen Anordnungen, bestimmte zwei Gruppen und sprach kurz mit dem Leutnant Voigt, der einige Minuten später befehlsgemäß vorging. Ich hielt die Sache mehr für einen Abendspaziergang und schlenderte in Mütze, eine Stielhandgranate unterm Arm, hinter meinen beiden Gruppen her. Im Augenblick des Angriffs richteten sich die Gewehre der ganzen Gegend auf den Heckengraben. Wir sprangen gebückt von Schulterwehr zu Schulterwehr. Es ging sehr schön vorwärts, die Engländer flüchteten unter Zurücklassung eines Toten in eine rückwärtige Linie.
Ich hatte als Letzter gerade die Einmündung eines links abzweigenden Grabens passiert, als mein Vordermann, ein Unteroffizier, einen Schrei höchster Erregung ausstieß und mir am Kopf vorbei nach links schoß. Da ich mir sein Benehmen nicht erklären konnte, ging ich einige Schritt zurück und stand plötzlich einem athletisch gebauten Engländer in dem Augenblick, als er dem fliehenden Unteroffizier eine Handgranate nachschleuderte, gegenüber. Gleichzeitig ertönte von allen Seiten das Angriffsgeschrei anderer, die über Deckung heranstürmten, um uns abzuschneiden. Ich zog die Handgranate, meine einzige Waffe, ab und schleuderte sie in kurzem Zirkel dem Tommy vor die Füße. Dann gab ich, von Handgranaten umkracht, Fersengeld in der Richtung auf unseren Graben. Ein einziger, der kleine Wilzek von meiner Kompagnie, hatte die Besonnenheit, hinter mir herzulaufen. Ein uns nachgeworfenes Eisenei zerriß ihm Koppel und Hosenboden, ohne ihn weiter zu verletzen.
Voigt und die anderen Leute, die nach vorn ausgewichen waren, schienen umringt und verloren. Kampfgeschrei und zahlreiche Explosionen kündeten, daß sie ihr Leben teuer verkauften.
Um ihnen zu Hilfe zu kommen, führte ich die Gruppe des Fahnenjunker-Unteroffiziers Mohrmann durch den Heckengraben vor. Wir mußten indes vor einer Sperre hageldicht einschlagender Flaschenminen Halt machen. Ein Splitter flog mir gegen die Brust und wurde von der Hosenträgerschnalle abgefangen. Außerdem brach schlagartig ein Artilleriefeuer von gewaltiger Stärke los.
Rings spritzten Erdstrahlen aus farbigen Dämpfen, metallisches Geschmetter durchschrie das dumpfe Dröhnen schwerer Schläge, Eisenblöcke brausten in unheimlicher Kürze heran, dazwischen sangen und schwirrten Wolken von Splittern. Da ein Angriff zu befürchten stand, setzte ich mir einen herumliegenden Stahlhelm auf und eilte mit einigen Begleitern in den Kampfgraben zurück.
Drüben tauchten Gestalten auf. Wir legten uns auf die zerwalzte Grabenwand und schossen. Neben mir fingerte ein ganz junger Krieger mit fiebernden Händen am Ladehebel seines Maschinengewehres, ohne einen Schuß aus dem Lauf zu bekommen. Einige Engländer klappten um, die andern verschwanden im Graben, während das Feuer immer toller wurde. Die eigene Artillerie schien keine Parteien mehr zu kennen.
Als ich, von einer Gefechtsordonnanz gefolgt, zu meinem Bunker schritt, schlug irgend etwas zwischen uns in die Wand, riß mir mit enormer Wucht den Stahlhelm vom Kopf und schleuderte ihn weit weg. Ich glaubte, eine ganze Schrapnell-Ladung erhalten zu haben, und legte mich halb betäubt in mein Fuchsloch, auf dessen Rand einige Sekunden später eine Granate schlug, den kleinen Raum mit dichtem Qualen füllend. Ein langer Splitter zerschmetterte eine Büchse voll Gurken, die neben meinen Füßen lag. Um nicht verschüttet zu werden, kroch ich wieder in den Graben und spornte die beiden Gefechtsordonnanzen und meinen Burschen zur Wachsamkeit an.
Es war eine wirklich unangenehme halbe Stunde, während deren die Kompagnie viele Verluste hatte. Nachdem die Feuerwelle verebbt war, ging ich durch den Graben, besah den Schaden und stellte fest, wieviel Leute mir noch zur Verfügung standen. Da die Kopfzahl von 15 Mann zur Linearverteidigung zu gering war, übertrug ich dem Fahnenjunker Mohrmann und drei Leuten die Verteidigung der Barrikade, zog die Trümmer zu einem Schützenigel in einem Riesentrichter hinter der eigenen Linie zusammen und ließ alle Handgranaten dort anhäufen. Mein Plan war, den angreifenden Gegner ruhig in den Graben kommen zu lassen, um ihn dann auf einen Pfiff von oben her zusammenzuknallen. Jedoch beschränkte sich die Kampftätigkeit auf ein fortwährendes Geplänkel mit leichten Minen, Gewehr- und Handgranaten.
Am 27. Juli wurden wir durch eine Kompagnie des Infanterie-Regiments 164 abgelöst. Wir waren auch restlos ausgepumpt. Der Führer dieser Kompagnie wurde schon beim Anmarsch schwer verwundet; einige Tage später wurde mein Bunker eingeschossen und begrub seinen Nachfolger. Wir atmeten alle erleichtert auf, als wir das vom heraufziehenden Gewitter der großen Endoffensive umgrollte Puisieux im Rücken hatten.
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Div. Gef. Stand, 12. 8. 18.
Divisionstagesbefehl.
Das Füsilier-Regt. 73 hat seinen hohen Ruf als tapfere, kampferprobte Truppe in den harten Kämpfen am 25. 7. gegen einen an Zahl weit überlegenen Gegner erneut aufs glänzendste in Verteidigung und Gegenstößen bewiesen. Ich erkenne das um so lieber an, als ich wohl weiß, welch hohe Anforderungen an die Truppen der Division bei dem langen Einsatz an schwieriger Front an Ausdauer und Pflichttreue gestellt werden müssen für unser geliebtes Vaterland.
Insbesondere verdient Leutnant Jünger, schon sechsmal verwundet und diesmal wie immer ein leuchtendes Vorbild für Offiziere und Mannschaften, erneute Anerkennung.
v. Busse,
Generalmajor und Divisions-Kommandeur.
Am 30. Juli 1918 bezogen wir Ruhequartiere in Sauchy-Léstrée, einer wasserumglänzten Perle des Artois. Nach einigen Tagen marschierten wir noch weiter zurück nach Escaudoeuvres, einem kleinen, nüchternen Arbeitervorstädtchen von Cambrai.
Ich bewohnte in der Rue-des-Bouchers das typische Staatszimmer eines nordfranzösischen Arbeiterhäuschens. Das übliche Riesenbett als ominöses Hauptmöbel, ein Kamin mit scheußlichen roten und blauen Glasvasen auf dem Sims, ein runder Tisch, Stühle; an den Wänden einige der furchtbaren Farbendrucke des Familistère, Vive la classe, souvenir de première communion, Postkarten und anderer Plunder. Alles zusammen der Gipfel von Talmi, verlogener Sentimentalität und Ungemütlichkeit. Ich fühlte mich inmitten dieser selbstgefälligen Geschmacklosigkeit unbehaglicher als im nässesten Stollen und versuchte, wenigstens durch einen auf dem Tisch gestapelten Kartenstoß und die auf das Familienbett geschleuderten Reitstiefel meine Anwesenheit etwas zu motivieren.
Die hellen Vollmondnächte begünstigten den häufigen Besuch feindlicher Flieger, der uns einen Begriff von der erdrückenden Materialüberlegenheit auf der Gegenseite gab. Nacht für Nacht schwebten mehrere Geschwader heran und ließen Bomben von unheimlicher Brisanz auf Cambrai und die Vorstädte fallen. Ich wurde weniger durch das feine, moskitoartige Summen der Motore und die Gruppen lang widerhallender Detonationen als durch das ängstliche In-den-Keller-Stürzen meiner Wirtsleute gestört. Einen Tag vor meiner Ankunft war allerdings eine Bombe vor dem Fenster aufgeschlagen, hatte den in meinem Bette schlafenden Hausherrn betäubt ins Zimmer geschleudert und die Mauern von Splittern durchlöchert. Gerade dieser Zufall gab mir indes die Beruhigung, daß eine Wiederholung ziemlich unwahrscheinlich sein würde.
Nach einem Ruhetage setzte die verhaßte, aber unentbehrliche Ausbildungsleier wieder ein. Exerzieren, Unterricht, Appells, Besprechungen und Besichtigungen füllten einen großen Teil des Tages. Einen ganzen Vormittag verbrachten wir sogar damit, einen ehrengerichtlichen Spruch zu fällen. Die Verpflegung war wieder einmal miserabel. Eine Zeitlang gab es als Abendportion nur Gurken, denen der trockene Humor der Leute den trefflichen Namen „Gärtnerwurst“ beilegte.
Es war nicht leicht, meine dezimierte Kompagnie wieder zu einer Einheit zusammenzuschmelzen. Trotzdem mir die Notwendigkeit klar war, empfand ich es oft peinlich, immer wieder mit den Kleinigkeiten des Exerzierens an die Leute herantreten zu müssen. Der Drill wird als Mittel zum Zweck bei keinem Heere zu entbehren sein, er läßt sich weder durch individuelle noch durch sportliche Erziehung ganz ersetzen. Ein Mann, dessen innerer Wert nicht über jeden Zweifel erhaben ist, muß bis zum Stumpfsinn gehorchen lernen, damit seine Triebe auch in den schrecklichsten Momenten durch den geistigen Zwang des Führers gezügelt werden können.
Vor allem widmete ich mich der Ausbildung einer Stoßtruppe, da mir im Verlaufe des Krieges immer klarer geworden war, daß aller Erfolg der Tat des einzelnen entspringt, während die Masse der Mitläufer nur Stoß- und Feuerkraft darstellt. Lieber Führer einer entschlossenen Gruppe als einer zaghaften Kompagnie.
Meine Freizeit verbrachte ich mit Lesen, Baden, Schießen und Reiten. Auf den Spazierritten fand ich massenhaft herabgeworfene Flugblätter, die den Prozeß der moralischen Zersetzung unserer Armee beschleunigen sollten. Es war sogar ein Gedicht Schillers vom freien Britannien dabei. Ich fand es recht klug vom Engländer, das deutsche Gemüt mit Gedichten zu bombardieren, und auch recht schmeichelhaft für uns. Ein Krieg, in dem man sich durch Verse bekämpft, wäre eine recht segensreiche Erfindung. Die Fundprämie von 30 Pf. pro Exemplar verriet, daß die Heeresleitung die Gefährlichkeit dieser vergifteten Waffen nicht gering schätzte. Die Unkosten wurden allerdings der Bevölkerung des besetzten Gebietes zur Last gelegt. Wir schienen also doch nicht mehr das ganz reine Verständnis für Poesie zu besitzen.
Eines Nachmittags setzte ich mich aufs Rad und fuhr nach Cambrai. Das liebe, alte Städtchen war wüst und öde geworden. Läden und Kaffees waren geschlossen; die Straßen schienen tot trotz der feldgrauen Woge, die sie durchflutete. Ich fand Herrn und Frau Plancot, die mir das Jahr zuvor ein so schönes Quartier geboten hatten, herzlich erfreut über meinen Besuch. Sie erzählten mir, daß sich die Verhältnisse in Cambrai in jeder Beziehung verschlechtert hätten. Besondere beklagten sie sich über die häufigen Fliegerbesuche, die sie zwängen, des Nachts oft mehrere Male die Treppen auf und nieder zu rennen, über das Problem streitend, ob es ratsamer sei, im ersten Keller durch die Bombe selbst oder im zweiten durch Verschüttung umzukommen. Die alten Herrschaften mit den sorgenvollen Mienen taten mir herzlich leid. Einige Wochen später mußten sie Hals über Kopf infolge der Beschießung das Haus verlassen, in dem sie ihr Leben verbracht hatten.
Am 23. August gegen 11 Uhr wurde ich durch heftiges Pochen gegen meine Tür hochgeschreckt, als ich gerade sanft eingeschlafen war. Eine Ordonnanz brachte Marschbefehl. Schon tags vorher war von der Front das eintönige Rollen und Stampfen eines ungewöhnlich heftigen Artilleriefeuers herübergebrandet und hatte uns beim Dienst, beim Essen und beim Kartenspiel gemahnt, uns keinen Illusionen in bezug auf eine längere Dauer unserer Ruhezeit hinzugeben. Für dieses Brodeln entfernten Kanonendonners hatten wir den klangvollen Frontausdruck „es wummert“ geprägt.
Rasch packten wir und traten während eines wolkenbruchartigen Gewitters auf der Straße nach Cambrai an. Unser Marschziel war Marquion, wo wir gegen 5 Uhr morgens eintrafen. Der Kompagnie wurde ein großer, von einer Reihe demolierter Stallgebäude eingeschlossener Hof zugewiesen, indem sich jeder so gut wie möglich unterbrachte. Ich kroch mit meinem einzigen Kompagnieoffizier, dem Leutnant Schrader, in ein kleines Backsteinverließ, das zu friedlicheren Zeiten anscheinend als Ziegenstall fungiert hatte, jetzt allerdings nur noch von einigen großen Ratten bewohnt war.
Am Nachmittag war eine Offiziersbesprechung, bei der wir erfuhren, daß wir in der Nacht rechts der großen Straße Cambrai—Bapaume unweit Beugny bereitgestellt werden sollten. Wir wurden vor einem wahrscheinlichen Angriff der neuen, schnellen und wendigen Tanks gewarnt.
Ich teilte meine Kompagnie in einem kleinen Obstgarten zum Gefecht ein. Unter einem Apfelbaume stehend, sprach ich ein paar Worte zu den Leuten, die mich im Hufeisen umschlossen. Ihre Gesichter sahen ernst und männlich aus. Es war wenig zu sagen. Jeder wußte, daß wir nicht mehr siegen konnten. Aber der Gegner sollte sehen, daß er gegen Männer von Ehre kämpfte.
Bei solchen Gelegenheiten vermied ich, mich vom Draufgängertum fortreißen zu lassen. Es wäre wenig taktvoll gewesen, den Leuten, die zum Teil mit der Angst um Frau und Kind zur Vernichtung zogen, zu zeigen, daß man der Schlacht mit einer gewissen Lust entgegensah. Auch war es mein Grundsatz, nicht durch große Worte zum Mute anzuspornen oder den Feigling zu bedrohen. Ich suggerierte: Ich weiß genau, daß mich niemand im Stiche läßt. Wir haben alle Angst, aber wir müssen dagegen kämpfen. Es ist menschlich, wenn jemand von seiner Schwäche übermannt wird. Er muß dann auf seinen Führer und die Kameraden sehen. Schon beim Sprechen fühlte ich, daß solche Worte den Leuten verständlich waren. Die Erfolge rechtfertigten diese psychologische Vorbereitung in glänzender Weise.
An unserem aus einer Karre und einer Haustür improvisierten Tisch aß ich im Hof mit Schrader zu Abend und trank eine Flasche Wein dazu. Dann rollten wir uns in unseren Ziegenstall, bis uns um 2 Uhr morgens der Posten meldete, daß die Lastautos auf dem Marktplatz verladebereit ständen.
In geisterhafter Beleuchtung rasselten wir durch das kampfzerwühlte Gelände der vorjährigen Cambraischlacht und wanden uns durch die von Trümmerwällen eingefaßten Dorfstraßen abenteuerlich zerschossener Nester. Dicht vor Beugny wurden wir ausgeladen und in unsere Aufstellungsräume geführt. Das Bataillon besetzte einen Hohlweg an der Straße Beugny—Vaux. In den Vormittagsstunden brachte eine Ordonnanz den Befehl, daß sich die Kompagnie bis an die Straße Frémicourt—Vaux vorzuschieben hätte. Dies typische Vorrücken gab mir die Gewißheit, daß uns bis zum Abend noch Blutiges bevorstand.
Ich schlängelte meine drei Züge in Reihen durch das Gelände, das kreisende Flieger mit Bomben und Geschossen bestreuten. Am Ziele verteilten wir uns in Trichter und Erdlöcher, da vereinzelte Granaten bis über die Straße hinausgriffen.
Ich befand mich an diesem Tage so schlecht, daß ich mich sofort in ein kleines Grabenstück legte und einschlief. Nach dem Erwachen las ich in Laurence Sterne’s „Tristram Shandy“ und verbrachte so, mit der Gleichgültigkeit eines Kranken, in der warmen Sonne liegend, den Nachmittag. Ab und zu trank ich einen Schluck Wermut.
Um 6.15 Uhr nachmittags rief ein Gefechtsläufer die Kompagnieführer zum Hauptmann von Weyhe.
„Ich habe Ihnen die ernste Mitteilung zu machen, daß wir angreifen. Das Bataillon tritt nach halbstündiger Feuervorbereitung um 7 Uhr (!) vom Westrande Favreuil zum Sturm an. Marschrichtungspunkt der Kirchturm von Sapignies.“
Nach kurzem hin und her und einem kräftigen Händedruck stürzten wir zu den Kompagnien, da das Feuer in zehn Minuten beginnen sollte und wir noch eine große Strecke zu marschieren hatten. Ich verständigte meine Zugführer und ließ antreten.
„Die Gruppen in Reihe zu einem mit 20 Meter Zwischenraum. Marschrichtung halblinks die Baumkronen von Favreuil!“
Ein gutes Zeichen für den Geist, der in den Leuten steckte, war, daß ich einen Mann bestimmen mußte, zurückzubleiben, um die Feldküche zu benachrichtigen. Freiwillig hatte sich keiner melden mögen.
Ich schritt mit meinem Kompagniestabe und dem Feldwebel Reinecke, der die Gegend genau kannte, weit vor der Kompagnie. Hinter Hecken und Ruinen sprangen die Abschüsse unserer Geschütze auf. Das Feuer glich mehr einem wütenden Gebell als einer vernichtenden Sturmwelle. Hinter mir sah ich meine Gruppen in bewunderungswürdiger Ordnung vorgehen. Neben ihnen staubten die Wölkchen der Fliegergeschosse auf, Kugelladungen, Hohlbläser und Treibplatten von Schrapnells fuhren mit höllischem Fauchen durch die Zwischenräume der schmalen Menschenstreifen. Rechts lag das schwer beschossene Beugnâtre, aus dem gezackte Eisenstücke schwerfällig herüberbrummten und sich mit kurzem Schlag in den lehmigen Boden stanzten.
Noch ungemütlicher wurde der Anmarsch hinter der Straße Beugnâtre—Bapaume. Plötzlich platzte eine Reihe von Brisanzgranaten vor, hinter und zwischen uns. Wir spritzten auseinander und warfen uns in die Trichter. Ich stürzte mit dem Knie in das Angstprodukt eines Vorgängers und ließ in der Eile von meinem Burschen mit dem Messer eine grobe Säuberung vornehmen.
Um den Dorfrand Favreuil ballten sich die Wolken zahlreicher Einschläge, dazwischen stiegen und fielen braune Erdsäulen in hastigem Wechsel. Um mich zu orientieren, ging ich allein bis zu den ersten Ruinen vor und gab dann mit dem Spazierstock das Zeichen zum Folgen.
Das Dorf war von zerschossenen Baracken umsäumt, bei denen sich allmählich Teile des ersten und zweiten Bataillons sammelten. Während des letzten Wegabschnittes forderte ein Maschinengewehr verschiedene Opfer. Unter anderen erhielt der Vizefeldwebel Balg von meiner Kompagnie einen Schuß durchs Bein. Eine Gestalt in braunem Manchester schritt gleichgültig über das beschossene Stück und schüttelte mir die Hand. Kius und Boje, Hauptmann Junker und Schaper, Schrader, Schläger, Heins, Findeisen, Höhlemann und Hoppenrath standen hinter einer von Blei und Eisen durchfegten Hecke und hielten ein großes Angriffspalaver. Wir hatten an manchem Tage des Zorns auf einem Felde gefochten, und auch diesmal sollte die schon tief im Westen stehende Sonne noch das Blut fast aller bestrahlen.
Teile des I. Bataillons rückten in den Schloßpark. Vom II. Bataillon hatten nur meine und die fünfte Kompagnie ungefähr vollzählig den flammenden Vorhang durchschritten. Wir arbeiteten uns durch Trichter und Häusertrümmer zu einem Hohlweg am Westrande des Dorfes vor. Unterwegs stülpte ich mir einen gefundenen Stahlhelm aufs Haupt, eine Handlung, die ich nur in kritischen Momenten vorzunehmen pflegte. Zu meinem Erstaunen lag Favreuil vollkommen tot da, die Besatzung hatte anscheinend ihren Verteidigungsabschnitt verlassen.
Hauptmann von Weyhe, der bereits einsam und schwerverwundet in einem Trichter des Dorfes lag, hatte angeordnet, daß fünfte und achte Kompagnie in vorderer, sechste in zweiter und siebente in dritter Linie stürmen sollten. Da von der sechsten und achten Kompagnie noch nichts zu sehen war, beschloß ich draufzugehen, ohne mich lange um Staffelungen zu kümmern.
Es war 7 Uhr geworden. Durch die Kulisse von Häuserresten und Baumstümpfen sah ich bei schwachem Gewehrfeuer eine Schützenlinie auf das freie Feld heraustreten. Es mußte die fünfte Kompagnie sein.
Ich stellte meine Leute im Hohlweg auf und gab Befehl, in zwei Wellen anzutreten. „Abstand 100 Meter. Ich selbst befinde mich zwischen erster und zweiter Welle!“
Es ging zum letzten Sturm. Wie oft waren wir in den verflossenen Jahren in ähnlicher Stimmung in die westliche Sonne geschritten! Les Eparges, Guillemont, St. Pierre-Vaast, Langemarck, Paschendale, Moeuvres, Braucourt, Mory! Wieder winkte ein blutiges Fest.
Wir verließen den Hohlweg ganz programmäßig, nur befand „ich selbst“, wie die schöne Befehlsformel lautet, mich plötzlich neben dem Leutnant Schrader weit vor der ersten Welle.
Vereinzelte Gewehrschüsse knallten uns entgegen. Den Spazierstock in der rechten, Pistole in der linken Hand stapfte ich vor und ließ, ohne es recht zu merken, die Schützenlinie der fünften Kompagnie zum Teil hinter, zum Teil rechts neben mir. Während des Vorgehens merkte ich, daß mein Eisernes Kreuz sich von der Brust gelöst hatte und zu Boden gefallen war. Schrader, mein Bursche und ich begannen eifrig zu suchen, trotzdem verborgene Schützen uns aufs Korn zu nehmen schienen. Endlich zog Schrader es aus einem Grasplacken hervor, und ich steckte es wieder fest.
Das Gelände senkte sich. Verschwommene Gestalten bewegten sich vor einem Hintergrund aus braunem Lehm. Ein Maschinengewehr hackte uns seine Geschoßgarben entgegen. Mich packte ein fatales Gefühl der Aussichtslosigkeit. Trotzdem begannen wir zu laufen. Mitten im Sprunge über ein Grabenstück riß mich ein durchdringender Stoß vor die Brust aus der Luft. Mit lautem Schrei wirbelte ich um die Längsachse und klirrte betäubt zu Boden.
Ich erwachte im Gefühl eines großen Unglücks, eingeklemmt zwischen enge Lehmwände, während durch eine geduckte Menschenreihe der Ruf glitt: „Sanitäter! Der Kompagnieführer ist verwundet!“
Ein älterer Mann einer anderen Kompagnie beugte sich mit gutmütigem Gesicht über mich, löste das Koppel und öffnete meinen Rock. Zwei blutige Kreisflecke leuchteten von der Mitte der rechten Brust und vom Rücken. Ein Gefühl der Lähmung fesselte mich an die Erde, und die glühende Luft des engen Grabens badete mich in qualvollem Schweiß. Der mitleidige Helfer erquickte mich durch fächelndes Schwingen meiner Kartentasche. Ich hoffte, nach Luft ringend, auf baldiges Dunkelwerden, um mich zurückschleppen zu lassen.
Plötzlich brauste von Sapignies her ein Feuerorkan los. Es war klar, daß dieses lückenlose Rollen, dieses gleichmäßige Brüllen und Stampfen mehr drohte als Abwehr unseres so schlecht angesetzten Angriffes. Über mir blickte ich in das unterm Stahlhelm versteinerte Gesicht des Leutnants Schrader, der wie eine Maschine schoß und lud, schoß und lud. Es entspann sich zwischen uns ein Gespräch, das an die Turmszene der Jungfrau von Orleans erinnerte. Sehr humoristisch war mir indes nicht zumute, denn ich hatte die klare Erkenntnis, verloren zu sein.
Oben sprang der Schreckensschrei: „Links sind sie durch! Wir sind umgangen!“ von Mund zu Mund. Er gab mir die alte Kraft zurück. Ich faßte in ein Loch, das ein Maulwurf in die Grabenwand gebohrt hatte, und zog mich hoch, während das Blut aus den Wunden rieselte. Mit bloßem Kopf und offenem Rock, die Pistole in der Faust, starrte ich ins Gefecht.
Durch weißliche Rauchschwaden stürzte eine Kette bepackter Menschen schnurgeradeaus. Einige fielen und blieben liegen, andere schlugen Rad wie getroffene Hasen. 100 Meter vor uns wurden die letzten vom Trichtergelände eingesogen.
Wie an einer Schnur gezogen krochen vier Tanks über den Kamm einer Bodenwelle. In wenigen Minuten waren sie von der Artillerie in die Erde gestampft. Der eine klappte wie ein Spielzeug aus Blech in zwei Hälften auseinander. Rechts brach der wackere Fahnenjunker Mohrmann mit einem Todesschrei zusammen.
Die Sache schien noch nicht verloren. Ich flüsterte dem Fähnrich Wilsky zu, nach links zu kriechen und mit seinem Maschinengewehr die Lücke abzufegen. Er kam gleich darauf zurück und meldete, daß sich 20 Meter weiter schon alles ergeben hätte. Es lagen dort Teile des Regiments 99 (Zabern). Mich umwendend, hatte ich ein seltsames Bild. Von hinten kamen Leute mit erhobenen Händen nach vorne! Der Feind mußte bereits das Dorf, aus dem wir gestürmt hatten, genommen haben.
Die Szene belebte sich immer mehr. Ein Kreis von Engländern und Deutschen umringte uns und forderte uns auf, die Waffen fortzuwerfen. Ich ermunterte mit schwacher Stimme die Nächststehenden zum Kampf aufs Messer. Sie schossen auf Freund und Feind. Ein Kranz von Stummen und Schreienden umschloß unser Häuflein. Links tauchten zwei hünenhafte Engländer ihre Bajonette in ein Grabenstück, aus dem sich flehende Hände reckten.
Auch unter uns wurden gellende Stimmen laut: „Es hat keinen Zweck mehr! Gewehre weg! Nicht schießen, Kameraden!“
Ich blickte nach den beiden Offizieren, die mit mir im Graben standen. Sie lächelten fatalistisch zurück und ließen ihre Koppel zu Boden fallen.
Es blieb die Wahl zwischen Gefangenschaft und einer Kugel. Nun war ja der Augenblick gekommen, wo es galt, zu zeigen, ob das, was ich meinen Leuten in manchem Ruhetage über den Kampf gesagt hatte, mehr war als leere Phrase. Ich kroch aus dem Graben und taumelte auf Favreuil zu. Zwei Engländer, die einen Trupp gefangener 99er auf ihre Linien zuführten, stellten sich mir entgegen. Ich hielt dem nächsten die Pistole vor den Leib und drückte ab. Er klappte wie eine Schießbudenfigur zusammen. Der andere brannte sein Gewehr auf mich ab, ohne zu treffen. Die hastigen Bewegungen trieben das Blut in hellen Schlägen aus der Lunge. Ich konnte freier atmen und begann, an dem Grabenstück entlang zu laufen. Hinter einer Schulterwehr kauerte der Leutnant Schläger inmitten einer feuernden Gruppe. Sie schlossen sich an. Einige Engländer, die über das Gelände schritten, blieben stehen, setzten ein Lewisgewehr auf den Boden und beschossen uns. Bis auf mich, Schläger und zwei Begleiter wurden alle getroffen. Schläger, der seinen Kneifer verloren hatte, erzählte mir später, daß er nichts gesehen hätte als meine auf- und niederfliegende Kartentasche. Der dauernde Blutverlust gab mir die Freiheit und Leichtigkeit eines Rausches, mich beunruhigte nur der Gedanke, zu früh zusammenzubrechen.
Endlich gelangten wir an einen halbmondförmigen Erdaufwurf rechts von Favreuil, aus dem ein halbes Dutzend schwerer Maschinengewehre auf Freund und Feind Feuer spieen. Feindliche Geschosse zerspritzten im Sande der Schanze, Offiziere schrien, aufgeregte Leute tanzten hin und her. Ein Sanitätsunteroffizier der sechsten Kompagnie riß meine Jacke herunter und riet mir, mich sofort hinzulegen, da ich sonst in wenigen Minuten verblutet sein könnte.
Ich wurde in eine Zeltbahn gerollt und am Ortsrand von Favreuil entlang geschleppt. Einige Leute meiner und der sechsten Kompagnie begleiteten mich. Nach einigen hundert Schritten bekamen wir auf nächste Entfernung aus dem Dorfe Gewehrfeuer. Knallend schlugen Geschosse in menschliche Körper. Den Sanitäter der sechsten Kompagnie, der das Hinterende meiner Zeltbahn trug, riß ein Kopfschuß zu Boden; ich stürzte mit ihm.
Die kleine Schar hatte sich glatt auf die Erde geworfen und kroch, von Aufschlägen umpeitscht, der nächsten Senkung zu.
Ich blieb einsam, in meine Zeltbahn eingeknüpft auf dem Felde, den Endtreffer erwartend.
Doch solange noch ein Mann meiner Kompagnie lebte, war ich nicht ganz verlassen. Neben mir ertönte die Stimme des Gefreiten Hengstmann: „Ich nehme Herrn Leutnant auf den Rücken, entweder kommen wir durch, oder wir bleiben liegen.“
Leider kamen wir nicht durch; zu viele Gewehre waren auf kürzeste Entfernung auf uns gerichtet. Als ich, die Arme um den Hals des Getreuen geschlungen, auf seinem Rücken saß, erklang mitten im Lauf ein feines metallisches Sirren. Hengstmann sank ganz sanft unter mir zusammen. Ich löste mich aus seinen Armen, die meine Schenkel noch fest umklammert hielten. Ein Geschoß hatte ihm Stahlhelm und Schläfen durchschlagen. Der Tapfere, der die Treue zu seinem Führer mit dem Tode besiegelte, war ein Lehrerssohn aus Letter bei Hannover. Ich habe später seine Familie aufgesucht und halte sein Andenken heilig.
Das schlimme Beispiel schreckte einen anderen Helfer nicht ab, einen neuen Versuch zu meiner Rettung zu wagen. Es war der Sanitäts-Sergeant Strichalsky. Er nahm mich auf seine Schultern und brachte mich glücklich in den toten Winkel der nächsten Geländewelle.
Es dunkelte. Die Leute suchten die Zeltbahn eines Toten und trugen mich über ein einsames Gelände, auf dem nah und fern zackige Strahlensterne hochflammten. Ich mußte nach Luft ringen, eins der qualvollsten Gefühle, die der Mensch haben kann. Der Duft einer Zigarette, die ein Mann zehn Schritt vor mir rauchte, drohte mich zu ersticken.
Endlich gelangten wir an einen Verbandsunterstand, in dem der mir befreundete Doktor Key seines Amtes waltete. Er mischte mir eine köstliche Zitronenlimonade und versenkte mich mittels einer Morphiumspritze in erquickenden Schlummer.
Am nächsten Tage setzte die übliche, etappenweise Rückbeförderung ein. Die wüste Autofahrt zum Kriegslazarett brachte mich an den Rand des Grabes. Dann kam ich in die Hände der Schwestern. Trotzdem ich kein Weiberfeind bin, irritierte mich jedesmal das weibliche Wesen, wenn mich das Schicksal der Schlacht in das Bett eines Krankensaales geworfen hatte. Aus dem männlichen, zielbewußten und zweckmäßigen Handeln des Krieges tauchte man in eine Atmosphäre undefinierbarer Ausstrahlungen. Eine wohltuende Ausnahme bildete die abgeklärte Sachlichkeit der katholischen Ordensschwestern.
Nach 14 Tagen lag ich in dem federnden Bett eines Lazarettzuges und hatte das Glück, in Hannover ausgeladen zu werden. Dort lag ich im Clementinenstift mit einem jungen Kampfflieger der Staffel Richthofen zusammen, der bereits zwölf Gegner im Luftkampf gestreckt hatte. Der letzte hatte ihm zuvor durch ein Geschoß den Oberarmknochen zersplittert. Auf unserem ersten Genesungsgange trafen wir meinen Bruder und einige Kameraden, mit denen wir zu Abend aßen. Da unsere baldige Kriegstüchtigkeit angezweifelt wurde, fühlten wir beide das unbedingte Bedürfnis, verschiedentlich über einen gewaltigen Sessel zu eskaladieren. Es bekam uns sehr schlecht. Trotzdem fühlten wir uns recht bald wieder in Form für eine neue Winterkampagne. Diese wurde vorläufig vertagt. Wir sollten uns bald an anderen Kämpfen beteiligen, als uns geträumt. — — —
Am 22. September 1918 erhielt ich folgendes Telegramm:
„Seine Majestät der Kaiser hat Ihnen den Orden Pour le Mérite verliehen. Ich beglückwünsche Sie im Namen der ganzen Division.
General von Busse.“
Ernst Siegfried Mittler und Sohn, Buchdruckerei G. m. b. H., Berlin SW 68, Kochstr. 68-71.
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